Sonntag, 1. April 2012

115 »Die mysteriösen Steine der Bretagne«

Teil 115 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein


Geheimnisvolle Welt der Menhire
Foto W-J.Langbein
»Zu gewissen Zeiten gibt die menschliche Gesellschaft Rätsel auf ...« stellte der große französische Schriftsteller Victor Hugo (1802-1885) in seinem Roman »Dreiundneunzig« fest (1). Zu den großen Geheimnissen unseres Planeten gehören ohne Zweifel die mysteriösen Steine der Bretagne.

1874 erschien Hugos »Dreiundneunzig«. Damals war natürlich Frankreich längst christianisiert ... und doch existierten Katholizismus und »heidnischer« Glaube nebeneinander her. Der bretonische Bauer, so konstatierte Hugo mit leiser Ironie (2), »verehrt am meisten seinen Pflug und danach seine Großmutter, glaubt an die heilige Jungfrau und an die weiße Dame, bückt sich vor dem Altar und auch vor dem geheimnisvollen, aus der Heide ragenden alten Stein.«

Der Respekt vor den uralten Menhiren – zu Deutsch: vor den stehenden Steinen – wurde aber bei weitem nicht von allen Bewohnern der Bretagne geteilt. Godfrey Higgins (1772-1833) bereiste vor rund zwei Jahrhunderten das Land der Menhire und Hinkelsteine. Er versuchte vergeblich zu ergründen, warum Tausende und Abertausende von zum Teil viele Tonnen schweren Steinriesen in manchmal endlos scheinenden Reihen aufgestellt wurden. Der Archäologe erfuhr von einem kurios anmutenden Glauben.

Historische Aufnahme um 1910
Foto: Archiv W-J.Langbein
Angeblich wurde einst ein gewaltiger Schatz vergraben ... und die Stelle mit einem imposanten Menhir gekennzeichnet (3). Ganz so leicht wollte man es Schatzsuchern aber nicht machen ... und so versteckte man den steinernen Hinkelstein mit den Kostbarkeiten von unvorstellbarem Wert ... in einem Wald von Tausenden und Abertausenden von riesigen Steinen. Ein geheimer Plan soll dem Suchenden verraten, wo er den Spaten anzusetzen hat, um fündig zu werden.

So unglaubwürdig diese »Erklärung« auch ist ... ohne Zweifel brachte man Jahrhunderte lang die Menhire der Bretagne mit verborgenen Schätzen in Verbindung. Und so wurden unzählige der Hinkelsteine.... wer kennt sie nicht aus »Asterix und Obelix« ... umgestürzt und zerschlagen. Gold oder andere Schätze fanden sich bislang nicht. Religiösen Eiferern galten die Monumente aus der Steinzeit als heidnisches Zauberwerk von bösen Geistern, Hexen oder gar des Teufels selbst. Und so galt es für fanatische Christen geradezu als christliche Pflicht, möglichst viele der Zeugnisse aus uralten Zeiten zu zerstören.

Carnac um 1829, alter Stich
Foto Archiv W-J.Langbein
Aus weiteren Gründen wurden die »Hinkelsteine« dezimiert: Sie standen oft den Landwirten im Weg, behinderten sie beim Anlegen von Feldern. Also mussten sie weichen. Man benutzte die Steinmonster zudem gern als »Steinbrüche«. So wurden unzählige der Steinnadeln umgeworfen und in handliche Stücke zerschlagen. Und die wurden beim Straßen-, Brücken-, Häuser und Kirchenbau eingesetzt. Für so manchen Geistlichen war es ein besonderer Genuss, die alten Kulturdenkmäler verwüsten und zerschlagen zu lassen. Und wenn dann die Brocken als Fundament für ein christliches Gotteshaus benutzt wurden, frohlockte man über den siegreichen neuen Glauben.

Als die Straße D781 von Erdeven nach Quiberon gebaut wurde, standen die stolzen Menhire von Kerzerho, Gemeinde Erdeven, im Weg. Ursprünglich war der Menhir-Komplex zwei Kilometer lang und 65 Meter breit. Ohne Rücksicht auf Verluste wurde das uralte Erbe verwüstet und zerstört. Die Straße hatte Vorrang ... und die zertrümmerten Menhire eigneten sich doch bestens als Schottermaterial!

Wie viele Menhire einst – vor Jahrtausenden – in den Himmel der Bretagne ragten ... wir wissen es nicht. Im Laufe der gut dreißig Jahre, die ich mich schon mit dem Geheimnis der Bretagne beschäftige, begegneten mir die unterschiedlichsten Zahlenangaben.

