Sonntag, 26. Juli 2015

288 »Widersprüchliches in den Evangelien in Sachen Auferstehung«

Teil 288 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein

Echte Pferde, echtes Feuer, echter Pulverdampf...

Nach Bad Segeberg haben mich, ich gebe es zu, zunächst keine theologischen Studien, sondern die berühmten Karl-May-Festspiele gelockt: 2014 wurde »Unter Geiern – Der Geist des Llano Estacado« gegeben, 2015 steht »Im Tal des Todes« auf dem Spielplan. Im Kino werden immer teurere Blockbuster geboten, in denen die »Schauspieler« kaum noch eine Chance haben wirklich zur Geltung zu kommen, weil immer raffiniertere »special effects« alles dominieren. Hinter den Kulissen wird eifrig an einem »Duftkino« gearbeitet. Ein »sniffman«, ein »mobiles Duftgerät« von der Größe eines Walkmans, soll für geruchliche Untermalung sorgen. Ob sich diese Neuerung je durchsetzen wird, das sei dahingestellt. In Bad Segeberg indes ist ein solcher technischer Schnickschnack nicht erforderlich. Da galoppieren echte Pferde, manchmal auch zwischen den Zuschauern, da sorgt Pyrotechnik für echten Pulverdampf, da werden Fantasien von Karl-May-Lesern nicht in teurer 3D-Technologie geboten, sondern real umgesetzt. Mit den Karl-May-Festspielen, die Jahr für Jahr mehr Zuschauer anlocken, kann kein Kino mithalten.

Die Marienkirche von Bad Segeberg
1156 erfolgte in Bad Segeberg die Grundsteinlegung der Marienkirche. 1199 verweist erstmals eine päpstliche Urkunde auf den Sakralbau, der erst im dreizehnten Jahrhundert vollendet wurde. 1470 wurde das Gotteshaus erweitert. Im Osten wurde ein Chorraum hinzugefügt. 1522 wurde das Kloster Segeberg aufgelöst. Im Dreißigjährigen Krieg kam es zu erheblichen Beschädigungen. 

Das nördliche Querschiff und andere Gebäudeteile waren wohl einsturzgefährdet und mussten abgerissen werden. In den Jahren 1761 bis 1764 wurde das Südschiff abgerissen. Ein neues Schleppdach sollte Schutz bieten. In den Jahren von 1864 bis 1867 wurde die ursprüngliche Gestalt der Kirche rekonstruiert. So wurde das Gotteshaus wieder zur Basilika mit Querschiff.

Betritt man die Marienkirche zu Bad Segeberg heute, so wird in dem fast kühl-sachlichen Bau der Blick auf den Altar gelenkt, dessen farbenprächtiger Altaraufbau an die Marktkirche von Hannover erinnert. Anno 1573 wurden Altar und Retabel an die Stelle im Vorchor verbracht, wo er auch heute noch das Zentrum des Kirchenschiffs bildet.

Altar - der kostbare Aufsatz

Wer den Schnitzaltar geschaffen hat, ist nicht mit Sicherheit feststellbar. Er stammt aus dem frühen 16. Jahrhundert. Es könnte sich um ein frühes Werk des Bildhauers und Bildschnitzers Johannes Brüggemann (um 1480 geboren, etwa 1540 in einem Husumer Armenhaus verstorben) handeln.

Für die Anhängerschaft Jesu war es eine schlimme Zeit der Trauer nach dem Schock des gewaltsamen Todes Jesu. Jesus war von den Römern verurteilt am Kreuz gestorben und schließlich beigesetzt worden. Was geschah danach? Schon die frühe Christengemeinde glaubte: Jesus ist auferstanden! Was geschah nach der Grablegung Jesu? Was können wir der Bibel über das für den christlichen Glauben zentrale Ereignis entnehmen?

Der tote Jesus vor dem Kreuz
Die vier Evangelisten Johannes, Markus, Matthäus und Lukas berichten über die Ereignisse an der Grabstätte. (1) So kurz die Berichte  auch sind, so widersprechen sich die wenigen Verse doch in zahlreichen Punkten. Einig sind sich die vier Autoren nur darin, dass es Frauen waren, die als erste Jesu Grab besuchten. Aber wie viele waren es und welche Frauen? Schon da gehen die Meinungen auseinander!

Johannes: Eine Frau, nämlich Maria von Magdala.
Matthäus: Zwei Frauen, nämlich Maria von Magdala und die »andere Maria«.
Markus: Drei Frauen, nämlich Maria von Magdala, Maria (Mutter des Jakobus) und Salome.
Lukas: Mindestens fünf Frauen, nämlich Maria von Magdala, Johanna, Maria (Mutter des Jakobus) und »die anderen mit ihnen«. Drei Frauen werden namentlich genannt. Die »anderen mit ihnen« müssen mindestens zwei Frauen gewesen sein.

Wie viele Frauen eilten also ans Grab und wann? War es nur eine Frau oder waren es zwei, drei oder mehr? Und wann kamen sie zum Grab?

Johannes: Nachts, als es »noch finster war«.
Markus: Beim Sonnenaufgang.

Das Grab konnte mit einem gewaltigen Stein verschlossen werden. War der Eingang zum Grab frei oder offen?

Matthäus: Das Grab war geschlossen. Ein Engel musste den Stein erst wegwälzen. Nur Matthäus berichtet von »Wachen«, die einen Diebstahl des Leichnams Jesu verhindern sollten. Markus, Lukas und Johannes wissen nichts von diesem wichtigen Detail.
Markus, Lukas und Johannes: Das Grab war bereits offen.

Von den Toten auferstanden
Wen trafen die ersten Zeugen?

Matthäus: Den Engel des Herrn.
Markus: Einen Jüngling.
Lukas:  »Zwei Männer mit glänzenden Kleidern«.
Johannes: Zwei Engel.

