Sonntag, 19. Juli 2015

287 »Das Geheimnis des Bluttuchs«

Teil 287 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein




Das Kirchlein von Urschalling
Das Kirchlein wirkt auf den ersten Blick unscheinbar. Wann genau der Grundstein gelegt wurde, ist nicht bekannt. Vermutlich wurde es im späten 11. Jahrhundert irgendwo im »Nirgendwo« am Chiemsee gebaut. Im späten 12. Jahrhundert gewann es an Bedeutung, als die Grafen von Falkenstein eine Kapelle für ihre »Zweitburganlage« suchten und sich schließlich für »St. Jakobus« entschieden.

Der herrlichen Malereien wegen reiste ich nach Urschalling. Die Fresken entstanden im 12., 13. Und 14. Jahrhundert. Zwischen dem 17. Und dem 19. Jahrhundert wurden die wertvollen Fresken wiederholt übertüncht und überkleistert. Warum? Störte man sich an der Dominanz der Frauen in den altehrwürdigen Darstellungen? Anno 1923 jedenfalls wurden sie durch einen Zufall wiederentdeckt. 1940 wurde mit ersten Restaurierungsarbeiten begonnen. Weitere aufwändige Kampagnen wurden in den folgenden Jahrzehnten durchgeführt, die »St. Jakobus« zu einer wichtigen Kirche machten, deren Malereien man wie ein Buch lesen kann.

Die mysteriöse Trinität (Urschalling)
Geradezu ketzerisch mutet die Darstellung der »Heiligen Dreifaltigkeit« für manche Zeitgenossen an. Wird die mysteriöse »Trinität« doch als Wesen mit drei Oberkörpern dargestellt: Gottvater, Sohn Jesus und in der Mitte – als Frau! – der »Heilige Geist«. Man müsste also konsequenter Weise von der »heiligen Geistin« sprechen, die im »Neuen Testament« vom Himmel kommt und über Jesus kommt (1). Im »Wörterbuch der feministischen Theologie« (2) lesen wir:

»Eine Sondertradition … hat sich um den Heiligen Geist gebildet: Schon das alttestamentliche Wort für Geist, ›Ruach‹, wurde in der weiblichen Form gebraucht, auch als Taubensymbol, zugleich Erossymbol, das auch den Göttinnen Aphrodite und Innana zugeordnet war, ist weiblicher Natur.«
Diese »Heilige Geistin« hat mich nach Urschalling an den Chiemsee geführt. Bei meiner nächtlichen Ankunft am damals gänzlich unbeleuchteten »Bahnhof« wäre ich fast vom abrupt endenden, ungesicherten Bahnsteig gestürzt. Nach einer erholsamen Übernachtung in einer kleinen, rustikalen Pension stand ich dann am Morgen allein im Kirchlein und staunte über die noch erhaltene Bilderflut an Wänden und Decke.

Nur wenige Stunden ist die einstige Wehrkirche geöffnet, dabei könnte ich tagelang im kleinen Gotteshaus von Bild zu Bild wandern und versuchen, die gemalten Darstellungen wie ein Buch zu lesen. Während ein geschriebener Text immer nur eine Lesart zulässt, können Gemälde auch vieldeutig sein.  Die »Heilige Geistin« zwischen Jesus und Gottvater bietet reichlich Raum für  Spekulationen. Im Gewölbe des Chors… eine wirklich mysteriöse Dreifaltigkeit mit weiblichem Anteil.

Das Antlitz Jesu von Urschalling

An der Nordwestwand des Chorjochs, über einem Fenster, breitet eine junge Frau ein Tuch aus. Darauf ist das Antlitz Jesu zu sehen. Wie das Bildnis aufs Tuch kam, das erzählt eine uralte christliche Legende, die schon seit dem 6. Jahrhundert im Abendland kursierte. Veronika wollte sich, so die Legende, von einem Maler ein Bildnis Jesu auf einem Tuch anfertigen lassen. Unterwegs traf Veronika Jesus, erzählte ihm von ihrem Vorhaben. Jesus ließ sich das Tuch geben und als er es zurückreichte, war darauf sein Antlitz zu sehen. In einer späteren, dramatischeren Form der Legende entsteht das Bildnis, als der geschundene Jesus zur Hinrichtungsstätte getrieben wird. Entkräftet von der Last des Kreuzbalkens bricht Jesus zusammen, Veronika reicht  ihm das Tuch. Dankbar trocknet Jesus sein Gesicht… und hinterlässt darauf das Abbild seines Antlitzes.

»vera ikon« (Marktkirche Hannover)
An der Nordwand des Chorjochs von Urschalling sehen wir Veronika, die das »Schweißtuch« mit dem Gesicht Jesu hält. Sie selbst tritt in den Hintergrund, das »vera ikon«, das »wahre Bild«, wird uns entgegengehalten. In der Marktkirche von Hannover, ebenso dem Heiligen Jakobus geweiht, wird das Geschehen auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte plastisch dargestellt. Jesus wankt förmlich unter der Last des Kreuzes. Um ihn zu verspotten, hat man ihm einen goldenen Königsmantel umgehängt. So sollte demonstriert werden, dass die Römer niemanden ungestraft davonkommen ließen, der sich als König der Juden bezeichnete. Ein römischer Soldat geht voran, zerrt Jesus an einem Strick hinter sich her.

