Freitag, 3. September 2010

Freitagskolumne - »Post an Wagner«: Kindheit in Deutschland

Eine Antwort auf Franz Josef Wagners Kolumne
»Lieber kleiner Julian«, BILD, 20.08.2010

Lieber Franz Josef Wagner,

Sie fragen, warum niemand den kleinen Julian retten konnte, der seinem gewalttätigen Stiefvater hilflos ausgeliefert war. Und es ist eine wichtige Frage, warum solche entsetzlichen Dinge geschehen, hier, in Deutschland, mitten unter uns. Ich will mal versuchen, eine Antwort darauf zu finden.

Taten wie diese, in ihrer archaischen Grausamkeit, stellen so etwas wie die Spitze eines Eisbergs dar. Und Eisberge, das wird Ihnen jeder erfahrene Kletterer bestätigen, sind nur schwer zu erklimmen: kalt, hart und abweisend sind sie. Schlägt man einen sichernden Haken hinein, splittert das Eis zuweilen und bietet keinen Halt. Der Eisberg, den ich meine, ist das Verhältnis unserer Gesellschaft zu Kindern ganz allgemein, das man am besten charakterisieren könnte, wenn man das fast völlige Fehlen einer emotionalen Infrastruktur für Kinder konstatiert.

Verfolgt man die öffentlichen Diskussionen über Kinder, dann zeigt sich schnell, dass sie unter den Stichworten »Armutsrisiko«, »demografischer Faktor« oder »künftige Steuer- und Beitragszahler« laufen und somit einer knallharten »Kosten-Nutzen-Rechnung« unterworfen sind. Hieß es früher: Das Land braucht Soldaten, so ist das moderne Äquivalent: Die Bundesrepublik Deutschland braucht künftige Rentenbeitragszahler. Sogar mit Geld hat man versucht sie einzukaufen: ein wenig Elterngeld hätte doch auf lange Sicht Leben in die Kreißsäle bringen müssen, sollte man meinen. Doch schnell erwies sich, dass der Effekt nicht eben durchschlagend war und das Geld für solche Experimente sowieso nicht dauerhaft vorhanden ist.

Selbst die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse wird Kindern heute gerne mal abgesprochen. Spielen, toben, auch mal laut sein? Nicht hier in Deutschland, bitte! Ehe die ersten Rentenbeiträge fließen, wollen wir lieber nichts von euch hören!

Auch das Gezerre um das Schulsystem ist, bei Licht betrachtet, ein Hinweis darauf, dass alle zur Schau getragene Kinderfreundlichkeit nichts als ein Lippenbekenntnis ist. »Kinder sind die Zukunft«, heißt es vollmundig. Und das stimmt. Zumindest, so lange sie noch nicht geboren sind. Danach ist ihnen die Mühle eines hochbürokratischen Schulsystems zugedacht, in dem »Betreuungsschlüssel« wichtiger sind als menschliche Zuwendung.

Die Kinder spüren natürlich dieses ambivalente Verhältnis der Gesellschaft zu ihrem Dasein und entwickeln dementsprechende Gegenreaktionen, die man flugs in krankhafte Störungen umbenennen und mit Etiketten wie »ADS« oder »ADHS« bekleben muss, denn auf diese Weise lässt sich mit dem »Störfaktor Kind« wenigstens noch ein Geschäft machen.

Überhaupt scheint die Betätigung als fleißiger Konsument das einzige Nischendasein zu sein, das man Kindern wirklich zubilligt: angesagte Klamotten schon im Kindergarten, das ist es doch, was ein Kind braucht, nicht wahr? Dazu ein Haufen überteuertes Lärmspielzeug, Hauptsache, es kracht und blinkt. Überzuckerten Dreck als Nahrung, serviert in bunt bedruckten Schachteln mit wirklich luuuustigen Männlein drauf. Das ist Kindheit in Deutschland anno 2010. Für die Folgen des Wahnsinns gibt es schließlich Kinderärzte und eine Reihe genau vorgeschriebener Untersuchungen, die die Auswirkungen wenigstens dokumentieren, wenn sie die Ursachen schon nicht abstellen können.

All das ist heute so selbstverständlich, dass sich kaum noch jemand über diese permanente Misshandlung Gedanken macht. Jeder einzelne dieser Bausteine, und noch sehr viele mehr, die ich hier aus Platzgründen nicht erwähnen kann, trägt zu einer Verrohung der Gesellschaft in Bezug auf ihr Verhältnis zu Kindern bei. Jeder der genannten Punkte ist bereits für sich gesehen eine Ungeheuerlichkeit, wenn wir ihn uns wirklich bewusst machen. Doch das tun wir nicht. Weil wir es nicht mehr anders kennen. Emotionale Kälte ist zum Lebensprinzip geworden und bildet nun den Humus für Taten wie die vorliegende.

Herzlichst,

Ursula Prem

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