Montag, 27. Februar 2012

Twin-Pryx von John Asht

Würdigung eines Romans von
Walter-Jörg Langbein


Twin Pryx
Unzählige Wissenschaftler haben in den vergangenen Jahrhunderten eine nicht mehr zu überblickende Fülle an Wissen zusammengetragen. War einst der Universalgelehrte das Ideal schlechthin, so ist heute an die Stelle des »Genius universalis« der Spezialist getreten. Spätestens im 19. Jahrhundert begann auf allen Gebieten der Wissenschaften die Spezialisierung. War einst die Physik ein wichtiger Zweig von mehreren am »Baum der Erkenntnis«, so ist heute die Physik ein höchst komplexes Gebiet der Naturforschung, auf dem sich unzählige Spezialisten tummeln. Auch und gerade die moderne Physik verdeutlicht den Weg, den die Wissenschaften im Verlauf der vergangenen Jahrhunderte gegangen sind: vom möglichst umfassenden Gesamtbild zum immer kleiner werdenden Teilaspekt.

Einst war den Menschen die Natur rätselhaft. Naturphänomene wie Donner und Blitz wurden himmlischen Mächten zugeschrieben. Die Wissenschaften setzten auf Forschung und entschleierten das Geheimnisvolle. Sie entdeckten Naturgesetze, sie machten das Wirken von Göttern obsolet. Je mehr aber über die Struktur der Wirklichkeit bekannt wurde, desto geheimnisvoller erscheint die Realität. Die heutige Quantenphysik, zum Beispiel, sprengt schon längst die menschliche Vorstellungskraft. Was sind Quanten? Warum agiert das gleiche Objekt mal wie ein Teilchen, mal wie eine Welle?

Vor Jahrtausenden unterschied man zwischen dem allgemein zugänglichen Wissen (»Exoterik«) und den Erkenntnissen, die nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten zugänglich sind (»Esoterik«, inneres Wissen). Die moderne Wissenschaft entwickelt sich wieder zur Esoterik. So ist die moderne Quantenphysik heute (nach der ursprünglichen Definition des Begriffs) esoterisch. Bislang sind alle Versuche gescheitert, eine nachvollziehbare Theorie für alle in der Realität wirkenden Kräfte zu formulieren.

Unzählige Wissenschaftler haben umfangreiches Wissen erarbeitet, sich dabei immer stärker spezialisieren müssen. Sie scheiterten aber bislang beim Versuch, so etwas wie eine universelle, allgemeingültige Weltformel zu entdecken.... nach der immer noch gesucht wird. Gibt es so etwas wie eine Kraft, die alle Erscheinungsformen der Wirklichkeit erklärt? Gibt es so etwas wie ein Naturgesetz, das die Realität in ihrer unüberschaubaren Komplexität wirklich verständlich macht?

So lange es keine einheitliche Theorie aller Grundkräfte gibt, sind Philosophen gefordert... oder Schriftsteller.

Seit mehr als drei Jahrzehnten erkunde ich die Welt, bereise stets auf den Spuren der großen Geheimnisse unseres Planeten. In dreißig Büchern habe ich vor allem das Geheimnisvolle und Rätselhafte beschrieben. Ich habe mich – auch – mit der alten Tradition der Esoterik auseinander gesetzt. Gibt es Zusammenhänge, gibt es Verbindungen zwischen scheinbar voneinander unabhängigen Geschehnissen? Gibt es so etwas wie Schicksal? Gibt es wirklich die Freiheit des Individuums, eigene Entscheidungen zu treffen? Oder gibt es so etwas wie eine höhere Macht, die uns Menschen lenkt.... wie Marionetten? Unzählige Fragen warten auf Antworten. Gibt es die eine Antwort auf alle Fragen, die von den Quantenphysikern gesucht wird?

Ich lese in erster Linie Fachliteratur, nur ganz selten Romane. John Asht ist nun ein fulminanter Roman gelungen, der mich von der ersten bis zur letzten Zeile in seinen Bann gezogen hat. Warum? Sein Werk lässt sich nicht in eine der bei uns Deutschen so beliebten Schubladen einordnen. Es ist wie ein Werk von Jules Verne, das uns um die Welt zu fantastischen Schauplätzen führt. Es ist wie ein Werk von Hans Küng, das uns religiöse Hintergründe erklärt. Es ist wie ein Kompendium der Esoterik, das uns in die Welt der unsichtbaren Kräfte einführt. Es ist ein Buch, das in einer komplexen Handlung die Grenzen zwischen Realität und Phantasie verschwimmen lässt. Es ist ein Buch, das uns zum Nachdenken anhält: über die Wirklichkeit hinter der scheinbaren Wirklichkeit... und das auf unterhaltsame, spannende Art und Weise.

Um zu erkennen, wie hintergründig »Twin-Pryx« von John Asht ist, muss man aber die Bereitschaft mitbringen, sich wirklich auf diesen »fantastischen Abenteuerroman« einzulassen. Um »Twin-Pryx« wirklich auch nur ansatzweise verstehen zu können, muss man die mehr als 900 Seiten wirklich gründlich lesen, ja studieren... ja mehrfach auf sich wirken lassen.

Mich jedenfalls hat John Ashts Gesamtszenario gefesselt, mehr als jedes wissenschaftliche Werk, mehr als jede philosophische Abhandlung, mehr als jede religiöse Diskussion. Mich hat die Fülle begeistert, die »Twin-Pryx« bietet.. die Fülle an Denkanstößen, die Fülle an Gedanken zur Wirklichkeit, die Fülle an fundiertem Wissen aus unterschiedlichsten Quellen... von den verbotenen Büchern der Apokryphen bis zu den Legenden der Kelten, von der Apokalypse der Bibel bis zur Esoterik der »Alten Ägypter«.

John Ashts »Twin-Pryx« ist ein spannender Roman, der das Zeug dazu hat, unzählige Diskussionen anzuregen, etwa über den Sinn des Lebens. Damit der Roman diese erfreuliche Wirkung entfalten kann, damit man den tieferen Inhalt dieses Romans erkennen kann... muss man sich allerdings auf »Twin-Pryx« einlassen. Man muss das opulente Werk wirklich gründlich lesen.

Damit sind aber, so fürchte ich, in unserer Welt der schlichten Fernsehunterhaltung viele Zeitgenossen überfordert. Das aber darf man dem Roman nicht anlasten!

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Sonntag, 26. Februar 2012

110 »Geheimnisvolles Opunohu-Tal«

Teil 110 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein


Im Opunohu-Tal haben sich deutliche Spuren einer alten Kultur erhalten. Warum entgingen sie der Zerstörungswut der Missionare? Der aufmerksame Besucher erkennt an vielen Stellen im Unterholz spärliche Reste der ursprünglichen Bauten. Kleine, oft nur wenige Handbreit hohe Mäuerchen zeigen an, wo einst eine mächtige Anlage stand. Kleine Mäuerchen umgeben den einen oder den andern Baum. Bäume haben sich da und dort durch steinerne Plattformen gesprengt. Und da und dort ragen einzelne Steine empor.

Baum durchbricht sakrales Pflaster
Foto: W-J.Langbein
Und es gibt – anders als auf der Hauptinsel Tahiti – im manchmal märchenhaft-düsterem Kastanien-Wald erstaunlich gut erhaltene Ruinen aus »heidnischer Zeit«. Sie wurden teils von Archäologen rekonstruiert ... teils von Einheimischen gepflegt. Nach wie vor gilt das Opunohu-Tal als heilig. Allen Bemühungen der Missionare zum Trotz leben alte Kulte auch heute noch weiter!