Waren der Engel des Herrn von Matthäus und der Jüngling von Markus ein und derselbe? Waren die »zwei Männer« von Lukas die »zwei Engel« von Johannes? So uneins wie sich die Evangelisten über die Männer/ Engel sind, so uneins sind sie sich darüber, wo sie sich befanden und was sie genau taten.

Matthäus: Der eine Engel befand sich außerhalb des Grabes.
Markus: Der Jüngling saß in der Gruft und zwar rechts von Jesu Totenbahre.
Lukas: Die zwei Männer standen (vermutlich) in der Gruft.
Johannes: Die zwei Engel saßen in der Gruft und zwar je einer am Kopf- und Fußende von Jesu Totenbahre.

Einig sind sich die vier Evangelisten in einer Beobachtung:  Jesus, der Gekreuzigte, lag nicht mehr aufgebahrt im Felsengrab. Er war verschwunden. Verkündeten nun die Frauen, was sie beobachtet hatten? Selbst bei der Antwort auf diese wichtige Frage gibt es einen eklatanten Widerspruch! Es sieht nicht so aus, als ob die Frauen an Jesu Auferstehung geglaubt hätten. Sonst wären sie ja nicht über das Verschwinden des Leichnams erstaunt gewesen. Aber offenbar mussten sie erst über den Verbleibt des verschwundenen Jesus aufgeklärt werden. Im Evangelium nach Markus erfahren sie vom Jüngling im weißen Gewand (2): »Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier.« 

Matthäus: Die Frauen teilten es »seinen Jüngern« mit großer Freude mit.
Markus: Die Frauen flohen entsetzt und »sagten niemandem etwas, denn sie fürchteten sich«.
Lukas: Die Frauen »verkündeten das alles den elf Jüngern und den anderen allen«.
Johannes: Maria Magdalena bleibt zunächst beim Grab.

Jesu Totenbahre ist leer. Was ist mit dem Gekreuzigten geschehen?

Matthäus: Maria von Magdala und »die andere Maria« erfahren vom Engel: Jesus ist auferstanden.
Markus: Maria von Magdala, Maria (Mutter des Jakobus) und Salome erfahren vom »Jüngling«: Jesus ist auferstanden.

Himmelfahrt Jesu
Lukas: Mindestens fünf Frauen, nämlich Maria von Magdala, Johanna, Maria (Mutter des Jakobus) und »die anderen mit ihnen« erfahren von den »zwei Männern«: Jesus ist auferstanden.

Johannes: Maria von Magdala vermutet, der Leichnam Jesu sei gestohlen worden. Maria glaubt zunächst nicht an die Auferstehung. Schließlich tritt ihr Jesus gegenüber, aber sie erkennt ihn zunächst nicht. Jesus selbst verkündet, er sei auferstanden. Nur bei Johannes erscheint Jesus am leeren Grab. Bei Matthäus, Markus und Lukas findet die Begegnung erst später, zu einem nicht genau bestimmbaren Zeitpunkt, statt.

Man kann sich die Freude Marias gut vorstellen. Eben noch war sie zutiefst betrübt über den Kreuzestod Jesu. Jetzt erfährt sie: Er ist auferstanden! Begeistert will sie Jesus begrüßen. Der aber weist sie mit einer seltsamen Begründung zurück! Bei Johannes (3) lesen wir: »Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Himmel!«

Nachzuvollziehen ist diese Begründung nicht. Maria darf Jesus nicht berühren, da er noch nicht gen Himmel gefahren sei. Aber nach der Himmelfahrt kann sie ihn nicht mehr berühren, da er dann ja im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr greifbar ist. Bei Matthäus (4) gibt es dieses Tabu nicht. Jesu Jünger, zu denen ganz offensichtlich auch Maria Magdalena gehört, dürfen ihn zur Begrüßung anfassen. Und das, obwohl er zu diesem Zeitpunkt ja auch noch nicht zum Vater gen Himmel gefahren war!

Blick in die Marienkirche
Der Theologe John Wenham gehört nicht gerade zu den kritischen Vertretern seiner Zunft. Für ihn ist die Bibel das Buch der Wahrheit. Aber auch er muss in seinem Buch »The Easter Enigma« (5)  konstatieren: »Nun wird die Geschichte von Jesu Auferstehung von verschiedenen Autoren erzählt, deren Berichte voneinander in einem erstaunlichen Maße abweichen. So sehr, dass  herausragende Gelehrte kategorisch festgestellt haben, dass sie nicht miteinander in Einklang gebracht werden können.«

Fußnoten

1) Das Evangelium nach Matthäus Kapitel 28, Verse 1-10, das Evangelium nach Markus Kapitel 16,1-11, das Evangelium nach Lukas Kapitel 24, Verse 1-12 und das Evangelium nach Johannes Kapitel 20, Verse 1-18
2) Das Evangelium nach Markus Kapitel 16, Vers 6
3) Das Evangelium nach Johannes Kapitel 20, Vers 17
4) Das Evangelium nach Matthäus Kapitel 28, Vers 9
5) Wenham, John: »Easter Enigma«, Grand Rapids 1984, S. 99

Die Marienkirche von Bad Segeberg
289 »Maria Magdalena?«
Teil 289 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                       
erscheint am 02.08.2015

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Sonntag, 19. Juli 2015

287 »Das Geheimnis des Bluttuchs«

Teil 287 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein




Das Kirchlein von Urschalling
Das Kirchlein wirkt auf den ersten Blick unscheinbar. Wann genau der Grundstein gelegt wurde, ist nicht bekannt. Vermutlich wurde es im späten 11. Jahrhundert irgendwo im »Nirgendwo« am Chiemsee gebaut. Im späten 12. Jahrhundert gewann es an Bedeutung, als die Grafen von Falkenstein eine Kapelle für ihre »Zweitburganlage« suchten und sich schließlich für »St. Jakobus« entschieden.

