Der hässliche Zwilling Kriminalroman von Tuna von
Blumenstein
Leseprobe (z.K. als die Polizei noch »Grün« trug J )
»Schwager, du stehst da wie ein Raubtierdompteur, der gerade bemüht ist, sich einen Tiger vom Leib zu halten.« Veras Stimme bekam einen ironischen Unterton.
Ohne auf ihre Aussage einzugehen stellte Volker eine Frage an sie: »Weißt du schon, wie lange du noch meine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen wirst, Vera?«
Mit einem demonstrativen Seufzer ließ sich Vera in einen Sessel fallen. »Volker, ich bin nicht dein Gast. Ich wohne hier. Dieses Haus gehört meiner Schwester Gerda. Und falls du es vergessen haben solltest, haben wir beide Wohnrecht auf Lebenszeit. Das ist sogar als Grundbucheintrag verbrieft. Dank deines konsequenten Einsatzes ist meine Schwester nicht mehr in der Lage, ein Fahrzeug zu führen. Solange das der Fall ist, wirst du auf meine Unterstützung nicht verzichten können, oder wirst du deinen super Job aufgeben, um den Chauffeur für deine Frau zu spielen?«
Veras Stimme hatte einen deutlich schärferen Ton angenommen, während sie zur Kenntnis nahm, dass die Hände ihres Schwagers die Stuhllehne bereits umkrampften, als er einen Konterversuch startete.
… Während sich Volker von seinem Platz erhob, reagierte er mit einer boshaften Spitze: »Hat man dir im Gefängnis das Benehmen abtrainiert, Schwägerin?«
»Volker, das ist eine schlichte Lüge, ich saß nie im Gefängnis!« Vera ließ sich in einen Sessel fallen. »Eine Bewährungsstrafe allerdings hatte ich. Landfriedensbruch. Vor mehr als zwei Jahrzehnten. Schließlich bin ich Umweltaktivistin, da bleibt das nicht aus, gehört in meinen Kreisen schon fast zum guten Ton.«
Zynisch fiel ihr Volker ins Wort. »Und du wirfst mir meinen Karriereweg vor? Natürlich bist du damals in den Knast gegangen, auch eine Art von beruflicher Weiterentwicklung. Warum leugnest du das jetzt? Ist es dir peinlich?«
Er verfolgte mit abfälligem Blick Veras Bemühungen, ihre Unterschenkel mit den eng geschnittenen Stiefeln zu bekleiden. »Mist geht nicht mit den Wollsocken!«
Ohne auf Volkers Bemerkung einzugehen, zog sie die dick gestrickten Socken aus. Mit einem zweideutigen Blick in seine Richtung und betont melodisch in der Stimme bemerkte sie: »Lauf mir nicht weg, Volker, ich hole mir nur schnell ein paar passende Strümpfe.«
Volkers Blick hielt an Veras Beinen fest. »Was ist denn mit deinen Füßen passiert?«
Vera hielt in der Bewegung inne, mit einem erstaunten Gesichtsausdruck sah sie ihren Schwager an, richtete dann den Blick auf ihre Füße. Mit einem Lächeln um ihren Mund setzte sie sich wieder in den Sessel. Langsam, fast schon als erotische Geste fasste sie den Saum ihrer Wollleggins und krempelte diese bis unter das Knie hoch. Die Narben liefen wie parallele Striche von den Zehen über den Spann des Fußes, seitwärts Richtung Knie und ließen erahnen, dass sie auch noch dort weiterführten, wo die Kleidung die Sicht auf die Haut bedeckte. »Sie haben mich nicht in den Knast gebracht, sondern ins Krankenhaus.«
Sichtlich fassungslos betrachtete Volker seine Schwägerin.
»Es wird Zeit, dass du die ganze Geschichte erfährst.« Veras Stimme fiel wieder in das erotische Flüstern, ihre Bewegungen nahmen eine Form der Hingabe an, die Volkers Hormonspiegel schlagartig aus dem Gleichgewicht brachten. Er konnte und wollte sich nicht von der Stelle bewegen.
Vera nutzte diesen Moment. »Es war die Schlacht am Kühlturm.«
Sie lehnte sich zurück, schlug die Beine effektvoll übereinander, wohlüberlegt das vernarbte Bein über das bekleidete legend. Ihre Stimme verwandelte sich in die einer Geschichtenerzählerin.
»Der Krieg dauerte schon eine Woche, Hundertschaften aus allen Ländern versuchten, das Gelände um das AKW freizubekommen. Gewalt auf beiden Seiten, nicht zuletzt deshalb, weil sich auch militante Gruppen unter die Demonstranten gemischt hatten. Wir brauchten etwas, was ich als lähmende Stille bezeichnen würde, eine Aktion, die auch die Presse und damit die Öffentlichkeit auf die Sache lenken sollte, und damit letztendlich auf uns und unser Anliegen.«
Volker löste sich aus seiner Starre und setzte sich ihr gegenüber in einen Sessel, lauschte fasziniert ihren Ausführungen.