»Hier wimmelt es von Moskitos!«, schimpfe ich vor mich hin. »Die Biester stürzen sich wohl auf jeden Besucher!« Ich hole eine Dose Antimückenspray aus meinem Rucksack, verabreiche mir eine stinkende Dusche. Ich habe verschiedene Mittel dabei – Sprays, Tinkturen, Salben. In der Fachliteratur wurde vor den Minivampiren gewarnt. Wirkung zeigen einige der Mittel: Sie verursachen bei mir Kopfschmerzen. Bei den Quälgeistern versagen sie kläglich. »Viele Besucher kommen hier nicht her ...« lacht mein Taxifahrer. »Die Moskitos schützen die Steine von Titiroa!«

Ich entdecke eine stark verschmutzt »Anschauungstafel«. Sie zeigt den Versuch einer Rekonstruktion der heiligen Anlage. Was ist Fantasie, was fundiertes Wissen? Niemand vermag das zu sagen! Marae Titiroa muss einst wirklich sehr imposant gewesen sein. Auf der Rekonstruktion erscheint Marae Titiroa als komplexe Anlage.

Versuch einer Rekonstruktion
Foto: W-J.Langbein
Die steinerne Mauer wurde vor rund einem halben Jahrhundert restauriert. Im Inneren gab es einst eine massive steinerne Plattform, die den Göttern und den Geistern der verstorbenen Ahnen vorbehalten waren. Das war das Allerheiligste. Auf Altären unterschiedlicher Größe wurde den Göttern geopfert: Hunde, Schweine und Fische auf größeren Altären, Früchte auf kleineren. Auch Menschen sollen rituell getötet worden sein ... zu Ehren der Götter.

Auf hölzernen Stangen, so versicherte mir ein Archäologe vor Ort, hielt man symbolische hölzerne »Vögel« in die Luft ... die Boten zwischen Göttern und Menschen, also Engel im biblischen Sinn. Trommeln von beachtlicher Größe standen in einer Ecke der Mauer. Ihre durchdringenden Klänge sollten die Götter erreichen. Ein verschmutztes Bild soll verdeutlichen, wie diese sakralen Musikinstrumente einst aussahen.

Einst schlugen Priester
mächtige Trommeln
zu Ehren der Götter
Foto: W-J.Langbein
In tragbaren »Bundesladen« wurden heilige Kultobjekte befördert: wahrscheinlich von überdachten Bauten außerhalb des Marae ins Zentrum der Kultanlage und zurück. Diese Kult-Hütten mögen auch zur Vorbereitung der Menschenopfer gedient haben. Nur zu besonderen Festlichkeiten wurden – womöglich in einer der Hütten außerhalb des Heiligtums – Männer (und ausschließlich nur Männer!) getötet und dann an Stangen gebunden zum Altar getragen. Nach anderen Berichten wurde die Männer auf die Plattform gelegt, wo ihnen mit einer gewaltigen Keule der Schädel zertrümmert wurde.

Mag sein, dass es als besondere Ehre galt, so einem Gott wie Oro »geschenkt« zu werden. Oro war der Hauptgott von Tahiti und Moorea ... der Gott des Krieges, aber auch des Meeres und der Fruchtbarkeit.

»Oro kam von der Südseeinsel Raiatea ...« erklärt der kundige Taxifahrer. »Dort wurde er als der größte Gott überhaupt verehrt ... als der große Schöpfer!« Die Vertreter des ranghöchsten Adels sahen sich gern als Nachkommen Oros. Auf Bora Bora, so wird überliefert, fand Oro eine wunderschöne Frau. Er beobachtete sie, als sie nackt badete ... und war sehr angetan! So kam er tagtäglich vom Himmel herab ... auf einem Regenbogen. Er landete auf dem mächtigen Pahia-Berg. Und jeden Abend stieg er wieder in den Himmel empor.

Tagtäglich besuchte er Vairaumati, so hieß die schöne Auserwählte. Und die verliebte sich in den kraftstrotzenden Mann. Das blieb nicht ohne Folgen. Sie, das schöne Erdenmädchen, gebar ihm, dem himmlischen Gott, einen Sohn. Der wurde ein mächtiger Krieger. Oro selbst kehrte in Gestalt einer Flamme in den Himmel zurück. Vairaumati wurde zur Göttin. Götter, die vom Himmel kamen und sich eine schöne Frau zur Gemahlin nahmen ... das ist ein weit verbreitetes Motiv in der Südsee.

Gott Oro
Foto: American
Das »Metropolitan Museum« besitzt einen Oro. Die längliche Statue besteht aus einem hölzernen Kern, der mit geflochtenen Kokosfasern umwickelt wurde. Einst verliehen dem Bildnis seltene Vogelfedern magischen Zauber. Es war somit nicht nur eine plastische Darstellung des Gottes, sondern ein heiliges Objekt der Verehrung!

Stundenlang erkundete ich die Maraes im Opunohu-Tal. Stets verfolgten mich dabei bissige Moskitoschwärme. War es immer der gleiche? Oder hatte jeder Schwarm sein Territorium? Obwohl ich vorsorglich lange Hosen und ein langes Hemd angezogen, mich zudem intensivst mit Moskito-Hau-Ab-Spray eingenebelt hatte ... ließen die Attacken der blutdürstigen Biester nicht nach. »Keine Angst!« beruhigte mich mein Taxifahrer, wenn ich mal wieder wild um mich schlug. »Wir haben hier keine Malaria!«

Mich erinnerte die Bauweise auf Moorea bei verschiedenen »Sakralbauten« ... an die mysteriösen Monstermauern von Nan Madol. In beiden Fällen wurden Basaltsäulen dazu verwendet, in Blockhüttenbauweise Mauern zu errichten. Offenbar gab es in beiden Fällen diese wie künstlich wirkenden Basaltsäulen, die aber in vulkanischen Regionen von der Natur geliefert werden. Man muss sie nur noch »ernten«, auf die gewünschte Länge bringen und zur Baustelle transportieren ... In Blockhütten-Bauweise wurden sie aufeinander geschlichtet und trotzen so viele Jahrhunderte dem Zahn der Zeit.

In Nan Madol wie im Opunohu-Tal ist die Bauweise gleich. Allerdings wurde auf Moorea bei weitem nicht der Gigantismus von Nan Madol erreicht!


Nan Madol (rechts) und
Moorea (links)
Fotos: W-J.Langbein
Stundenlang durchstreife ich das Opunohu-Tal. Ich kroch unter Gestrüpp, stieg über umgestürzte Bäume ... immer auf der Suche nach versteckten Spuren der »Heiden«. Überwuchert von Kastanienbäumen und Gestrüpp entdecke ich immer wieder steinerne Zeugnisse.