Der herrlichen Malereien wegen reiste ich nach Urschalling. Die Fresken entstanden im 12., 13. Und 14. Jahrhundert. Zwischen dem 17. Und dem 19. Jahrhundert wurden die wertvollen Fresken wiederholt übertüncht und überkleistert. Warum? Störte man sich an der Dominanz der Frauen in den altehrwürdigen Darstellungen? Anno 1923 jedenfalls wurden sie durch einen Zufall wiederentdeckt. 1940 wurde mit ersten Restaurierungsarbeiten begonnen. Weitere aufwändige Kampagnen wurden in den folgenden Jahrzehnten durchgeführt, die »St. Jakobus« zu einer wichtigen Kirche machten, deren Malereien man wie ein Buch lesen kann.

Die mysteriöse Trinität (Urschalling)
Geradezu ketzerisch mutet die Darstellung der »Heiligen Dreifaltigkeit« für manche Zeitgenossen an. Wird die mysteriöse »Trinität« doch als Wesen mit drei Oberkörpern dargestellt: Gottvater, Sohn Jesus und in der Mitte – als Frau! – der »Heilige Geist«. Man müsste also konsequenter Weise von der »heiligen Geistin« sprechen, die im »Neuen Testament« vom Himmel kommt und über Jesus kommt (1). Im »Wörterbuch der feministischen Theologie« (2) lesen wir:

»Eine Sondertradition … hat sich um den Heiligen Geist gebildet: Schon das alttestamentliche Wort für Geist, ›Ruach‹, wurde in der weiblichen Form gebraucht, auch als Taubensymbol, zugleich Erossymbol, das auch den Göttinnen Aphrodite und Innana zugeordnet war, ist weiblicher Natur.«
Diese »Heilige Geistin« hat mich nach Urschalling an den Chiemsee geführt. Bei meiner nächtlichen Ankunft am damals gänzlich unbeleuchteten »Bahnhof« wäre ich fast vom abrupt endenden, ungesicherten Bahnsteig gestürzt. Nach einer erholsamen Übernachtung in einer kleinen, rustikalen Pension stand ich dann am Morgen allein im Kirchlein und staunte über die noch erhaltene Bilderflut an Wänden und Decke.

Nur wenige Stunden ist die einstige Wehrkirche geöffnet, dabei könnte ich tagelang im kleinen Gotteshaus von Bild zu Bild wandern und versuchen, die gemalten Darstellungen wie ein Buch zu lesen. Während ein geschriebener Text immer nur eine Lesart zulässt, können Gemälde auch vieldeutig sein.  Die »Heilige Geistin« zwischen Jesus und Gottvater bietet reichlich Raum für  Spekulationen. Im Gewölbe des Chors… eine wirklich mysteriöse Dreifaltigkeit mit weiblichem Anteil.

Das Antlitz Jesu von Urschalling

An der Nordwestwand des Chorjochs, über einem Fenster, breitet eine junge Frau ein Tuch aus. Darauf ist das Antlitz Jesu zu sehen. Wie das Bildnis aufs Tuch kam, das erzählt eine uralte christliche Legende, die schon seit dem 6. Jahrhundert im Abendland kursierte. Veronika wollte sich, so die Legende, von einem Maler ein Bildnis Jesu auf einem Tuch anfertigen lassen. Unterwegs traf Veronika Jesus, erzählte ihm von ihrem Vorhaben. Jesus ließ sich das Tuch geben und als er es zurückreichte, war darauf sein Antlitz zu sehen. In einer späteren, dramatischeren Form der Legende entsteht das Bildnis, als der geschundene Jesus zur Hinrichtungsstätte getrieben wird. Entkräftet von der Last des Kreuzbalkens bricht Jesus zusammen, Veronika reicht  ihm das Tuch. Dankbar trocknet Jesus sein Gesicht… und hinterlässt darauf das Abbild seines Antlitzes.

»vera ikon« (Marktkirche Hannover)
An der Nordwand des Chorjochs von Urschalling sehen wir Veronika, die das »Schweißtuch« mit dem Gesicht Jesu hält. Sie selbst tritt in den Hintergrund, das »vera ikon«, das »wahre Bild«, wird uns entgegengehalten. In der Marktkirche von Hannover, ebenso dem Heiligen Jakobus geweiht, wird das Geschehen auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte plastisch dargestellt. Jesus wankt förmlich unter der Last des Kreuzes. Um ihn zu verspotten, hat man ihm einen goldenen Königsmantel umgehängt. So sollte demonstriert werden, dass die Römer niemanden ungestraft davonkommen ließen, der sich als König der Juden bezeichnete. Ein römischer Soldat geht voran, zerrt Jesus an einem Strick hinter sich her.

Hinter Jesus ist eine Frau zu sehen, die der Prozession des Schmerzes folgt. Ich vermute, dass Jesu Mutter Maria gemeint ist. Begleitet wird sie von einem Mann, von dem nur ein kleiner Teil des Kopfes zu sehen ist. Es könnte sich um den Lieblingsjünger Jesu, also vermutlich um Johannes, handeln. Die beiden werden von einem weiteren römischen Soldaten angeschrien. Vorn links im Bild kniet eine junge Frau. Sie hat soeben das »Schweißtuch« erhalten. Im Verlauf der Jahrzehnte habe ich so manche Darstellung dieser Szene gesehen, nirgendwo war das Abbild Jesu auf dem Tuch so plastisch herausmodelliert wie im Schnitzwerk des Altars in der Marktkirche von Hannover. 

Das blutige Antlitz im Tuch ist genauso dreidimensional geschnitzt wie die Gesichter aller Akteure.Man könnte meinen, im Tuch liege ein abgeschlagenes Haupt... Wollte der Künstler betonen, dass seine Darstellung besonders realistisch sein soll, die Wirklichkeit in allen Einzelheiten wiederspiegelt?

Das Antlitz im Tuch (Marktkirche Hannover)
Eine Frage stellt sich nun: Ist die Geschichte vom »Schweißtuch der Veronika« nur eine für den Gläubigen erfundene, rein fiktive Geschichte ohne jeden realen Hintergrund? Michael Hesemann, er studierte Geschichte, Kulturanthropologie, Germanistik und Journalistik, ist überzeugt: Die Legende hat einen realen Hintergrund! Es hat existiert und es existiert noch heute. Bekannt ist die Reliquie als das »Schweißtuch von Oviedo«, auch »Santo Sudario von Oviedo« genannt. Das blutverschmutzte Leinentuch wird in der Kathedrale San Salvador in Oviedo, Spanien, aufbewahrt.

