Ursula Prem |
Welche Herausforderungen das Internet noch für die menschliche Gesellschaft bereithalten wird, können wir heute nur erahnen. Je nachdem, wie wir uns entscheiden, wird es die Entwicklung in rasendem Tempo vorantreiben oder aber uns ins Mittelalter zurückwerfen. Beängstigend ist die Eigendynamik des Netzes, die teilweise bizarre Blüten treibt. So forderte in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag bis vier Uhr morgens eine größere Anzahl aufgebrachter Emder Bürger die »Herausgabe« eines im Fall des Kindermords vom letzten Samstag tatverdächtigen Untersuchungshäftlings, zwecks Lynchjustiz.
Wie die zuständigen Behörden in der gestrigen Pressekonferenz mitteilten, hatte sich die Gruppe über Facebook zusammengefunden, um den mehr als verständlichen Volkszorn in wirksame Bahnen zu lenken. Den kleinen Schönheitsfehler, dass die Schuld des Tatverdächtigen noch längst nicht bewiesen ist, kehrten sie einfach unter den Tisch. Als angebliche Täter kursierten im Netz sogar mindestens zwei Namen, was bedeutet, dass zumindest ein Unschuldiger sich auf der Straße nicht mehr blicken lassen kann, bis die Sache endgültig aufgeklärt ist.
Bei allem verständlichen Zorn auf einen brutalen Kindermörder: Wenn wir zulassen, dass sich ein Teil des faktischen Rechtssystems auf soziale Netzwerke und in diverse Foren verlagert, dann werden wir uns in Zukunft einer wachsenden Zahl von unschuldig Gelynchten gegenübersehen, was nicht einen Deut besser ist, als ein gewöhnlicher Mord. Vermutungen werden den Rang von Beweisen einnehmen, Gerüchte den von hieb- und stichfesten Alibis. Das gewöhnliche Mobbing, das bereits heute gang und gäbe ist, wird um eine neue Dimension erweitert werden: die Beseitigung unliebsamer Gegner durch falsche Verdächtigung und einen geplanten Lynchmord. Können wir das im Ernst wollen?
Aufruf zur Lynchjustiz überschreitet jede Grenze
Das Internet ist ein meisterhaftes Instrument zur Zementierung von Vorverurteilungen und Falschbehauptungen aller Art und hat seine diesbezüglichen Kapazitäten schon oft genug unter Beweis gestellt. Mit dem Aufruf zum Lynchmord an einem lediglich Tatverdächtigen jedoch ist eine dunkelrote Linie überschritten.
Damit es nicht irgendwann tatsächlich so weit kommt, brauchen wir dringend eine Reform des Strafrechts und eine Verschärfung der Strafen für Sexualmörder. Niemandem, der klar denkt, ist es zu vermitteln, dass ein Kindermörder mit einer maximalen Strafe von zehn Jahren davonkommt, falls er zum Tatzeitpunkt tatsächlich minderjährig gewesen sein sollte. In diesen Fällen müsste es heißen: Lebenslänglich! Und zwar wirklich bis zum letzten Tag. Nur dann, wenn die Bürger sich darauf verlassen können, dass die Höhe der Strafe der Tat angemessen ist, wird die unheilvolle Tendenz noch zu stoppen sein, das Recht in die eigenen Hände zu nehmen, mit unabsehbaren Folgen.
Ein Hinweis: Am 6.4.2012 pausiert die Freitagskolumne. Die nächste Ausgabe erscheint am 13.4.2012.
Liebe Ursula,
AntwortenLöschengerade höre ich in den Nachrichten, dass der junge Mann entlastet worden ist und als Täter ausscheidet.
Während als eine aufgebrachte Menge zum lynchen aufrief, lief der Täter frei herum. Vielleicht hat er ja bei dieser Demo zugesehen? Sich gedacht: Hoffentlich kommen sie durch mit ihrem Plan. Was Besseres hätte dem Täter nicht passieren können.
Liebe Autorin,
AntwortenLöschendanke für den Komm. Ja, mit dem "gerechten Volkszorn" ist das so eine Sache. Wären die mit ihrem Plan durchgekommen, wären sie jetzt nicht besser als der Täter selber.