Sorgsam gepflasterte Areale dienten angeblich den Vornehmen von einst als Übungsplätze für das Bogenschießen. Offenbar durften nur Ranghohe diesem Sport frönen. Oder war es mehr als nur ein Sport? War es ein sakrales Ritual zu Ehren der Götter? Wir wissen es nicht mehr. Den Missionaren war das alte Brauchtum nur verachtenswertes heidnisches Gräuel. Es galt, die Erinnerung daran auszulöschen, dem aktiven fremden Glauben ein Ende zu setzen.
Und immer wieder mache ich senkrecht stehende Steine aus ... vor Jahrhunderten aufgestellt. Einige waren umgefallen ... oder umgestoßen worden. Andere standen noch aufrecht. »Es sind Denkmale, die zu Ehren der Götter errichtet wurden!«, erfahre ich vom Taxifahrer. Ein Geistlicher auf der Fähre erklärt mir bei der Rückfahrt nach Tahiti: »Es sind Grabsteine ... Je nach Größe verweisen sie auf einen hochrangigen Adeligen oder auf einen einfachen Menschen.«

Steine von Titiroa
Foto: W-J.Langbein
»Es ist ein Segen ...«, seufzte der Geistliche, »dass es noch so gut wie keine Grabräuberei gibt! Sonst wären die Steine längst umgestoßen, die Gräber geschändet worden! Ich kann mir eine bissige Antwort nicht verkneifen: »Es ist ein Segen, dass auf Moorea überhaupt noch Zeugnisse aus ›heidnischer Zeit‹ erhalten geblieben sind ...« Traurig nickt der Priester: »Ja ... Es ist eine Schande, dass Missionare beider christlichen Konfessionen so wenig Achtung vor den Zeugnissen der älteren Kultur hatten ...« Ich frage den Geistlichen: »Oder lebt der alte heidnische Glaube weiter? Beten die Menschen nach wie vor zu den alten Göttern, auch wenn sie sonntags in die Kirche gehen?« Der Gottesmann erhebt sich grimmigen Blicks und sucht sich einen anderen Platz.

Die Kirchen haben bei den staatlichen Behörden ein Verkaufsverbot alkoholischer Getränke bewirkt ... aus gesundheitlicher Fürsorge? Wohl kaum! Viele Jugendliche machten sonntags Picknicks mit Musik und Trinkgelagen. Seit dem Alkoholverbot gehen wieder einige von ihnen sonntags ... in die Kirchen.


Abschied von Moorea
Foto: W-J.Langbein
»Die Monsterbauten von Malta«,
Teil 111 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 04.03.2012


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Samstag, 25. Februar 2012

Karl May zum 170. Geburtstag

Eine Würdigung von Walter-Jörg Langbein

Unterschrift Karl Mays
Er wurde am 25. Februar 1842, spät abends gegen 22 Uhr geboren. Wohl weil seine Eltern befürchteten, der kleine Säugling würde womöglich schon bald sterben ... wurde das neugeborene Baby bei eisiger Kälte schon am nächsten Tag zur evangelisch-lutherischen Kirche St. Trinitatis in Ernstthal getragen und getauft. Wurden die Augen des kleinen Buben auf dem Weg zum Gotteshaus durch die »arktischen« Temperaturen so geschädigt, dass er bald darauf erblindete? Oder führten Mangelernährung und nicht ausreichende Hygiene zur Erblindung des kleinen Carl Friedrich May?

1842 und 1843 bestimmte Hungersnot das Leben der Menschen in Hohenstein-Ernstthal. Die Lebensbedingungen für die Weber waren schon in »guten Zeiten« ärmlich, 1842 und 1843 waren sie katastrophal. Infektionen und durch Vitaminmangel ausgelöste Krankheiten waren nicht die Ausnahme, sondern die Regel!

Carl Friedrich May jedenfalls erblindete. Einen guten Arzt konnte sich die armen Webersleute nicht leisten. Der blinde Bub wächst bei seiner Großmutter väterlicherseits, bei Johanne Christine May, auf. Sie liest ihm Märchen vor. Legt die greise Frau so den Grundstein für Karl Mays überschwängliche Fantasie?

Das Karl-May-Haus einst und heute
Foto links: Karl-May-Gesellschaft
Foto rechts: Tkarcher
1846 legt Karl Mays Mutter Christiane Wilhelmine May die Hebammenprüfung ab. »Vorzüglich gut« steht in ihrem Zeugnis. Und Carl Friedrich May erhält endlich – nach Jahren der Blindheit – an der »Chirurgisch-Medizinischen Akademie« zu Dresden das Augenlicht zurück. Er muss das Sehen wieder mühsam lernen. Und der kleine Carl Friedrich May kehrt in die Obhut der Eltern zurück. Mays Vater, der Weber Heinrich August May, schätzt drakonische Strafen. Er verdrischt seine Kinder mit dem »birkenen Hans«, den er vor der Züchtigung vorsorglich im »Ofentopfe« einzuweichen pflegt. So wird er elastischer, die Bestrafung fällt noch schmerzhafter aus. Nicht weniger gefürchtet war bei Carl und seinen Geschwistern ein »dreifach geflochtener Strick«, der griffbereit am Webstuhl hängt.

So wurde Carl Friedrich May vor 170 Jahren in eine Welt des Elends und der bitteren Armut geboren. Er ist die ersten Lebensjahre blind, lernt Hunger, Märchen und Schläge kennen. In Hohenstein-Ernstthal verhungern immer wieder Menschen.

Am 27. April 1848 wird Carl Friedrich May eingeschult. An der »Ernstthaler Knabenschule« muss ein Lehrer bis zu 100 Buben in einer Klasse »betreuen«. Mays Vater beschließt, den Schulunterricht durch ein eigenes »Erziehungsprogramm« zu ergänzen. Er schafft so viele Bücher wie nur möglich heran, die er wahllos zusammensucht ... wissenschaftliche Werke über Chemie, die der kleine Carl Friedrich nicht versteht, geographische Beschreibungen, mathematische und statistische Sammlungen, die längst schon überholt sind ... historische Traktate und erbauliches Schrifttum.

Carl Friedrich muss lesen, lesen, lesen. Und er muss sinnlose Fakten auswendig lernen. Sein Vater zwingt ihn, ganze Folianten Wort für Wort abzuschreiben ... um ihm das Lernen zu erleichtern. Carl soll es einmal besser haben als sein Vater. Er soll einen Beruf ergreifen können, der zumindest ein solides Auskommen ohne Not ermöglicht. Es gibt für Carl einen Ausgleich: Sein Patenonkel, der weit gereiste Schmied Christian Weißpflog (1819-1894), erzählt. Als Wanderbursche, so heißt es, sei er weit in der Welt herumgekommen. Ist es der Patenonkel, der in Carl Friedrich May die Sehnsucht nach Abenteuern in fernen Ländern weckt? Regte der Patenonkel die Fantasie des kleinen Carl Friedrich May an ... die Karl May Jahrzehnte später in seinen Romanen Wirklichkeit werden ließ ... etwa als Kara Ben Nemsi, der in der arabischen Welt Abenteuer erlebte, begleitet von seinem treuen Gefährten Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah?

Karl May als
Kara Ben Nemsi
1899 schildert May seinen Patenonkel als »kleines schwächliches Männlein mit weißen Locken«, der Carl Friedrich und andere Kinder mit seinen wohl oft fantastischen Erzählungen begeistert. 1899 notierte May (1): »Alles, was er berichtete, lebte und wirkte fort in uns.«

Carl Friedrich May konstatiert 1899: »Was kein strenger Lehrer, kein strafender Vater bei uns erreichte, das erreichte er so spielend leicht durch die Erzählungen von seiner Wanderschaft. Er hat seine letzte Wanderung schon längst vollendet; ich aber erzähle an seiner Stelle weiter.« In Mays Autobiographie »Mein Leben und Streben«, die 1910 erscheint, wird man freilich vergeblich nach einem Hinweis auf den Patenonkel finden. Warum? Warum verschweigt May in seiner Autobiographie den Mann, der seinen Werdegang so entscheidend prägte?