Es ist mehr als verblüffend: Es gibt Blutspuren auf dem sogenannten Schweißtuch von Oviedo, die den Verletzungen durch die Dornenkrone Jesu Christi zuzuordnen sind. Und die stimmen exakt mit jenen überein, die auf mysteriösen Turiner Grabtuchs ebenfalls von der Dornenkrone verursacht wurden.

Sollte es sich beim Bluttuch von Oviedo wirklich um eine echte Reliquie handeln? Michael Hesemann ist in seinem umfangreichen Werk über »Das Bluttuch Christi« (3) mit kriminalistischem Spürsinn eine überzeugende Indizienkette gelungen, vom Kreuz von Golgatha über die Abnahme des toten Jesu vom Kreuz bis hin zur Grablegung. Demnach umhüllten das »Schweißtuch von Oviedo« und das »Turiner Grabtuch« vor rund zwei Jahrtausenden Gesicht und Körper Jesu. Und in der Tat: Die Flecken auf beiden Tüchern rühren von denselben Wunden her. Wissenschaftlich exakt konnte der Tod des Mannes rekonstruiert werden, bis hin zur Grablegung.

Michael Hesemann (4): »Beide Tücher umhüllten den toten Körper desselben Mannes – und dieser Mann muss Jesus Christus gewesen sein. Selbst sein Antlitz konnte wissenschaftlich rekonstruiert werden. Stumme Zeugen der Passion beginnen jetzt zu reden.«

Mir kommt ein Zitat von Ralph Waldo Emerson (1803-1882) in den Sinn: »Selbstaufopferung ist das wirkliche Wunder, aus dem alle anderen Wunder entspringen.« Aber der vermeintlich wissenschaftlich geschulte Zeitgenosse lehnt den Glauben an Wunder ab. Dabei hat niemand einen so festen Glauben wie der Agnostiker. Ein Agnostiker glaubt, dass sein wissenschaftliches Weltbild Wunder ausschließt. Schade, dass er nicht erkennt, wie eng sein geistiger Horizont ist. »Wunder stehen nicht im Gegensatz zur Natur, sondern nur im Gegensatz zu dem, was wir über die Natur wissen.«, formulierte der Heilige Augustinus.

Leider halten Agnostiker, ob sie es zugeben oder nicht, ihr Wissen für allumfassend. Sie haben ein Defizit an Selbstkritik und leiden an Fantasielosigkeit.


Beisetzung Jesu (Marktkirche Hannober)
Fußnoten

(1) Evangelium nach Markus, Kapitel 1, Vers 11, sowie Evangelium nach Lukas, Kapitel 3, Vers 22 und Evangelium, sowie Evangelium nach Matthäus Kapitel 3 Vers 17
(2) Gössmann, Elisabeth, Moltmann-Wendel u.a. (Hrsg.): »Wörterbuch der feministischen Theologie«, Gütersloh 1991, S. 239
(3) Hesemann, Michael: »Das Bluttuch Christi/ Wissenschaftler auf den Spuren der Auferstehung«, München 2010
(4) ebenda, Text auf dem Buchcover hinten

Zur Lektüre empfohlen:

Badde, Paul: »Das Grabtuch von Turin oder das Geheimnis der heiligen Bilder«,
München 2010

Hesemann, Michael: »Das Bluttuch Christi/ Wissenschaftler auf den Spuren der Auferstehung«, München 2010

Schlömer, Blandida Paschalis: »Il Volto della Parola GESÙ/ Jesus - Das Gesicht
des Wortes«, Teramo 2010

Siliato, Maria Grazia: »Und das Grabtuch ist doch echt/ Die neuen Beweise/
Das Turiner Grabtuch ist 2000 Jahre alt«, Lizenzausgabe, Augsburg 1998

288 »Widersprüchliches in den Evangelien in Sachen Auferstehung«
Teil 288 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                       
erscheint am 26.07.2015

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Sonntag, 12. Juli 2015

286 »Das Kreuz mit dem Prozess«

Teil 286 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein


Der gefesselte Jesus wird vor Hannas gebracht.

Was geschah mit Jesus, nachdem er im Garten Gethsemane verhaftet und abgeführt worden war? Die Aussagen der Evangelisten dazu sind widersprüchlich. Nach Lukas wurde Jesus in der Nacht von seinen Häschern gepeinigt (1): »Die Männer aber die Jesus gefangen hielten verspotteten ihn und schlugen ihn.« In der Nacht findet nach Lukas kein Verhör statt. Erst am Morgen wurde Jesus vor den Hohen Rat geführt.

Im Evangelium nach Johannes (2) gab es keine Wartezeit, vielmehr schaffte man Jesus offenbar umgehend in der Nacht und nicht erst am Morgen zu Hannas:  »Die Schar aber und ihr Anführer und die Knechte der Juden nahmen Jesus und banden ihn und führten ihn zuerst zu Hannas; der war der Schwiegervater des Kaiphas, der in jenem Jahr Hoherpriester war.«  Nach Befragung und Misshandlung wurde Jesus weitergereicht (3): »Und Hannas sandte ihn gebunden zu dem Hohenpriester Kaiphas.«

Jesus vor Kaiphas

Im Evangelium nach Markus wird der Sachverhalt so dargestellt (4): » Und sie führten Jesus zu dem Hohenpriester; und es versammelten sich alle Hohenpriester und Ältesten und Schriftgelehrten.«  Konform mit Markus geht Matthäus (5): »Die aber Jesus ergriffen hatten, führten ihn zu dem Hohenpriester Kaiphas, wo die Schriftgelehrten und Ältesten sich versammelt hatten.«

Im Evangelium nach Lukas (6) bleibt der Hohepriester anonym, nur sein Titel wird genannt. In seiner Apostelgeschichte (7) heißt der Hohenpriester – und das ist falsch – Hannas. Historisch korrekt ist das Evangelium nach Matthäus. Der Hohepriester war damals Kaiphas. Der Verfasser des Evangeliums nach Johannes nennt zunächst den richtigen Namen (2), nämlich Kaiphas. Doch wenige Worte später heißt der Hohepriester im Johannes-Evangelium plötzlich Hannas. Eindeutig wird – nach Johannes – Jesus zunächst von Hannas verhört, und der wird als »Hohepreister« bezeichnet (9). Wenige Worte später lesen wir wieder – historisch korrekt vom Hohepriester Kaiphas.