»Die Nummer, die dann kam, habe ich mit Max Weber und Kurt Steinberger klargemacht. Mit Max bin ich im Morgengrauen auf den Kühlturm. Dieser war mit Stacheldrahtrollen quasi ummantelt. Kein Mensch hatte angenommen, dass sich dort etwas ereignen können würde. Die Schlachten tobten schließlich woanders. Kurt konnte noch einen Kameramann aufreißen. Beide hatten in sicherer Entfernung Position eingenommen, Kurt mit der Spiegelreflex auf dem Stativ. Es dauerte nicht lange, bis wir entdeckt wurden. Aushungern lassen wollten die Grünen uns nicht, hatten wohl befürchtet, dass sich das Schlachtfeld verlagert, zumal sich unsere Aktion wie ein Lauffeuer rumgesprochen hatte und schon die erste Pilgergruppe auf dem Weg war.
Na ja, ich habe dann irgendwann so getan, als wollte ich aufgeben. Ich bin als Erste vom Turm runter. Die Grünen standen ein Stück weiter entfernt. Sie dachten wohl, dass sie mich eingekesselt hätten und dass ich nicht weglaufen können würde. Weil ich mich, unten angekommen, nicht von der Stelle rührte, meinten sie dann, näher ran zu müssen. Da habe ich den geplanten Fluchtversuch über den Stacheldraht in Angriff genommen.«
Volker unterbrach sie fassungslos. »Das war so von dir geplant? Warum hast du dann keine Schutzkleidung getragen?«
Vera lächelte, als sie antwortete: »Ich sagte doch bereits: Wir brauchten lähmende Stille. Max hatte mich mit Schutzkleidung ausgestattet, auch mit Blutbeuteln, die ich am Körper befestigen sollte. Mir wäre das wie ein Betrug vorgekommen, also habe ich darauf verzichtet. Hast du dir nie die Frage gestellt, warum ich einen weißen Overall getragen habe? Max ist in leuchtendem Orange auf den Turm, damit er auch gesehen wurde. Ich sah aus wie ein Knabe, der auf Braut macht, selbst die Skimaske war in Weiß. Mir war klar, dass mein Blut fließen würde, rotes Blut auf weißem Grund.«
Volkers Gesichtszüge wechselten zwischen Abscheu und Faszination.
Veras Stimme wurde leiser, ihr Blick wanderte zur Terrassentür und verblieb für einen nachdenklichen Moment auf der verschneiten Landschaft. »Solche Aktionen nehmen oft eine unerwartete Eigendynamik an.«
Nach einer Atempause wandte sie sich wieder Volker zu. »Es ging alles sehr schnell. Ein vermummter Grüner hatte sich auf der anderen Seite aus der Marschordnung gelöst, dem sind die Nerven durch. Er packte mich, zog mich über den Stacheldraht und riss mir die Skimaske vom Gesicht. Oben vom Turm aus, konnte ich noch Max herzzerreißend schreien hören: VEEEERAAAAA. Meine Haarpracht ergoss sich über meinen ausgekugelten Arm, bevor ich vor Schmerzen in den Armen des Grünen kollabierte.«
Vera betrachtete für einen Moment den völlig bestürzt dreinblickenden Volker.
»Als Achilles vor Troja der sterbenden Penthesilea den Helm abnahm, soll er sich auch in sie verliebt haben. Will man den Bildaufnahmen Glauben schenken, ist es meinem grenzschützenden Achilles nicht anders ergangen. Er hat mich richtig behutsam zum Rettungswagen gebracht. Kurt und seine Freunde haben auch ihre Nerven behalten. Die Bilder der scheinbar verblutenden Amazone Vera in den Armen eines bereuenden Grünen gingen durch die Nachrichten und machten mich schlagartig zu einer Ikone.«
Ihre Stimme wurde wieder die der erotischen Verführerin, als sie sich grazil aus dem Sessel löste und auf Volker zubewegte. »Es gibt Narben, die Türen öffnen.«
Vera kniete sich vor Volker, schob ihren Oberkörper zwischen seine Schenkel. Ihr Blick hielt seinen fest, als sie ihren Zeigefinger an den Mund führte, ihn mit der Spitze ihrer Zunge leicht benetzte und dann über eine Stelle an Volkers Wange führte. »Du trägst doch deine Narbe auch mit Stolz. Wie eine Auszeichnung. Der Schlag der Verbindung. Die Narbe, die dir die Pforte zu deinem Karrierehimmel geöffnet hat.«
Volker stockte der Atem, als sich Vera von ihm fortbewegte und ihre Stimme wieder eine fast geschäftlich klingende Nuance annahm. »Bedenke Volker, ich war jung und halt die wilde Vera. In dem Alter macht man auch Dinge, die man später so nicht wieder machen würde. Man macht und hält die Klappe. Der Zweck heiligt die Mittel. Auf jeden Fall wurde Gewalt beziehungsweise deren Verhinderung zum Gesprächsthema. So geht jeder seinen Weg.
Übrigens, als ich damals mit wildem aber klarem Verstand diese Aktion durchführte, war ich in dem gleichen Alter, in dem Simone war, als sie sich mit Evi zusammen auf ihre Reise ohne Wiederkehr begab.«
Volker wurde schlagartig kreideweiß, Vera kannte keine Gnade und fuhr fort ...
»Der hässliche Zwilling« 2011
»Mord in Genf« 2012
»Blauregenmord« 2013




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