Carl Friedrich May, so scheint es, wird es einmal besser haben als seine Eltern. Er wird nicht zu einem Hungerlohn als Weber schuften müssen ... sondern als Lehrer ein – wenn auch kärgliches – Gehalt beziehen dürfen. Es grenzt schon an ein Wunder, dass Carl Friedrich May eine »höhere Schulausbildung« zuteil wird. Aber immer wieder sind es Lappalien, die May aus der Bahn werfen. 1859 ist May »Seminarist« in Waldenburg. May hat das Amt des »Lichtwochners« inne. Ihm obliegt es, den Weihnachtsbaum des Instituts mit frischen Kerzen zu versehen, sobald Wachslichter herabgebrannt sind. Carl Friedrich May »veruntreut« einige Wachskerzen, die er offenbar seinen Eltern schenken möchte. Der »kriminelle Akt« wird am 21. und 22. Dezember 1859 – nach einer Denunziation durch Mitschüler – von Seminardirektor Schütze höchstselbst untersucht. Konsequenz: Am 28. Januar 1860 wird der 17-jährige May vom Seminar ausgeschlossen.

Früheste bekannte
Aufnahme von Karl May,
1875 - Tamarin
Seminardirektor Schütze bedauert bald darauf seine übermäßig strenge Reaktion und unterstützt ein Gnadengesuch für May beim sächsischen Kultusministerium ... vergeblich, wie es scheint. Dann aber darf Carl Friedrich May seine Lehrerausbildung in Plauen fortsetzen. Er besteht die dreitägige Abschlussprüfung mit der Note »gut«. Wieder scheint es bergauf zu gehen. May erhält eine Anstellung als »Hilfslehrer« in Glauchau, doch er wurde von seinem Zimmervermieter Ernst Theodor Meinhold bei einer »unsittlichen Annäherung« ertappt. Grund: May gab damals der Ehefrau seines Zimmervermieters Klavierunterricht ... und küsste die Neunzehnjährige.

Fast möchte man an so etwas wie eine »Schicksalsmacht« glauben, die immer wieder verhindert, dass der aus ärmsten Verhältnissen stammende Sohn einer Familie von Webern eine bürgerliches Leben führen darf. Oder sind es Vorurteile von Vorgesetzten und Amtspersonen, die May immer wieder für Lappalien drakonisch bestrafen? Auch seine nächste – und letzte – Anstellung als Lehrer verliert May wegen eines Bagatelldelikts. Er unterrichtet Anfang November in Altchemnitz als Fabriklehrer bei Firma Solbrig. Man quartiert ihn bei Julius Hermann Scheunpflug ein, er muss »Logis, Stube und Schlafstube« mit dem Buchhalter teilen.

Wieder wird eine Lappalie May zum Verhängnis. Scheunpflug hatte May seine alte Taschenuhr leihweise für den Unterricht zur Verfügung gestellt. Am Heiligen Abend des Jahres 1861 reiste May nach Schulschluss per Bahn direkt zu den Eltern ... und nimmt die geliehene Uhr mit. May wird verhaftet, kommt vor Gericht und wird zur Höchststrafe von sechs Wochen verurteilt. May erhält auf Lebenszeit Berufsverbot als Lehrer. May beginnt eine »Laufbahn als Krimineller«. Er fühlt sich von der Gesellschaft zu Unrecht als »Verbrecher« abgestempelt ... und will sich nun als »Verbrecher« an der Gesellschaft rächen. Er bringt es allerdings – aus heutiger Sicht – nur zu einem eher harmlosen Trickbetrüger. Hier ergaunert er sich als »Kupferstecher Hermes« (Hermes: Schutzgott der Diebe und Händler) einen Biberpelz, dort entwendet er einige Billiardkugeln.

Schloss Osterstein in Zwickau,
Zeichnung, um 1863-1865
Mays Taten erinnern mich eher an Friedrich Wilhelm Voigt, den legendären »Hauptmann von Köpenick«, als an Verbrechen. So forscht er als »Polizeileutnant von Wolframsdorf aus Leipzig« nach vermeintlichem Falschgeld ... und »beschlagnahmt« kleinere Beträge. Wiederholt schlagen Mays Versuche fehl, sich als Krimineller zu bereichern. Die Haftstrafen indes fallen immer drastischer aus. So verurteilt ihn das »Bezirksgericht Leipzig« wegen »mehrfachen Betrugs« zu vier Jahren und einem Monat Arbeitshaus. May muss sie als »Häftling Nr. 171« in »Schloss Osterstein« verbüßen.

In »Schloss Ostersein« arbeitet Carl Friedrich May in der Gefangenenbibliothek ... und entdeckt seine schriftstellerischen Fähigkeiten. In der Haft verfasst May literarische Entwürfe. In der Gefangenschaft träumt er sich eine Zukunft als Schriftsteller. Doch der Weg ist für Carl Friedrich May noch weit: von der Zuchtanstalt »Schloss Osterstein« über »Zuchthaus Waldheim« bis in die »Villa Shatterhand« als wohlhabender Bestsellerautor Dr. Karl May.

Am 25. Februar 1842, spät abends gegen 22 Uhr, wird Carl Friedrich May geboren ... in bitterer Armut. Sein Weg in eine bürgerliche Existenz scheitert. Der entbehrungsreiche Versuch, als Lehrer ein Leben ohne Not zu führen, scheitert. Carl Friedrich May wird wiederholt straffällig und als kriminelles Subjekt zu fast zehn Jahren Haft verurteilt. Der »Schaden«, den er als »Verbrecher« verursachte, dürfte keine 500 Euro betragen haben.

Lange hat es den Anschein, dass Carl Friedrich May sein Leben endgültig verpfuscht hat. Und doch gelingt es ihm, seinem elenden Leben zu entkommen: mit der Kraft seiner unbändigen Fantasie. Karl May wird zum verehrten und bewunderten Bestsellerautor, der in »Villa Shatterhand« ein Leben in Wohlstand genießen kann.

Villa Shatterhand in Radebeul
Foto: Walter-Jörg Langbein
Vor 170 Jahren wurde Karl May geboren. Der Weg aus der Armut zum erfolgreichsten Schriftsteller deutscher Sprache war ein sehr weiter. Für den armen Weberssohn war der Weg zum Starautoren in der Villa Shatterhand auch nicht weiter als bis zum Mond ... (2)





Fußnoten
1: »May gegen Mamroth«, Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1974
2: Empfehlenswert ist Karl Mays Autobiographie


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Sonntag, 19. Februar 2012

109 »Marae Titiroa«

Teil 109 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein


Moorea
Foto: Ian Sewell
Der moderne Mensch hat auch in der Südsee keine Zeit. Und so entscheidet er sich gern für das schnellste Verkehrsmittel, um die 17 Kilometer »lange« Strecke von Papeete nach Moorea zu überbrücken: Maximal zehn Minuten dauert der Flug. Allerdings muss man die Zeit addieren, die man schon vor dem Start auf seinen Flieger warten muss. Das Gepäck muss aufgegeben ... und nach der Landung wieder in Empfang genommen werden. So dauert die modernste Verbindung insgesamt länger als die »langsamste«. Zwei Alternativen gibt es: das schnelle Motorboot (ca. 30 Minuten Fahrtdauer) und ... die gemütliche Fähre.