Jesus vor Herodes

Mögliche Erklärung: Hannas war Hohenpriester, wurde aber 15 n.Chr. abgesetzt. Führte er trotzdem seinen Titel weiter? Wurde also Jesus zunächst zum ehemaligen und dann zum aktuellen Amtsinhaber gebracht? Aber warum sollte der abgesetzte Würdenträger überhaupt konsultiert worden sein? Kam es den Verfassern der Evangelien auf historische Details nicht an? Oder waren sie ihnen gar nicht bekannt?

Wer ließ Jesus verhaften? Waren es die Juden, die in Jesus einen gotteslästerlichen Verbrecher sahen? Oder waren es die Römer, die Jesus als Widerstandskämpfer fürchteten? Oder arbeiteten Priesterschaft der Juden und römische Militärmacht Hand in Hand? Bei Johannes (10) machten sich Römer und Juden auf, um Jesus im Garten Gethsemane gefangen zu nehmen: eine »speira«, also eine Kohorte von 600 Mann und die »Knechte der Juden«.

Geißelung Jesu

Rom war die Besatzungsmacht, das »Heilige Land« unterstand Rom. Das empörte natürlich strenggläubige Juden. Ist es denkbar, dass sich die römische Besatzungsmacht herabließ, Jesus im Auftrag der Juden zu verhaften? Ist es wahrscheinlich, dass die römischen Truppen ausgerechnet zu Hannas brachten, den die Römer selbst rund fünfzehn Jahre zuvor abgesetzt hatten?

Ich hatte 1976 Gelegenheit, mit Rudolf Augstein über Jesu‘ Prozess und Hinrichtung zu sprechen. Rudolf Augstein (1923-2002), Spiegelherausgeber und profilierter Journalist, hatte 1972 ein penibel recherchiertes Buch über Jesus publiziert (11), das nicht nur in Deutschland heiße Diskussionen auslöste. Rudolf Augstein fand meine Bemühungen, den historischen Ablauf der letzten Lebenstage Jesu anhand der biblischen Texte zu rekonstruieren (12), »nicht wirklich amüsant«. Ich würde in den Schriften des »Neuen Testaments« eine Vielzahl von Behauptungen zum Ablauf der Geschehnisse finden. Jede davon sei mehr oder minder »unwahrscheinlich«. Sicher, es gebe für jede »Unwahrscheinlichkeit« eine »theologische Erklärung«, aber die Summe der »erklärten Unwahrscheinlichkeiten« ergebe »kein sinnvolles Ganzes«.

Richtig ist, dass die Faktenlage mehr als unsicher ist. Ist es denkbar, dass die römische Autorität Jesus den Juden überließ? Ist es denkbar, dass eine jüdisch-religiöse Gerichtsbarkeit ein Todesurteil verhängen konnte? Darüber streiten sich bis heute die Gelehrten. Leider geben die Schriften des »Neuen Testaments« weniger Nachprüfbares her als wir gerne hätten. Wer hat Jesus verhört und verurteilt? Wer ist damals im Hause des Kaiphas zusammengekommen? War es der »Große Sanhedrin«, bestehend aus Hohenpriester, Ältesten und Schriftgelehrten? Der »Große Sanhedrin« war so etwas wie eine juristische Institution im »Heiligen Land«. Aber fällte der »Große Sanhedrin« Urteile? War er befugt, Menschen wie Jesus zum Tode zu verurteilen? Die Meinungen der Experten gehen weit auseinander.

Jesus wird verspottet und gepeinigt

Joseph Gedalja Klausner (1874 -1958) war ein russischer Historiker und Religionswissenschaftler, postulierte in seinem Buch über Jesus von Nazareth (13), dass die Römer dem Sanhedrin die Strafgerichtsbarkeit weitestgehend entzogen haben. Demnach durfte der Sanhedrin Jesus nicht zum Tode verurteilen und schon gar nicht das Urteil vollstrecken lassen. Wer also machte Jesus den Prozess? Und warum wurde Jesus nach Römerart gekreuzigt, wenn er von den Juden verurteilt wurde? Hätte er dann nicht gesteinigt werden müssen? Und wenn Pilatus wirklich von der Unschuld Jesu überzeugt gewesen wäre, hätte er ihn dann trotzdem kreuzigen lassen?

Die neutestamentlichen Quellen bieten wenig wirklich Greifbares. Trotzdem schreiben Theologen üppige Wälzer. Der Neutestamentler Josef Blinzler (1910-1970) zum Beispiel überrascht mit seinem 530 Seiten dicken Opus über den »Prozeß Jesu« (14). Übertroffen wird der Gelehrte  von seinem Kollegen Willibald Bösen (1938 geboren). Der römisch-katholische Theologe war bis zum Ende des Sommersemesters 2003 Professor für Biblische Theologie und ihre Didaktik an der Universität Bielefeld. Auf immerhin 410 breitet er sich über den letzten Tag des Jesus von Nazareth (15) aus und verspricht alles zu enthüllen, so der Untertitel seines Opus »Was wirklich geschah«. Keine Frage bleibt unbearbeitet. Hing Jesus nackt am Kreuz? Oder trug er einen Lendenschurz oder ein Schamtuch? Nirgendwo im »Neuen Testament« findet sich ein Hinweis auf dieses Detail.

