Teil 327 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
Foto 1: Eines der Gesichter eines »Phurba« |
Endlich hatte ich einen Entschluss gefasst. Ich würde mein Studium der evangelischen Theologie abbrechen. Und das – auch wenn das manchen Zeitgenossen absurd vorkommen mag – aus Respekt vor dem christlichen Glauben. Da ich zentrale Lehren der christlichen Religion evangelisch-lutherischen Gepräges nicht mehr nachvollziehen konnte, durfte ich einfach nicht eben diese Lehre von der Kanzel predigen. Ich konnte einfach nicht Priester sein. Denn der Gläubige muss sich darauf verlassen können, dass ihm der Geistliche nicht einfach nur schöne Geschichten erzählt. Nur ein wirklich gläubiger Priester ist ein glaubwürdiger Priester. Nur dann kann er helfen.
Meinen Entschluss teile ich einem befreundeten Geistlichen mit, der seine kleine Gemeinde in einem
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kleinen Dörfchen im Oberfränkischen seelsorgerlich betreute. Nach Genuss »geistiger« Getränke erkundeten der Gottesmann und ich die »Unterwelt«. Ein Gang führte einst vom Pfarramt in die nahe gelegene dörfliche Kirche. Wer mochte wohl den Gang angelegt haben? Mein geistlicher Führer hatte eine interessante These parat.
In Deutschland und Österreich gab es einst hunderte, ja tausende von sogenannten »Schratzelgängen« oder »Schratzelhöhlen«. Weil sie extrem niedrig sind, man kann sich in ihnen in der Regel nur sehr gebückt oder gar nur kriechend fortbewegen, wurden sie einst den »Schratzeln«, also Zwergen, zugeschrieben. Wer sonst als Zwerge, so glaubte man, kann in dieser »Unterwelt« hausen?
Die Gänge sind oft der Regel 50 bis 60 Zentimeter »breit« und einen Meter bis 1,40 Meter »hoch«, manchmal deutlich niedriger. Verengungen machen ein Weiterkommen manchmal fast unmöglich. Wer an Platzangst leidet, sollte die Erkundung der Gänge anderen überlassen. Kriecht man schlangenartig durch so einen Gang, stößt man in der Regel irgendwann auf einen »Raum«, der etwas breiter und höher als der Gang selbst ist. Häufig ist so ein Raum mit »Sitzbänken« ausgestattet, die für normalgroße Menschen völlig ungeeignet sind. Zwerge könnten sich hier versammelt haben, unter der Erde. Probleme bereitet der Mangel an frischer Atemluft Zwergen wie normalwüchsigen Menschen.
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Unklar ist auch, wann die ersten dieser Gänge angelegt wurden. Sie lassen sich nicht datieren. In einer »Schratzelhöhle« in Bad Zell (Oberösterreich) fanden sich Holzkohlereste, die auf die Zeit von 1030 n.Chr. bis 1210 n.Chr. datiert wurden. Ein »Erdstall« im bayrischen Höchermühle wurde auf Grund von Holzkohleresten auf die Zeit zwischen Ende des zehnten und Mitte des 11. Jahrhunderts angesetzt. Diese Funde lassen freilich keine Rückschlüsse auf die Entstehungszeit der Gänge zu. Sie verraten uns lediglich, dass vor rund einem Jahrtausend Menschen in der »Zwergen-Unterwelt« waren. Vielleicht um sie zu erkunden. Die Anlagen selbst können Jahrzehnte, Jahrhunderte oder Jahrtausende älter sein. Welchem Zweck mögen sie wirklich gedient haben?
Nach intensivem Quellenstudium bin ich zur Überzeugung gekommen, dass die Gänge im Zusammenhang mit religiösem Brauchtum standen. Fakt ist, dass die Zugänge zu dieser »Unterwelt« häufig im Bereich von Kirchen liegen, in direkter Umgebung von Kirchen oder unter Kirchen. Bekanntlich wurden christliche Kirchen häufig auf heidnische Kultstätten gebaut. Verschiedene »Erklärungen« sind mir bei meinen Recherchen begegnet. Der Heimatforscher Anton Haschner spekulierte, dass es sich bei den Räumchen, zu denen Schratzelgänge führen, um »Seelenkammern« handelte, in denen die Seelen von Verstorbenen auf das »Jüngste Gericht« warten mussten (oder durften?). Eine andere Theorie besagt, dass es sich nur um symbolische Gräber gehandelt habe. Wenn nomadisierende Bevölkerungsgruppen umherzogen, sich wieder einmal niederließen, legten sie dann zu Ehren der zurückgelassenen Toten symbolische Gräber an?