Das schnelle Motorboot wird von Umweltschützern ungern gesehen. Wiederholt wurden Verbote ausgesprochen, durften die luxuriösen Flitzer nicht in See stechen. Ich meine: Ihr knatternder Lärm passt nicht in das Südseeidyll von Tahiti und Moorea. Ich habe mich für die »träge« Fähre entschieden, die eine Stunde benötigt ... und dafür eine Mini-Seereise bietet ... mit geradezu romantischem Südseeflair! Lachende Kinder sausen umher. Müde Einheimische sitzen auf prall gefüllten Säcken. Sie haben in Tahiti eingekauft. Da sind die Preise günstiger als auf Moorea. Die Fahrt vergeht mir viel zu schnell, wie im Flug ... und schon taucht Moorea auf.

Rucksacktouristen im Paradies
Foto: W-J.Langbein
Blauer Himmel spiegelt sich in blauem Meer. Dazwischen strahlt das kleine Eiland förmlich in sattem Grün ... meistens jedenfalls! Denn manchmal ist der Himmel auch bedeckt. Und je näher man dem Eiland kommt, desto düsterer wirken die imposanten Vulkanberge. Am Himmel zieht ein Jet seine Bahn und hinterlässt einen Kondensstreifen.

Dunkel und schroff ragen sie in den Himmel, scheinen eine gigantische Monstermauer zu bilden. Was mag den Besucher hinter der riesigen Bergkette erwarten ... die einst todbringende Lavamassen in den Himmel spien? Alles ist real, auch wenn manches wie eine für viel Geld geschaffene Filmkulisse wirkt. Die Sonne brennt stechend vom babyblauen Himmel ... bis plötzlich Wolken über der Insel aufziehen und das üppige Grün irgendwie gespenstisch aussehen lassen.

Mir kommt es so vor, als wäre die Insel von Kino-Monster »King Kong« mein Ziel.  Das Gebirge wächst wie eine Mauer aus hartem Basalt zum Himmel. Was mag mich dahinter erwarten? Städte gibt es im Südseeparadies Moorea mit seinen herrlichen weißen Stränden, »glasklaren« Lagunen und üppigster Vegetation keine. Allerdings erkenne ich auf den wogenden Wellen einen seltsamen bräunlichen Schaum und einiges an Zivilisationsmüll. Konservendosen schaukeln hier. Dort schwimmt ein Toilettendeckel. Zum Baden habe ich aber sowieso keine Zeit ... Mein ausgeklügelter Reiseplan sieht leider nur einen mehrstündigen Aufenthalt vor ... Dann muss ich mit der Fähre zurück nach Tahiti. Und so nehme ich mir am Fähr-Hafen ein Taxi ... und los geht’s.

Gut erhaltene Marae auf Moorea
Foto: W-J.Langbein
Vom Hafen aus folgen wir der Küstenstraße. Mangobäume gedeihen prächtig. Ein blechernes Schild kündigt das Dorf »Honu Iti« an. »Das bedeutet ›kleine Schildkröte‹« erklärt der Taxifahrer. Von Ferne winken einige strahlend fröhliche Frauen, schwere Lasten schleppend ... und dennoch bester Laune. Die Freundlichkeit der Menschen macht Moorea erst zum Paradies. Ob für sie der oft schwere Alltag manchmal unerträglich wird? Wenn ... dann zeigen sie es nicht.

»Sie sind aus Deutschland?« fragt mich der Taxifahrer. Als ich nicke, lacht er: »Wir leben hier im Paradies! Nicht im German Schlaraffenland ... Wir müssen arbeiten!« Dann und wann überholen wir schwitzende Rucksacktouristen, die sich die Vulkanberge hinauf quälen. Manche von ihnen recken die Faust gen Himmel und schreien etwas von »Scheiß Touristen« hinter meinem gemächlich fahrenden Taxi her ... so als seien sie selbst keine Touristen.

Wir nähern uns dem Opunohu-Tal. »Gleich sehen Sie die mysteriösen Maraes!« erfahre ich. Maraes sind Kultstätten der vorchristlichen Zeit. In der Regel waren es komplexe Anlagen, rechteckig angelegt, von einer steinernen Mauer umgeben. Im Inneren der Mauer gab es altarähnliche Steinplattformen. Auf Tahiti gab es einst pyramidenförmige »Plattformen«. Sie wurden im Rahmen der Christianisierung verwüstet und zerstört. Aber auch auf Moorea wirkten religiöse Eiferer.

Rituelle Plattform von Moorea
Foto: W-J.Langbein
So gab es an der Nordküste Mooreas im Dörfchen Papetoai einen beeindruckenden Kultplatz. Die christlichen Geistlichen der »London Missionary Society« zerstörten ihn und errichteten (1822-1827) darauf eine achteckige Kirche ... Gleichzeitig wurde alles in christlichen Augen »Unsittliche« verboten – wie die traditionellen Tänze. Paradiesische Lockerheit wurde zur sündhaften Lasterhaftigkeit erklärt. Sonntägliche Gottesdienstbesuche wurden zur Pflicht ... der Besuch von Maraes wurde verboten. Und weil diese Kultanlagen auf Tahiti trotzdem anziehend für die Menschen waren ... wurden sie planmäßig zerstört. Auf Moorea blieben einige erhalten ...

In donnernden Predigten wurden den Menschen grässliche Konsequenzen ihres traditionellen Lebenswandels vor Augen gehalten. Ihr natürlicher Umgang mit Sexualität wurde zur verdammenswerten Sündhaftigkeit, die direkt in die Hölle führte ... Mein Eindruck: Die Menschen von Tahiti wurden mit drastischen Schilderungen zu erwartender Höllenqualen ... aus dem Paradies vertrieben. Paradiesische Unschuld galt von nun an als teuflisches Laster.

Marae von Titiroa
Foto: W-J.Langbein
Das Opunohu Tal war wohl einst so etwas wie ein religiöses Zentrum. Religiös-sakrale Anlagen und steinerne Plattformen, aber auch Wohnhäuser standen dicht an dicht. 500 Bauten sind archäologisch nachweisbar. Einst lebte hier eine Gemeinschaft ... bis ihr hochentwickeltes Gesellschaftssystem von den Missionaren zerstört wurde. Die kulturellen Wurzeln wurden von Eiferern gekappt ... die Tendenz zum »tröstenden Alkohol« wuchs. Mir scheint: die Missionierung war für die Menschen von Moorea alles andere als segensreich. Das einst heilige Tal wurde nach und nach geräumt. Die Natur überwucherte rasch die einstmals heiligen Plätze. Manche wurden zerstört und »landwirtschaftlich genutzt«.

Gezielt wurde das uralte Erbe der Insel zerstört. Die alten Überlieferungen, einst ehrfurchtsvoll von Generation zu Generation weiter gereicht, wurden verboten. Die Menschen im Paradies der Südsee verloren ihre Wurzeln, ihre Identität.