So kommt Willibald Bösen zur Erkenntnis (16): »Letztlich ist diese Frage nicht mehr sicher zu entscheiden.«

Jesus mit Dornenkrone wird vor seine Ankläger geführt

In einem Seminar zum »Neuen Testament« wurde auch diese Frage an der Universität von Erlangen erörtert, wo ich in den 1970er Jahren evangelische Theologie studierte. Einigung wurde nicht erzielt. »Jesus trug am Kreuz ein Schamtuch. Wenn dem nicht so gewesen wäre, hätten das die Evangelisten erwähnt!«, meinte unser Professor. »Jesus war ganz nackt am Kreuz!«, widersprach mutig sein Assistent. »Die Evangelisten wären sonst unbedingt auf ein Schamtuch eingegangen. Es war in ihren Augen aber nicht schicklich, die nackte Wahrheit zu erörtern. Jesus ganz und gar nackt, das passte nicht zu ihrem Bild vom Messias.«

Es ist schon erstaunlich, welche Detailfreude Willibald Bösen an den Tag legt, was den Prozess Jesu angeht. So fabuliert er, dass zunächst beim jüdischen Verhör (17) »eine Clique aus zehn bis zwölf maßgeblichen« jüdischen Würdenträgern anwesend war. Von diesen Männern folgten dann, so Bösen, »insgesamt vier bis fünf« (18) dem Delinquenten Jesus zu Pilatus. Auch wie lang der Prozess dauerte, behauptet Bösen zu wissen (19): »mit allen Wartezeiten fünf Stunden«. Wie der Wissenschaftler zu derlei Erkenntnissen kommt, bleibt ein Rätsel. Aus dem »Neuen Testament« jedenfalls kann er auch mit viel Fantasie diese Angaben nicht herausgelesen haben.

Pilatus gibt Jesus zur Kreuzigung frei

Nüchtern stellt das »Arbeitsbuch zum Neuen Testament« fest (20): »Der historisch gesicherte Grundbestand der Passionstradition erweist sich als relativ schmal. Unbezweifelbar ist die Tatsache der Verurteilung Jesu, ferner seine Kreuzigung und sein Tod, überaus wahrscheinlich ist die Beisetzung des Verstorbenen durch einen Fremden.«

Alles andere als nüchtern sind die 21 Felder auf dem Hochaltar zu Bremen. Sie sind ebenso wie die nach den vier Evangelisten benannten Bücher des »Neuen Testaments« beeindruckende Bekenntnisse zum christlichen Glauben. In unserer Zeit ist das so schlicht formulierte Gebot der christlichen Nächstenliebe wichtiger denn je, zumal es leider offenbar in weiten Teilen unseres Planeten nicht beherzigt wird. Wir leben leider in einer Welt des wachsenden Fanatismus, der grausame Gewalt als vermeintliche Befolgung religiöser Gebote predigt. Zu Beginn des dritten Jahrtausends nach Christus sind es fundamentalistische Islamisten, die Hass predigen. »Liebe deinen nächsten wie dich selbst!«, wenn wir alle, über die Konfessionen hinweg, dieses Gebot befolgen würden... wir kämen dem Paradies ein sehr großes Stück näher.

Niemand wird heute bestreiten, dass das Christentum zu Europa, zu Deutschland gehört. Wir sind im christlichen Abendland verwurzelt. Sollten wir da nicht alle zumindest das »Neue Testament« lesen? Zu unserem Erbe gehören auch viele sakrale Baudenkmäler aus frühen Zeiten, Kapellen, Kirchen und Kathedralen. Sie bieten jedem Zeitgenossen immer noch Zuflucht vor der lauten Hektik unseres Alltags... Stille im Lärm.

Fußnoten

(1) Evangelium nach Lukas Kapitel 22, Vers 63
(2) Evangelium nach Johannes Kapitel 18, Verse 12 und 13
(3) Evangelium nach Johannes Kapitel 18, Vers 24
(4) Evangelium nach Markus Kapitel 14, Vers 53
(5) Evangelium nach Matthäus Kapitel 26, Vers 57
(6) Evangelium nach Lukas Kapitel 22, Vers 54
(7) Apostelgeschichte des Lukas Kapitel 4, Vers 6
(8) Evangelium nach Johannes Kapitel 18, Vers 13
(9) Evangelium nach Johannes Kapitel 18, Vers 19
(10) Evangelium nach Johannes Kapitel 18, Vers 12
(11) Augstein, Rudolf: »Jesus Menschensohn«, München 1972
(12) Handschriftliches Gedächtnisprotokoll des Gesprächs mit Rudolf Augstein,
verfasst von Walter-Jörg Langbein
(13) Klausner, Joseph Gedalja: »Jesus of Nazareth: His life, times, and teaching«, London 1947
(14) Blinzler, Josef: »Der Prozess Jesu«, 4. Auflage, Regensburg 1969
(15) Bösen, Willibald: »Der letzte Tag des Jesus von Nazaret/ Was wirklich geschah«, Freiburg 1999
(16) ebenda, Seite 288
(17) ebenda, Seite 175
(18) ebenda, Seite 215
(19) ebenda, Seite 240
(20) Conzelmann, Hans und Lindemann Andreas: »Arbeitsbuch zum Neuen Testament«, 14. Auflage, Tübingen 2004,S. 505

Zu den Fotos: 

Alle Fotos (Altar Marktkirche Hannover): Walter-Jörg Langbein


287 »Das Geheimnis des Bluttuchs«,
Teil 2867 der Serie

»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                       
erscheint am 19.07.2015


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Sonntag, 5. Juli 2015

285 »Jesus und das Fest der Essener«

Teil 285 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein


Foto 1: Das Heilige Abendmahl in der Marktkirche

Der Marktkirchen-Altar von Hannover, zwischen 1470 und 1485 vollendet, erzählt in einer Art sakralem »Comicstrip« einen Teil der Geschichte Jesu. Ausgelassen wird ein erheblicher Teil von Jesu »Biografie«, der sonst in christlichen Kirchen in unzähligen Gemälden, Fresken und Holzschnitzereien gern opulent präsentiert wird. Es fehlen die Darstellungen idyllischer Stallszenen von Bethlehem, es gibt keinen Hinweis auf die »Heiligen Drei Könige« oder den »Stern«, der die Männer aus dem Morgenland führte. Kein einziges Bild geht auf den Kindermord ein, den Herodes angeordnet haben soll, weil er befürchtete der Messias würde ihn vom Thron des Königs stoßen und sich selbst zum Regenten ausrufen lassen. So etwas hatten doch angeblich die Propheten geweissagt. Und die »Heiligen Drei Könige« waren doch von weither angereist, um den neuen Herrscher zu huldigen.Selbst ins winterliche Weserbergland sind die Heiligen Drei Könige gekommen, auf dem Altarbild von Hannover sucht man sie vergebens...

