Freitag, 15. Oktober 2010

Freitagskolumne - »Post an Wagner«: Stuttgart 21

Eine Antwort auf Franz-Josef Wagners Kolumne
»Liebe Stuttgarter«, BILD, 06.10.2010

Lieber Franz Josef Wagner,

warum solche Aufregung um einen Bahnhof?, könnte man fragen. Wurden nicht schon immer seit Erfindung der Eisenbahn Bahnhöfe gebaut? Wieder abgerissen, neu aufgebaut, um- oder ausgebaut? Den Erfordernissen der jeweiligen Zeit angepasst? - Nein. Darum geht es inzwischen nur noch sekundär, denn der Stuttgarter Bahnhof ist zu einem Symbol geworden. Zu einem Prüfstein für die Echtheit unserer Demokratie.

Ihre kleine Unterrichtseinheit in Sozialkunde, Herr Wagner, klingt ein wenig wie das, was man Achtklässlern in der Schule erzählt, um ihnen vorzugaukeln, sie hätten im Erwachsenenleben echte politische Entscheidungen zu treffen. Alle vier Jahre an der Wahlurne. »Wir wählen Volksvertreter, wir legitimieren sie, für uns zu entscheiden«, schreiben Sie. Und den Buchstaben nach stimmt es sogar. Doch wie sieht es in der Praxis aus?

Alle vier Jahre finden wir im Briefkasten einen Wahlschein. Nun sollen wir uns an einem der kommenden Sonntage aufmachen, zum Wahllokal pilgern und Kreuzchen auf einem Zettel machen. Komisch, warum muss ich dabei immer an die alte Gepflogenheit der drei Kreuze denken, die bei schreibunkundigen Menschen die Unterschrift ersetzten?

Mit diesem reichlich anspruchslosen Zeichen also legitimieren wir unsere »Volksvertreter«. Neben welchem Namen man sein Kreuzchen machen soll, ist dabei gar nicht so einfach zu entscheiden. Nach was soll man dabei gehen, wenn man sich nicht gerade zur nibelungentreuen Anhängerschaft einer bestimmten Partei zählen kann? Nach dem Lächeln auf dem Wahlplakat? - Das dürfte angesichts der Möglichkeiten geschickter Maskenbildner in Kombination mit einem guten Bildbearbeitungsprogramm eine reichlich unzuverlässige Wahlhilfe sein. Das gleiche gilt für all die Sonntagsreden von Politikern vor einer anstehenden Wahl: Geschickte Redenschreiber verstehen es, all die Wölfe mit genügend verbaler Kreide zu füttern, auf dass ihr Stimmchen lieblich und ihre Versprechungen verlockend klingen. Ein Parteiprogramm, voll von unfinanzierbaren Vorschlägen? - Egal! Nach der Wahl kommt das sowieso ins Altpapier.

Wem all das zu blöd ist, der entscheidet sich vielleicht, lieber gar niemanden zu legitimieren und tritt der großen Gruppe der Wahlverweigerer bei, die bei uns inzwischen so etwas wie die stärkste Partei stellen. Doch es nützt ihnen nichts: Gezählt werden nur die Stimmen der Wahlteilnehmer, nicht die der Nichtteilnehmer. Die stärkste Partei fällt somit einfach unter den Tisch, obwohl das Überspringen der Fünf-Prozent-Hürde für sie kein Problem darstellt.

Ist auf diese Weise der Volkswille festgestellt worden, feiert sich die Partei mit den meisten Stimmen als »überragender Sieger mit hohem Rückhalt im Volk.« Ab jetzt geht es ans Regieren. Was kümmern uns die Wähler? Wir sitzen erst mal im Sattel, und bis zur nächsten Wahl haben die Spackos sicher vergessen, was wir jetzt alles mit ihrem Geld für sie anrichten. Sollte das doch mal anders sein, schieben wir es auf die Umtriebe der Opposition. Muckt das Volk auf, erklären wir den Protest zu »populistischen Stammtischparolen« oder geben den Nervtötern mit dem Wasserwerfer aufs Maul. Im Übrigen verweisen wir auf die Demokratie. Kurz gesagt: Es ist nur noch zum Speien.

All diese Ungereimtheiten muss der arme Stuttgarter Bahnhof jetzt ausbaden. Stuttgart, so viel ist klar, wird weiter existieren. Mit oder ohne neuen Bahnhof.

Herzlichst,

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