Die Bücher von Walter-Jörg Langbein

»Geheimnisvolles Opunohu-Tal«,
Teil 110 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 26.02.2012


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Sonntag, 12. Februar 2012

108 »Die Steine von Moorea«

Teil 108 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein

Pyramiden als künstliche
Vulkane - Foto: W-J.Langbein
Nach wie vor rätselhaft ist die Entstehung von Pyramiden-Kulten. Ob es eine Beziehung zwischen Vulkanismus und Pyramidenbau gibt? Die Sonnen- und die Mondpyramide der mexikanischen »Straße der Toten« könnten ursprünglich Tempel eines längst vergessenen Kults gewesen sein ... zur Beschwichtigung der Götter, die die glutheiße Lava aus dem Erdinneren in die Atmosphäre spuckten. Menschenopfer auf diesen Pyramiden mögen dann Geschenke für die Götter gewesen sein: »Seht, Ihr mächtigen Götter! Hier bieten wir Euch Blut und Leben vieler Menschen ... Nun müsst Ihr die Höllenglut nicht ausbrechen lassen, um Euch Opfer zu holen!«

Tahiti gehört zu den »Inseln über dem Wind« im südlichen Pazifik ... ein Doppeleiland, bestehend aus »Tahiti Nui« und »Tahiti Iti« (»Großes Tahiti« und »Kleines Tahiti«). Wer freilich an Tahitis Ufern natürliche weiße Sandstrände sucht, wird sie kaum finden. Große Hotels haben, um unseren Postkartenansichten von der Südsee gerecht zu werden ... künstliche private Sandstrände angelegt. Von Natur aus sind die Meeresufer von Tahiti schwarz. Der Sand ist basaltisch ... und weist auf Vulkanismus hin. Und das ist kein Wunder, entstand Tahiti doch aus zwei gewaltigen Vulkanen. Und diese Vulkane weisen auf brodelnde Gefahr in der »Unterwelt« hin: auf eine besonders heiße Zone. Solche »Hot Spots« gibt es auch unter Hawaii, dem Yellowstone-Park ... und unter der Eifel.

Die Mahaiatea-Pyramide von Tahiti 
Foto: Archiv W-J.Langbein
Bevor mit dem Bau der großen Pyramide von Mahaiatea auf Tahiti begonnen wurde, so lautet die Überlieferung, legten 1200 Krieger ihre Waffen nieder ... um sich dann freiwillig lebendig begraben zu lassen. Als Geister wollten sie die heilige Stätte bewachen!

Wir müssen vorsichtig sein, wenn es um die Bewertung der angeblich so bösen »Wilden« geht. Es sind stets die Sieger, die die Geschichtsbücher schreiben. Die Verlierer werden selten objektiv geschildert. Und die Geschichtsschreibung war meist »christlich« orientiert.

Gern wurden »Heiden« von »christlicher« Seite als menschenfressende Bestien beschrieben, die massenweise ihren Göttern Menschen opferten. Auf diese Weise konnte dann die »Mildtätigkeit« der Missionare besonders unterstrichen werden. Setzten sie doch ihr Leben aufs Spiel, um die »Wilden« zu bekehren. Unbestreitbar ist es allerdings, dass es auf Tahiti Menschenopfer gab. So liegt ein Zeugenbericht von James Morrison – Bootsmann auf der legendären Bounty – vor.

James Cook wurde auf seiner zweiten Südseereise (1772-1775) Zeuge von Menschenopfern. Ein zeitgenössischer Stich zeigt grausige Details eines Menschenopfers, dem Cook als »Ehrengast« beiwohnte ... nicht als Opfer!

Ein Menschenopfer vor
Ehrengast Cook
Foto: Archiv W-J.Langbein
Pomare II., bald darauf zum Christentum bekehrt, mochte bei seiner Krönung am 13.2.1797 auf »heidnisches Brauchtum« wie Menschenopfer nicht verzichten. Pomare II. wirkte aber auch als Baumeister und ließ mehrstufige Pyramiden errichten. Sein größtes Bauwerk hatte eine Seitenlänge von mehr als 200 Metern. Wie alle Pyramiden von Tahiti wurde es zerstört. Karl-Wilhelm Berger schreibt in seinem »Reisehandbuch Südsee« (1): »Britische protestantische Missionare der Londoner Missionsgesellschaft landeten 1797 in Tahiti und siedelten in Matavai an. Von diesem Zeitpunkt an griffen die Europäer in die traditionellen sozialpolitischen Ordnungen Tahitis und der Nachbarinseln ein.«

Berger weiter (2): »Hierdurch wurden tiefgreifende Entwicklungen ausgelöst, die sich auch im 19. Jahrhundert in anderen polynesischen Archipelen wiederholten. Die Inseltraditionen wurden missachtet, und das alleinseligmachende Christentum und europäische Moralvorstellungen wurden hemmungslos verbreitet.«

Pomare II. war ein beim Volk beliebter Herrscher ... bis die christlichen Missionare kamen. Offenbar verargte man dem König seine Nähe zu den Fremden. So wurde er, zusammen mit den Missionaren, anno 1808 auf die Nachbarinsel Moorea vertrieben ... wo in den manchmal unheimlich düster wirkenden Bergen noch »Heidentum pur« praktiziert wurde.

König Pomare II - Foto:
Archiv W-J.Langbein
1812, so ist überliefert, wandte sich Pomare II endgültig dem Christentum zu – und wurde getauft. Vom neuen Glauben beseelt, von den Missionaren angestachelt ... unternahm der Herrscher selbst einen Missionierungsversuch von Tahiti. 1815 kehrte er, zusammen mit den Missionaren und einem auf Moorea rekrutierten Herr nach Tahiti zurück und besiegte die »Heiden«.
Man darf sich Pomare II. aber nicht als zum Christentum verführten Heiden vorstellen! Der Regent erkannte den neuen Glauben als idealen Mittel zum Zweck. Er bezwang die rivalisierenden Stammeshäuptlinge militärisch, unterwarf sie auf dem Schlachtfeld... und sie mussten den christlichen Glauben annehmen. Der Sieger bestimmte den Glauben der Verlierer ...

Vergeblich suchte ich auf Tahiti nach Spuren der vielleicht interessantesten Gestalt der Geschichte des Eilands! Als Pomare III. - er war als Einjähriger König geworden – unerwartet und plötzlich mit sieben Jahren starb ... folgte ihm seine 14-jährige Schwester Aimata als Pomare IV. nach. Ihre Krönung erfolgte gegen den erbitterten Widerstand der Missionare. Tahiti war viele Jahrhunderte so etwas wie ein Paradies auf Erden. Diesem Zustand setzten die Europäer ein Ende. Berger schreibt in seinem empfehlenswerten Werk »Südsee« (3):

»Pomare IV. war eine Königin, die eine schwere Regierungszeit zu überstehen hatte, wollte sie nicht zwischen den Machtgelüsten der Missionare des Protestantismus und des Katholizismus und den dahinterstehenden Kolonialmächten Großbritannien und Frankreich zerrieben werden. Trotzdem überstand sie eine 50-jährige Regentschaft!« Die Königin starb 1877.

Trotz (oder wegen?) intensivster christlicher Missionierungsversuche wehrten sich viele Bewohner von Tahiti gegen die Verchristianisierung. Die »Mamaia-Sekte« wollte die alte Kultur erhalten. 1836 wurden katholische Missionare als unerwünschte Störenfriede ausgewiesen. Frankreich sah dies als bösartige Schmähung an und schickte Militär auf einer Fregatte. Pomare IV. suchte vergeblich Schutz bei den protestantischen Engländern. Die katholischen Franzosen hatten die besseren »Argumente«. Sie drohten damit, Tahiti von ihrer Fregatte aus zu beschießen. Und so wurde Tahiti schließlich französisches Protektorat!