Foto 2: Keine Spur von den 3 Königen auf dem Altar

Es fehlt auch jegliche Darstellung der Wundertaten Jesu, die ja für die Gläubigen beweisen, dass Jesus der lang ersehnte Messias war. Kennzeichen des Messiastums waren doch Wunder. Wunder galten als das typische Merkmal des Messias schlechthin. Zu Jesu Zeiten gab es nicht wenige Zeitgenossen, die predigend durch die Lande zogen. Jeder konnte behaupten, der von den Propheten geweissagte Messias zu sein. Wer von den selbsternannten Kandidaten aber keine Wundertaten vorzuweisen hatte, wurde nicht ernst genommen.

Die Geschichte Jesu, die uns der Altaraufsatz der Marktkirche wie ein Buch lesen lässt, beginnt sehr spät in der Biografie Jesu: mit dem Einzug Jesu auf einem Esel in Jerusalem. Meine Empfehlung: Besuchen Sie die Marktkirche von Hannover, besichtigen Sie das Gotteshaus, natürlich nicht während eines Gottesdienstes. Treten Sie vor den Altar, nehmen Sie sich Zeit und studieren Sie sorgsam die 21 geschnitzten Bilder des Altaraufsatzes, eines nach dem anderen. Dazu benötigen Sie wirklich viel Zeit, denn die meisterhaften Künstler haben unzählige Details verewigt, die man sonst leicht übersieht. Von einem der Plätze auf den Kirchenbänken aus können Sie sich nur einen groben Überblick verschaffen, selbst wenn Sie weit vorne sitzen.

Foto 3: Abendmahl von Kirchbrak
Das dritte Bild von links in der oberen Reihe zeigt die »Entlarvung des Judas durch Jesus«. Die Situation wird im »Neuen Testament« mehrfach beschrieben. Jesus hat eben verkündet, dass ihn einer der anwesenden Jünger »verraten« wird. Nach den Evangelisten Matthäus (1) und Markus (2) fragten alle Jünger, einer nach dem anderen: »Herr bin ich’s?« Sollten es wirklich jeder Jünger zumindest für möglich gehalten haben, dass er Jesus ans sprichwörtliche Messer liefern würde? Das spricht nicht wirklich für einen besonders innigen Glauben an die Rolle Jesu.

Jesus und seine Gefolgsleute fühlten sich dem alten religiösen Brauch des Pessachfestes  sehr verbunden. Nach Markus (3) erkundigten sich seine Jünger »am ersten Tage des Pessachfestes, da man das Osterlamm opferte: Wo willst du, dass wir hingehen und dir das Osterlamm bereiten, dass du es essest?«  Nach Markus feierten Jesus und seine Jünger am ersten Tag des Pessachfestes. Nach Johannes war er zu diesem Zeitpunkt längst tot. Die exakten Ausführungen des Johannes (4) lassen keinen Zweifel zu: Jesus wurde am Tag vor dem Pessachfestes gefangen genommen, vor den jüdischen Hohen Rat gebracht und befragt, schließlich von Pilatus zwei Mal verhört, verurteilt, blutig geschlagen und gegeißelt, gekreuzigt, vom Kreuz abgenommen und ins Grab gelegt.

Die Darstellung des Evangeliums nach Markus scheint eindeutig falsch zu sein. Denn dann hätte der Prozess an einem der heiligsten Feiertage stattgefunden. Das ist undenkbar. Jüdische wie römische Autoritäten müssen daran interessiert gewesen sein, dass der Prozess und  die Hinrichtung Jesu vor dem Pessachfest stattfanden. Man musste mit etwa zwei Millionen Pilgern in Jerusalem rechnen. Römische wie jüdische Autoritäten haben sicher alles vermieden, was zu Aufruhr hätte führen können. Die Römer wussten, wie verhasst sie im Volk waren. Die Hinrichtung Jesu hätte leicht der Anlass zu einem Volksaufstand werden können, musste also aus Sicht der Besatzungstruppe vor dem Fest stattfinden. Die jüdischen Autoritäten waren an strenge Vorschriften gebunden. Im jüdischen Gesetzbuch heißt es (5): 

»Deshalb richtet  man nicht am Vorabend des Sabbats oder eines Feiertages.« Deshalb kann auch die Darstellung nach dem Evangelium des Johannes eigentlich nicht stimmen: Jesus muss früher verurteilt und hingerichtet worden sein. Aber wann? Gibt es eine Erklärung für die Widersprüche zwischen Markus, Johannes und den Vorschriften der Mischna (jüdische Sammlung der Gesetzesüberlieferung) ? Sie findet sich versteckt im »Neuen  Testament«.

Im Evangelium nach Markus (6) befiehlt Jesus seinen Jüngern: »Geht in die Stadt, dort wird euch ein Mann begegnen, der einen Wasserkrug trägt.« Dem sollen sie folgen. Der Mann werde sie zum Haus der Pessachfeier bringen. Wasserholen war aber zu Jesu Zeiten reine Frauensache. Es gab nur eine Ausnahme: Zur Gemeinschaft der Essener waren keine Frauen zugelassen. Bei den Essenern holten also Männer Wasser vom Brunnen. Jesus hatte immer wieder Frauen in seinem Gefolge. Wieso feierte er dann das letzte Pessachfest vor seiner Kreuzigung nur mit Männern? Zelebrierte Jesus das heilige Ritual also bei Essenern?

