Freitag, 16. April 2010

Freitagskolumne - »Post an Wagner«: In Sachen Anne Will

Eine Antwort auf Franz-Josef Wagners Kolumne
»Liebe Anne Will«, BILD, 13.04.2010

Lieber Franz-Josef Wagner,

sicher haben Sie schon einmal vom Stockholm-Syndrom gehört. Falls nicht, erlaube ich mir, Ihnen kurz die Definition der Wikipedia zu zitieren:
Unter dem Stockholm-Syndrom versteht man ein psychologisches Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Dies kann dazu führen, dass das Opfer mit den Tätern sympathisiert und mit ihnen kooperiert. Zitat Ende.

Ist diese Schutzfunktion der unergründlichen menschlichen Psyche beschränkt auf Geiselnahmen, um so die Wahrscheinlichkeit des Überlebens zu erhöhen? Ich glaube das nicht. Sie ist vielmehr universell. Und schon Kindern zueigen, die sich plötzlich, aus welchen Gründen auch immer, in einem lebensfeindlichen Umfeld wie beispielsweise den Regensburger Domspatzen wiederfinden.

Da es für ein Kind lebenswichtig ist, den Erwachsenen in seiner Umgebung vertrauen zu können, muss es deren Handlungen in positiver Weise deuten, wie bizarr oder pervers auch immer diese sein mögen. Diese Deutungen werden oft noch mit ins Erwachsenenalter übernommen, selbst dann, wenn sie den Realitätscheck kaum bestehen würden.

Genau das scheint Ihnen, lieber Herr Wagner, passiert zu sein. Selbst ein ehemaliger Regensburger Domspatz, bekundeten Sie kürzlich, von den dortigen Präfekten gezüchtigt worden zu sein.  Die Beulen verschwänden in Wirklichkeit nie, resümierten Sie.
Wie Recht Sie damit haben, beweist Ihre Kolumne »Liebe Anne Will«, in welcher Sie die katholische Kirche auch heute noch mit Zähnen und Klauen verteidigen. Ja, nur ein massiv unter dem Stockholm-Syndrom leidender Mensch kann die Taten seiner Peiniger in solch unnachahmlicher Weise relativieren.

Sie monieren, dass in Anne Wills Talkshow kein Wort über die »guten« Priester gefallen sei.
Diese Argumentation erinnert frappierend an die naiv-trotzige Haltung derer, die noch heute behaupten, an Hitler sei nicht alles schlecht gewesen, denn er habe schließlich die Autobahnen gebaut. Und auch die DDR, erinnert sich mancher mit nostalgischer Wehmut, habe ihr Gutes gehabt, »denn zu Essen gab es schließlich immer etwas«.
Verdrängen. Ausblenden. Sich einen Tunnelblick aneignen. Alles unverzichtbare Instrumente für den Umgang mit diktatorischen Systemen, wenn man sich nicht eingestehen will, dass man beschissen worden ist. Beschissen um ein freies Leben. Betrogen um originäre Gedanken. Benutzt, beklaut und weggeworfen. Denn: Was die Macht des einzelnen Menschen übersteigt, das beschämt ihn. Lässt ihn als armes Würstchen dastehen. Warum also nicht besser behaupten, man hätte es selbst so und nicht anders gewollt?




In dieser Situation muss einer, der die Dinge beim Namen nennt, geradezu grausam erscheinen, hat man sich doch mühselig mit seinen Peinigern arrangiert und es geschafft, »das Gute« in ihnen zu sehen. Die Kirche ein diktatorisches System? Würden Sie dem nicht vehement widersprechen, müssten Sie sich eingestehen, ein Opfer zu sein.
Dass dies unangenehm ist, ist nur allzu verständlich.
Doch sollten Sie eines nicht außer Acht lassen, Herr Wagner: Mit Ihrem Verhalten gleichen Sie einem Menschen mit Zahnschmerzen, der den Gang zum Zahnarzt scheut, weil er die noch größeren Schmerzen der Behandlung fürchtet. Was passiert, wenn man solche Schmerzen meidet, weiß jeder: Irgendwann wird der Zahn ohne wirksame Betäubung gezogen werden müssen, weil die Entzündung zu stark geworden ist und jedes gängige Schmerzmittel außer Kraft setzt.

Haben Sie keine Angst vor dem Moment der Wahrheit, Herr Wagner! Jede Enttäuschung ist nichts als der Fortfall einer Illusion. Eine Ent-Täuschung also. Und also solche ein lebenswichtiges Heilmittel, auch wenn es, wie jede wirksame Medizin, bitter schmeckt.

Ja, die katholische Kirche ist ein diktatorisches System. Eine Vereinigung, die sich noch immer so stark wähnt, dass einer ihrer führenden Vertreter: Bischof Franz-Josef Overbeck aus Essen, es wagt, sich in eine Sendung zu setzen, um dort gegen Homosexuelle zu wettern. Ein Club, der noch immer solchen Einfluss hat, dass selbst der Ethikunterricht an deutschen Schulen vom »Leitbild der christlich-abendländischen Kultur« durchzogen ist und sich teilweise vom Religionsunterricht nur durch die Bezeichnung unterscheidet.
Sie ist, und da gehe ich mit Rosa von Praunheim konform, ein Laden, in welchem Frauenkleider tragende, alte Männer sich anbeten lassen. Mumien, die den zahnlosen Versuch wagen, die Welt von heute mit dem Atem von gestern zu erklären.

»Eigentlich sollte ein katholischer Mensch nach dieser Sendung keine GEZ-Gebühren zahlen«, schließen Sie Ihre Kolumne. Dies erlaube ich mir, ein wenig umzuformulieren: Eigentlich sollte ein aufrechter Mensch nach dieser Sendung keine Kirchensteuer mehr bezahlen.
Von Anne Will wünsche ich mir nur eine einzige Änderung: Sie sollte den Mut entwickeln, Frechdachse wie Bischof Overbeck bei laufender Kamera aus der Sendung zu werfen.

Herzlichst,

Ursula Prem

2 Kommentare:

  1. Wunderbar diese Serie!

    Die Kolumnen vom Wagner sind selbst für die BILD eine einzige Peinlichkeit. Es wäre für die BILD-Zeitung und vor allem für deren Leser - ein echter Gewinn, wenn Ihre Kolumnen dort ebenfalls veröffentlicht würden.

    Weiter so! Ich freu mich auf die nächsten Folgen.

    Freundliche Grüße
    A. Beierle

    AntwortenLöschen
  2. Was das System der Kirche angehet sollte es schon lange bekannt sein, daß es totalitaristisch ist, nach jahrtausende Menschentäuschung und Machtgier! Und was die Anne Will angeht, Sie wird doch vom "Informationssystem" bezahlt oder? Und genau diese Arbeitsgeber lassen noch zu und veröffentlichen sogar jeden Rülpser dieser Kirchen Leute. Mal ein Frage: wieso bekommt die Kirche (kath. od. evang.) Sendezeit? Sind wir in Deutschland noch VOR der französische Revolution? Hat denn hier keine Aufklärung stattgefunden? Aber wenigstens tun einige so als ob sie kritisch und aufgeklärt wären; ich meine mit dem Mundwerk, ob das was nützt? Ich hoffe ja, und eigentllich glaube ich es auch, als unverbesserlicher Optimist! Danke für diesen Artikel und auch daß ich hier mein Senf hinterlassen konnte.

    AntwortenLöschen

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