Berge von Moorea
Foto: W-J.Langbein
Mit der Europäisierung, mit der Christianisierung ging die Zerstörung der ursprünglichen Kultur Haitis Hand in Hand. 1891 rächte sich Frankreich posthum an der widerspenstigen Königin Pomare IV. Ihre Gebeine wurden aus ihrer Gruft entfernt. Bestattet wurde in der turmartigen Gruft der mutigen Herrscherin ihr Nachfolger, ihr Sohn Pomare V. Der hatte sein Königreich für eine monatliche Pension verkauft ... und starb schon mit 52 Jahren als Alkoholiker. Auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin wurde an die Spitze seines Grabmals statt eines Kreuzes eine große Schnapsflasche gestellt ...

»Wenn Sie Reste unserer alten Kultur sehen wollen ... die werden Sie auf Tahiti vergeblich suchen!« bekam ich immer wieder zu hören. »Aber auf Moorea gibt es sie noch! Suchen Sie die Steine von Moorea ... « Wie aber würde ich nach Moorea gelangen?

Von Tahiti bis zum Nachbarinselchen Moorea sind es – die Angaben variieren etwas – rund 17 Kilometer. Man kann Moorea im Flugzeug in zehn Minuten erreichen. Im Schnellboot dauert es 35 Minuten ... und per Fähre eine Stunde.

Fußnoten
1 Berger, Karl-Wilhelm: »Südsee«, Dormagen, 3. Auflage 2000, S. 215
2 ebenda

»Marae Titiroa«,
Teil 109 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 19.02.2012

Freitag, 10. Februar 2012

Das Testament

Kurzkrimi von Walter-Jörg Langbein

Der Brief vom Notar kommt für Hermann Leppius nicht unerwartet. „Opa August ist tot.“ sagt er, sein Mienenspiel beherrschend. „Er hat ein Testament gemacht. Wir beide sind Alleinerben!“ Hermann Leppius, ein zur Schäbigkeit neigender Inhaber einer kleinen Lottoannahmestelle, fügt noch abfällig hinzu: „Unsereiner rackert sich ab und der Opa sammelt Vermögen !“

Sein Bruder Rudolf ist „Verkaufsleiter“ höchst zweifelhafter Kaffeefahrten, bei denen er mit Geschick Rentnerinnen für teures Geld billigen Ramsch verkauft. Er glaubt, widersprechen zu müssen: „Opa August war eben sein Leben lang sparsam und ...“ Sein „geizig“ geht im Räuspern des Notars unter. „Wenn Sie bitte eintreten möchten, meine Herren!“ Gespannt nehmen die beiden Erben gegenüber vom dickleibigen Notar Platz.

„Also, vorweg gesagt, ich kann Ihnen das Testament Ihres verstorbenen Herrn Großvaters noch nicht eröffnen. Da ist nämlich erst noch, so hat es ihr werter Großvater notariell festgelegt, eine wichtige Bedingung zu erfüllen!“ Mit monotoner Stimme liest er vor: „Bevor mein im Zustand vollständiger geistiger Klarheit verfasster, von meinem Notar als den gesetzlichen Vorschriften entsprechender bestätigter testamentarischer letzter Wille verlesen werden darf, muss eine Bedingung erfüllt werden: Meine beiden Alleinerben müssen erst klar Schiff machen und mein gesamtes Mobiliar, meinen gesamten Besitz verkaufen.“

Der Notar nimmt die Brille ab. „Ihr Erbe können Sie erst nach Erfüllung dieser Bedingung antreten. Und ich darf Ihnen sagen, dass es um einiges Bargeld geht.“

„Dann wollen wir das schnell über die Bühne bringen!“ Hermann Leppius springt auf. Er ist nervös und leicht reizbar. „Augenblick noch!“ hält ihn der Notar zurück. „Ich benötige von Ihnen eine genaue Liste des Inventars der Wohnung Ihres verstorbenen Herrn Großvaters. Bringen Sie eine präzise Aufstellung all dessen, was Sie für wie viel Geld verkauft haben. Legen Sie mir diese vom Käufer oder von den Käufern unterschriebene Liste hier vor, dann kommt es zur Testamentseröffnung. Dann geht es ...“ Hermann Leppius vollendet den Satz „ans Bare.“ Der Notar lächelt gequält.

Draußen vor der Tür des Notariats halten die beiden Enkel eine kurze Besprechung ab. „Wohin mit dem ganzen Krempel aus Opas Wohnung? Wer gibt dafür schon Geld?“

Rudolf hat einen Einfall. „Du erinnerst dich doch an Rentner Krause, der diesen Prozess gegen mich verloren hat, weil ich seinen dusseligen Lottoschein verlegt hatte und der alte Knacker um einen Gewinn von damals 33.000 Mark gekommen war? Na, das Gericht hat ja damals den Krause abgewiesen. Der Vertrag mit der Lottogesellschaft gilt erst dann, wenn der Lottoschein bei der Zentrale vorliegt. Ich hab' da eine glänzende Idee!“

Keine halbe Stunde später halten Hermann und Rudolf Leppius vor der kleinen Wohnung von Karl Krause. Die bescheidene Besitz von Opa August passt leicht in den Pferdetransporter von Rudolf. Viel ist es ja nicht: ein Schrank mit den Anzügen, muffigen Hemden, Unterwäsche, mit Bergen von schier unendlich langen Strümpfen aus Naturwolle. Da ist noch das Nachttischchen, ein Stuhl, eine bescheidene Ansammlung von Tellern, Tassen, Besteck, das vom sparsamen Opa seinerzeit vom Sperrmüll geholte Bett, der fleckige Regenmantel à la Columbo, eine alte schäbige Bibel, ein Karton mit Briefen und sonstigem Beschriebenen, ein kleines Radio, Rasierapparat, Zahnbürste und Waschzeug.

Rund fünf Dutzend Bände Karl May, offenbar noch aus Vorkriegszeiten, zerlesen und äußerlich nicht mehr ansprechend müffeln in einer großen Kiste mit der Aufschrift „China Tee“ vor sich hin. Mit spitzen Fingern zieht Rudolf Leppius einige der Karl-May-Bände heraus ... „Winnetou I“... „Winnetou II“, „Winnetou III“... „Old Surehand“... „Durchs wilde Kurdistan“... „Von Bagdad nach Stambul“... „Der Schatz im Silbersee“. Achtlos lässt er die Bücher wieder in die Kiste fallen. „Der alte Knauser schwärmte noch als Greis von Old Shatterhand und Winnetou ...“ lacht er hämisch. „Und in diese Nscho Tschi war er seit seiner Pubertät verliebt ... Mit Marie Versini hat er ja angeblich korrespondiert ...“



Dieser bescheidene Besitz soll nun dem Rentner Karl Krause verkauft werden. Rudolfs Idee wird in die Tat umgesetzt. Die beiden Leppius-Brüder geben sich bewusst jovial. Rudolf Leppius redet auf den alten Mann ein.

„Und um Ihnen. lieber, werter Herr Krause, den Schaden mit der Lottosache, die mir wirklich schrecklich leid tut, wieder gut zu machen, möchte ich Ihnen eine Freude bereiten. Sie bekommen die gesamte Hinterlassenschaft aus der Wohnung von unserem Opa- nicht geschenkt, aber so gut wie ...“ Enkel Rudolf kommt ins Stottern. Die Erbschaft erwähnt er lieber nicht.