Foto 4: Hier wurden die Heiligen Texte der Essener gefunden.

Bei den Essenern gab es strenge Vorschriften über die Rangordnung der Mitglieder. In der Gemeinderegel von Qumran wird genau festgelegt, wer bei Tisch wo sitzen darf. Über eben diese Frage (7) gab es bei Jesu letztem Pessachfest Streit.

Feierten Jesus und seine Jünger also bei Essenern? Die Essener rechneten nicht wie die offiziellen Priester des Judentums nach dem Mondkalender, sondern nach dem Sonnenkalender. Die Essener feierten also früher, einen Tag vor den orthodoxen Juden. Richtete sich Jesus nach dem Kalender der Essener? Anscheinend! Dann erlebte Jesus den ersten Tag des Pessachfestes der Essener (Markus!) und starb vor dem Pessachfest der orthodoxen Juden (Johannes!). Die Bibelautoren begingen also einen entscheidenden Fehler! Sie verwechselten die Feier der Essener mit der der orthodoxen Juden!

Wenn Sie die 21 Bilder des Altars in der Marktkirche von Hannover nacheinander betrachten, läuft vor Ihrem Auge so etwas wie ein Film ab. Sie erleben die Darstellung einer kurzen Phase von Jesu Leben, beginnend mit dem Einzug Jesu in Jerusalem. Von diesem Moment bis zum Tod am Kreuz vergingen maximal nur wenige Tage, eher nur Stunden.  Auf den »Einzug in Jerusalem« folgt die Vertreibung der Geldwechsler aus dem Tempel. Gehen wir davon aus, dass sich Jesus wirklich bei seinen Landsleuten so unbeliebt gemacht hat. Vor dem Pessachfest müssen Hunderttausende Juden in der Heiligen Stadt gewesen sein. Jesu rabiates Auftreten im Tempel konnte sehr leicht zu einem Aufstand führen, mussten die Römer befürchten. Von diesem Moment an musste Jesus jederzeit mit seiner Verhaftung durch die Römer rechnen, zum Beispiel beim »letzten Abendmahl«. Die Römer konnten sich auf ein gut organisiertes System von Spitzeln verlassen. Wenn sie Jesus für einen potentiellen Aufrüher hielten, dann wussten sie gerade in den Tagen des Pessachfestes genau, wo sich Jesus mit seinen Jüngern aufhielt.

Foto 5: Jesus wäscht seinen Jüngern die Füße

Auch bei der berühmten »Fußwaschung« (8) hätte jederzeit eine Spezialeinheit der Römer auftauchen können, um Jesus und seine engsten Vertrauten zu verhaften.

Wenn Sie die einzelnen Bilder des Altars studieren, können Sie sich strikt an die Texte der Evangelisten halten. Dann werden Sie mache Szene wiedererkennen. Aber sind die 21 Schnitzereien vom Altar wirklich nur Illustrationen zu einigen Texten aus den Evangelien? 

Fotos 6 und 7: Spazieren Sie in Gedanken durch das Bild..

Wie gesagt: Nehmen Sie sich Zeit und spazieren Sie in Gedanken durch die einzelnen Szenen. Haben Sie keine Angst vor eigenen Gedanken, die durchaus im Widerspruch zu den Evangelien stehen können. Bitte betrachten Sie sorgsam die Darstellung der Fußwaschung. Jesus wäscht einem der Jünger, vermutlich Petrus, die Füße.

Aber fällt Ihnen eine zweite Jesusgestalt auf? Der »zweite« Jesus gleicht dem ersten wie ein Zwilling dem anderen. Segnend hebt der zweite Jesus die Hand, so wie wir es aus schier endlos vielen sakralen Darstellungen kennen. Ein Beispiel von schier unendlich vielen: Der segnende Jesus vom Altarbild von Kirchbrak. Zwei Jesusse?? Was könnte das bedeuten? Gibt es versteckte Botschaften in sakralen Kunstwerken, die wir bis heute nicht wie ein Buch lesen können?


Fotos 8 und 9: Zwei »Jesusse« bei der Fußwaschung?


Fußnoten

Foto 10: Jesus segnet...
(1) Siehe Evangelium nach Matthäus Kapitel 26, Vers 22
(2) Siehe Evangelium nach Markus Kapitel 14, Vers 19
(3) Evangelium nach Markus Kapitel 14, Vers 12
(4) Siehe besonders:
Das Evangelium nach Johannes Kapitel 18, Vers 28
(5) Siehe »Traktat Sanhedrin«, Mischna 4,1
(6) Das Evangelium nach Markus Kapitel 14, Vers 13
(7) Siehe: Das Evangelium nach Lukas Kapitel 22, Vers 24
(8) Evangelium nach Johannes Kapitel 13, Verse 1-20

Zu den Fotos:

Foto 1: Das Heilige Abendmahl in der Marktkirche. Detailaufnahme Walter-Jörg Langbein
Foto 2: Keine Spur von den 3 Königen auf dem Altar. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 3: Abendmahl von Kirchbrak. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 4: Hier wurden die Heiligen Texte der Essener gefunden:
wiki commons (talk/ contribs)
Foto 5: Jesus wäscht seinen Jüngern die Füße.
Detailaufnahme Walter-Jörg Langbein
Fotos 6 und 7:Spazieren Sie in Gedanken durch das Bild..
Detailaufnahmen Walter-Jörg Langbein
Fotos 8 und 9: Zwei »Jesusse« bei der Fußwaschung?
Detailaufnahmen Walter-Jörg Langbein
Foto 10: Jesus segnet...Detailaufnahme Kirchbrak, Foto
Walter-Jörg Langbein


286 »Das Kreuz mit dem Prozess«
Teil 286 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                       
erscheint am 12.07.2015
 


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