Mein Vater lehrte Englisch und Französisch an einem Gymnasium in Oberfranken. Um Land und Leute besser kennenzulernen, unterrichtete er zeitweise auch an Schulen in den USA und in Frankreich. Mit meinem Vater war ich vor rund einem halben Jahrhundert in der Bretagne ... bei Carnac. Ich erinnere mich an einige geheimnisvolle abendliche Stunden. Die Menhire waren damals frei zugänglich, während sie heute offenbar vor dem Vandalismus von Besuchern geschützt werden müssen. Während wir zwischen den mysteriösen Steinen umhergingen, erzählte mir mein Vater von seltsamen örtlichen Legenden ... von einem Heer heidnischer Soldaten, das dank der Gebete frommer Christen in Stein verwandelt wurde. Zunächst seien die versteinerten Soldaten wie sorgsam gearbeitete Statuen deutlich als Menschen zu erkennen gewesen. Die Jahrtausende aber hätten ihnen die menschlichen Umrisse genommen.


Abendstimmung
Foto: W-J.Langbein
»Weil ihre Herzen kalt wie Stein waren ... blieben letztlich nur Steine von den Soldaten übrig!« Ein katholischer Geistlicher erzählte meinem Vater eine ganz andere Version. Demnach krochen nächtens böse Geister und Teufel aus der Erde: um die Menschen zu peinigen, um sie in Versuchung zu führen oder um ihre Seelen zu rauben. Gar manches Mal habe der Teufel selbst Menschen zu Macht und Reichtum verholfen ... zum Preis ihrer Seele! Dank frommer Christenmenschen sei die höllische Gefahr erkannt worden. Ihre Gebete, ihre Bitten um Schutz vor den höllischen Peinigern sei erhört worden. Und so wurden die Besucher aus der Unterwelt in Steine verwandelt. Sie sollten bis in alle Ewigkeit den Menschen als Warnung dienen.

Derartige frömmelnde Geschichtchen belegen nur eines: das Unwissen über Bedeutung und Herkunft der Menhire. Ich lauschte damals fasziniert den Worten meines Vaters, während wir zwischen den sich schier endlos durch die abendliche Landschaft schlängelnden Steinreihen schlenderten. Irgendwie war es dort doch gespenstisch, besonders als die untergehende Abendsonne die bizarren Steinformen zum Glühen zu bringen schien. »Das seltsame Licht soll von der Sehnsucht der versteinerten Soldaten nach Erlösung herrühren ...« erzählte mir damals mein Vater. Das hatte ihm mit erhobenem Zeigefinger ein örtlicher Priester erzählt.

Der Autor vor einem kleinen
Menhir - Foto: Ilse Pollo
Bis heute gibt es keine verlässliche Angabe über die Menhire, die heute noch erhalten sind. Damit meine ich noch stehende, aber auch liegende Kolosse. Allein in Südfrankreich dürften es noch vier bis fünf Tausend sein. Besonders imposant ist der Menhir Kergadiou von Carnac.. über zehn Meter lang! Wurde er umgeworfen... oder hat er nie gestanden? Der vermutlich größte Koloss ist wohl der »Grand Menhir Brisé« von Locmariaquer. Er war der Wolkenkratzer unter den Hinkelsteinen.... 21 Meter hoch und 300, vielleicht sogar 350 Tonnen schwer. Schon vor rund sieben Jahrtausenden soll er mit reiner Menschenkraft aufgerichtet.... und wenige Jahrhunderte später umgeworfen worden sein. Beim Aufprall zerbrach er in vier Teile.

Stehende Steine prägen das Bild der Bretagne. Bei Kermario zum Beispiel hat man weit über Tausend Menhire in zehn Reihen aufmarschieren lassen. Heute sind noch 1029 der steinernen Riesen erhalten: auf einem Areal von 1120 Metern Länge und 100 Metern Breite. Was mag es bedeuten, dass die Menhire von Ost nach West der Größe nach ansteigen? Sollen die Steinreihen den Besucher an bestimmte Orte führen? Wenn ja, dann ist uraltes Wissen in Vergessenheit geraten.

Menhire von Ménec
Foto Steffen Heilfort
Bei Manio zum Beispiel bilden die Steinreihen imaginäre Straßen, die einst über einen künstlich angehäuften Tumulus führten. Auf dem mysteriösen Plateau von Manio dominiert ein drei Meter hoher Menhir das geheimnisvolle Bild. Vor Jahrtausenden wurden in den tonnenschweren Koloss Schlangen eingraviert. Mehrere Steinbeile wurden in unmittelbarer Nähe ausgegraben.

Bei Ménec, Carnac, Departement Morbihan, formieren sich 1099 Menhire zu elf Kolonnen ... auf einem Areal von 1167 Metern Länge und 100 Metern Breite. Sie sind – warum auch immer – nach Südwest/ Nordost ausgerichtet. An den Enden der Reihen formieren steinerne »Wächter« je einen Halbkreis. Immerhin vier Meter hoch ist der größte Menhir von Ménec.

Fußnoten
1 Hugo, Victor: »Dreiundneunzig«, Leipzig, 2. Auflage 1949, S. 162
2 ebenda
3 Higgins, Godfrey, Esq.: »The Celtic Druids«, 1. Auflage, London 1829, Bildteil »Carnac«


»Geheimnisvolles Gavrinis«,
Teil 116 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 08.04.2012


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