Hinter Jesus ist eine Frau zu sehen, die der Prozession des Schmerzes folgt. Ich vermute, dass Jesu Mutter Maria gemeint ist. Begleitet wird sie von einem Mann, von dem nur ein kleiner Teil des Kopfes zu sehen ist. Es könnte sich um den Lieblingsjünger Jesu, also vermutlich um Johannes, handeln. Die beiden werden von einem weiteren römischen Soldaten angeschrien. Vorn links im Bild kniet eine junge Frau. Sie hat soeben das »Schweißtuch« erhalten. Im Verlauf der Jahrzehnte habe ich so manche Darstellung dieser Szene gesehen, nirgendwo war das Abbild Jesu auf dem Tuch so plastisch herausmodelliert wie im Schnitzwerk des Altars in der Marktkirche von Hannover. 

Das blutige Antlitz im Tuch ist genauso dreidimensional geschnitzt wie die Gesichter aller Akteure.Man könnte meinen, im Tuch liege ein abgeschlagenes Haupt... Wollte der Künstler betonen, dass seine Darstellung besonders realistisch sein soll, die Wirklichkeit in allen Einzelheiten wiederspiegelt?

Das Antlitz im Tuch (Marktkirche Hannover)
Eine Frage stellt sich nun: Ist die Geschichte vom »Schweißtuch der Veronika« nur eine für den Gläubigen erfundene, rein fiktive Geschichte ohne jeden realen Hintergrund? Michael Hesemann, er studierte Geschichte, Kulturanthropologie, Germanistik und Journalistik, ist überzeugt: Die Legende hat einen realen Hintergrund! Es hat existiert und es existiert noch heute. Bekannt ist die Reliquie als das »Schweißtuch von Oviedo«, auch »Santo Sudario von Oviedo« genannt. Das blutverschmutzte Leinentuch wird in der Kathedrale San Salvador in Oviedo, Spanien, aufbewahrt.

Es ist mehr als verblüffend: Es gibt Blutspuren auf dem sogenannten Schweißtuch von Oviedo, die den Verletzungen durch die Dornenkrone Jesu Christi zuzuordnen sind. Und die stimmen exakt mit jenen überein, die auf mysteriösen Turiner Grabtuchs ebenfalls von der Dornenkrone verursacht wurden.

Sollte es sich beim Bluttuch von Oviedo wirklich um eine echte Reliquie handeln? Michael Hesemann ist in seinem umfangreichen Werk über »Das Bluttuch Christi« (3) mit kriminalistischem Spürsinn eine überzeugende Indizienkette gelungen, vom Kreuz von Golgatha über die Abnahme des toten Jesu vom Kreuz bis hin zur Grablegung. Demnach umhüllten das »Schweißtuch von Oviedo« und das »Turiner Grabtuch« vor rund zwei Jahrtausenden Gesicht und Körper Jesu. Und in der Tat: Die Flecken auf beiden Tüchern rühren von denselben Wunden her. Wissenschaftlich exakt konnte der Tod des Mannes rekonstruiert werden, bis hin zur Grablegung.

Michael Hesemann (4): »Beide Tücher umhüllten den toten Körper desselben Mannes – und dieser Mann muss Jesus Christus gewesen sein. Selbst sein Antlitz konnte wissenschaftlich rekonstruiert werden. Stumme Zeugen der Passion beginnen jetzt zu reden.«

Mir kommt ein Zitat von Ralph Waldo Emerson (1803-1882) in den Sinn: »Selbstaufopferung ist das wirkliche Wunder, aus dem alle anderen Wunder entspringen.« Aber der vermeintlich wissenschaftlich geschulte Zeitgenosse lehnt den Glauben an Wunder ab. Dabei hat niemand einen so festen Glauben wie der Agnostiker. Ein Agnostiker glaubt, dass sein wissenschaftliches Weltbild Wunder ausschließt. Schade, dass er nicht erkennt, wie eng sein geistiger Horizont ist. »Wunder stehen nicht im Gegensatz zur Natur, sondern nur im Gegensatz zu dem, was wir über die Natur wissen.«, formulierte der Heilige Augustinus.

Leider halten Agnostiker, ob sie es zugeben oder nicht, ihr Wissen für allumfassend. Sie haben ein Defizit an Selbstkritik und leiden an Fantasielosigkeit.


Beisetzung Jesu (Marktkirche Hannober)
Fußnoten

(1) Evangelium nach Markus, Kapitel 1, Vers 11, sowie Evangelium nach Lukas, Kapitel 3, Vers 22 und Evangelium, sowie Evangelium nach Matthäus Kapitel 3 Vers 17
(2) Gössmann, Elisabeth, Moltmann-Wendel u.a. (Hrsg.): »Wörterbuch der feministischen Theologie«, Gütersloh 1991, S. 239
(3) Hesemann, Michael: »Das Bluttuch Christi/ Wissenschaftler auf den Spuren der Auferstehung«, München 2010
(4) ebenda, Text auf dem Buchcover hinten

Zur Lektüre empfohlen:

Badde, Paul: »Das Grabtuch von Turin oder das Geheimnis der heiligen Bilder«,
München 2010

Hesemann, Michael: »Das Bluttuch Christi/ Wissenschaftler auf den Spuren der Auferstehung«, München 2010

Schlömer, Blandida Paschalis: »Il Volto della Parola GESÙ/ Jesus - Das Gesicht
des Wortes«, Teramo 2010

Siliato, Maria Grazia: »Und das Grabtuch ist doch echt/ Die neuen Beweise/
Das Turiner Grabtuch ist 2000 Jahre alt«, Lizenzausgabe, Augsburg 1998

288 »Widersprüchliches in den Evangelien in Sachen Auferstehung«
Teil 288 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                       
erscheint am 26.07.2015

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