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Mein geistlicher Führer, der mir die Tür zur Unterwelt unter seinem Pfarramt geöffnet hatte, spekulierte: Einst gab es einen heidnischen Kult, zu dem der mysteriöse unterirdische Gang gehörte. Pfarramt und Kirche wurden auf die Zugänge zu den Schratzelhöhlen gebaut, um sie für das Christentum in Beschlag zu nehmen. Man habe schließlich zu christlichen Zeiten den einstigen »Erdstall« ausgebaut, um ihn nutzen zu können: als praktischen unterirdischen Weg vom Pfarrhaus zur Kirche und retour.
Nun war »mein« Geistlicher nicht nur ein emsiger Erkunder unterirdischer Gänge aus unbekannten Zeiten. Er suchte auch im Gotteshaus selbst, grub unter dem Mittelgang nach »Schätzen«, und er wurde fündig. Er fand ein kurioses »Ding«, etwa dreißig Zentimeter lang, aus sehr dunklem, hartem Holz geschnitzt, schmal und spitz zulaufend. Viele Jahre später stieß ich in Indien auf ein ganz ähnliches Objekt. Es ist ein »Phurba«. Der »Phurba« erinnert an einen dreiseitigen Dolch, ein Dolch der Götter. Dreiseitig ist der Griff, dreiseitig ist die Klinge. Er kam und kommt im Himalaya zum Einsatz. Besonders in Tibet wird er als heiliges Attribut wichtiger Götter angesehen. Senkrecht stehend wird der »Phurba« als »Achse der Welt« verstanden. Den Griff des »Phurba« zieren gewöhnlich drei Gesichter. Eines strahlt freudigen Optimismus aus, eines wirkt wütend oder traurig und das dritte macht einen ausgeglichenen Eindruck. Die drei Gesichter im Griff des Götterdolchs lassen uns natürlich sofort an die »Heilige Dreifaltigkeit« des Christentums denken. Die Trinität des Christentums freilich ist sehr viel älter. So ist aus vorchristlichen Zeiten eine Vielzahl von Götter-Triaden bekannt.
Foto 6: Das freundeliche Gesicht eines »Phurba« |
Göttinnen-Triaden gab es im Heidentum bis in christliche Zeiten hinein. Offensichtlich waren die drei Göttinnen so stark im Volksglauben verwurzelt, dass es selbst emsigsten Missionaren und Bekämpfern des Heidentums nicht gelungen ist, sie aus dem Bewusstsein der Menschen zu verbannen. So wurden die heidnischen Drei-Göttinnen einfach »christianisiert« und durften forthin mit dem Segen der Kirche verehrt werden, als die drei Bethen. Die drei Bethen waren die vorchristliche Form der christlichen Trinität, bestehend aus Gott-Vater, Gott-Sohn und Heiligem Geist. In der uralten einstigen Wehrkirche von Urschalling (am Chiemsee gelegen) ziert bis heute eine rätselhafte Darstellung der christlichen Dreifaltigkeit die Decke. Sie hat einen Unterleib, doch der Oberleib spaltet sich auf in zwei Männer und eine Frau. Klar zu erkennen sind Gott-Vater als alter Mann mit Rauschebart, Gott-Sohn Jesus als junger Mann und dazwischen der »Heilige Geist« als Frau. Eine rein weibliche Triade findet sich noch heute im altehrwürdigen Dom zu Worms.
Foto 7: Schlecht gelaunter »Phurba« |
In Delhi erklärte mir ein Angestellter eines kleinen Museums: »Der ›Phurba‹ geht auf den Hering zurück, mit dem man Zelte fest verankerte. Er sicherte also das Zelt, das Zuhause, und schützte so vor den Unbilden der Natur. Ohne die Phurba-Verankerung konnte ein Sturm leicht ein Zelt davontragen, die Bewohner Wind und Wetter ausliefern!«
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Kusch, Heinrich und Ingrid: »Tore zur Unterwelt/ Das Geheimnis der unterirdischen Gänge aus uralter Zeit«, Graz 2009
Kusch, Heinrich und Ingrid: »Versiegelte Unterwelt/ Das Geheimnis der Jahrtausende alten Gänge…«, Graz 2014
Zu den Fotos:
Alle Fotos (1-9) zeigen einen hölzernen »Phurba« aus Tibet. Alle Fotos Walter-Jörg Langbein
328 »Vom Nabel der Welt ins All«,
Teil 328 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 01.05.2016
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