Hermann hilft ihm aus der Verlegenheit. „Wir wollen ja nicht schlecht über unseren toten Opa reden, aber er hat nun einmal darauf geachtet, dass er sein Geld zusammenhielt. Und daher sind wir testamentarisch dazu verpflichtet, alles zu verkaufen. Eine Formsache. Sie bekommen alles ... für ... na, sagen wir einen Euro. Ein symbolischer Preis!“

Rudolf nickt. „Rein symbolisch. Sie kannten ja unseren Opa August gut, waren Sie nicht mit ihm am gleichen Frontabschnitt im Krieg? Und da meinen wir, verkaufen wir lieber Ihnen alles symbolisch für einen Euro als dass wir uns an einen Antiquitätenhändler wenden, der uns natürlich mehr bieten würde ...“

Karl Krause ist gerührt. Er stimmt dankbar zu. Hastig tragen die beiden Erben das karge Mobiliar in Krauses Wohnung. Wenig später legen die beiden zufriedenen Männer dem Notar den unterschriebenen Kaufvertrag vor. Mit einer fahrigen Geste lädt er die beiden Erben ein, sich zu setzen. „Da ist ja alles genauestens aufgelistet, wie ich sehe, die einzige Bedingung für die Testamentseröffnung ist erfüllt.“ Knisternd löst der Notar das Siegel, entfaltet das Blatt.

„Bei der Vorbedingung handelt es sich um einen Test. Vorweg: Wie auch immer der Test ausgefallen sein mag, erhalten Rudolf und Hermann jeweils ein Sparbuch über Euro 500.- Wie ich meine werten Enkel kenne, haben Sie meinen gesamten Besitz veräußert. Zu meiner Habe gehörten auch meine geliebten Karl-May-Bücher. Sollten meine werten Herren Enkel wider Erwarten die Karl-May-Bücher nicht verkauft haben, aus sentimentalen Gründen, weil sie wissen, wie ich an diesen Büchern mit ganzem Herzen hing, ist ihnen und vor allem Rudolf verziehen. Wie oft hat er sich über meine Vorliebe für den großen Volksdichter deutscher Zunge Karl May lustig gemacht! Hämisch haben sie gelacht, wenn ich stolz den Namen von Kara Ben Nemsis Gefährten vollständig aufsagen konnte ... Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah.“

Der Notar hält kurz inne, dann liest er weiter vor:

„Rudolf ist es auch gewesen, der mich nachts immer mit Anrufen weckte. Er hat seine Stimme verstellt, aber ich habe ihn erkannt. Er wusste, dass mein schwaches Herz darunter leiden würde. Er hoffte wohl auf meinen frühzeitigen Tod! Die Daten und die Zeiten dieser Anrufe sind genau auf einem Blatt in meinem Karl-May-Buch 'Der Schatz im Silbersee' notiert.“

Der Notar nimmt das Testament wieder auf und liest weiter: „Sollten die beiden Enkel wider Erwarten die Bände nicht veräußert haben, sollen sie mein in langen Jahren mühsam erspartes Vermögen in Höhe von 125.000 Euro erben und auch weiterhin Freude an den Karl-May-Büchern haben. Ich schätze aber meine Enkel anders ein. Dann fallen besagte 125.000 Euro an den Käufer meiner Karl-May-Bücher. Es soll der in den Genuss des Geldes kommen, der die Lektüre von Karl May mehr zu schätzen weiß als meine ehrenwerten Enkel, denen ich für das Leerräumen meiner Wohnung danke. Meine Aufzeichnungen über den Telefonterror meines Enkels Rudolf befinden sich als Lesezeichen im Band ‘Der Schatz im Silbersee’. Bitte an die Polizei weiterleiten.“

Der Notar sieht von dem Blatt auf und blickt die beiden verdutzt dreinschauenden Erben durchdringend an. Hermann Leppius weicht dem Blick aus und starrt auf seine Schuhspitzen. Der Notar nickt: „Die Karl-May-Bücher befinden sich jetzt im Besitz des Herrn Krause,  wie ich dieser Quittung entnehme. Karl Krause wird also das Vermögen des Verstorbenen erben! Und was den Telefonterror, was Ihr schäbiges Trachten nach dem Leben des Verstorbenen angeht, darum werden sich Polizei und Staatsanwaltschaft kümmern!“


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Dienstag, 7. Februar 2012

Charles Dickens zum 200. Geburtstag

Eine Würdigung von Walter-Jörg Langbein

Charles Dickens
Er schrieb »A christmas carol« (»Eine Weihnachtsgeschichte«) und »Oliver Twist«. Als einer der ersten Autoren weltweit nahm er sich – neben Victor Hugo und Karl May – der Ärmsten der Armen an. Armut kannte er – wie Karl May – aus eigener Erfahrung. Karl May wurde als Sohn einer Weber-Familie geboren, verlor als Kleinstkind – wohl wegen der ärmlichsten Lebensumstände – für Jahre das Augenlicht. Charles Dickens musste als Kind in einer Schuhcremefabrik schuften, weil sein Vater im »Schuldenturm« einsaß. Eingekerkert waren auch seine Mutter und seine sieben Geschwister.

Charles Dickens ... Er erhob als einer der ersten Autoren weltweit die Stimme für die Ärmsten der Armen, für die bis dahin in der feingeistigen Literatur kein Platz war. Charles Dickens griff Themen auf, die damals das elende Leben der Massen nicht nur in England bestimmten: Armut der Unterprivilegierten, Immigration, miserable Lebensbedingungen, keine Chance auf sinnvolle Bildung, Bürden der Bürokratie, unmenschliches Verhalten der vermeintlich christlichen Oberschicht gegenüber jenen, die da unten nur an widerlichsten Lebensverhältnissen zerbrechen konnten, aus bitterer Not geborene Kriminalität und fehlende Möglichkeiten als Straftäter wieder in die ehrbare Gesellschaft aufgenommen zu werden ...

Charles Dickens:
A Christmas Carol
Charles Dickens benannte schonungslos die bis dahin verdrängten Probleme seiner Zeit. Wie Karl May war Charles Dickens unglaublich produktiv. Seine Romane rüttelten auf und fesselten eine stetig wachsende Leserschaft. Dickens publizierte seine Romane in Zeitschriften... in Fortsetzungen. So verschlang man in England von Januar 1837 und April 1839 »Oliver Twist« von Charles Dickens, der häufig seine Stoffe erst während des Schreibens entwickelte. Die ersten Folgen gingen in Druck, während Dickens an den Fortsetzungen schrieb... wie Karl May.

Und Dickens bewirkte etwas: Die breite Öffentlichkeit wurde auf das Elend der Ärmsten aufmerksam. Die Öffentlichkeit reagierte empört und zwang die Politik, endlich etwas gegen die schlimmsten Missstände zu unternehmen. So wurde der reale Slum von London, den Dickens in »Oliver Twist« so realistisch beschrieb ... so wurde die Hölle der Ärmsten der Armen abgerissen. Es ist traurig, dass es erst eines Romanautors bedurfte, um die Menschen aufzurütteln, die bequem lebend das reale Elend ihrer Mitmenschen verdrängten.

Charles Dickens
Charles Dickens wurde am 7. Februar 1812 in Landport bei Portsmouth (Hampshire) geboren, als zweites von acht Kindern. 1817 kam es zum ersten Umzug: nach Chatham in Kent. 1822 zog die Familie wieder weiter: nach London. Vater John Dickens (1786-1851), ein Angestellter im »Navy Pay Office« war versetzt worden. Das karge Salär von Vater Dickens reichte nicht, um die Familie zu ernähren. Schulden waren die Folge, Zinsen konnten nicht bezahlt werden, die Familie wanderte unter unsäglichen Bedingungen ins Gefängnis ... Der elfjährige Charles Dickens musste – elf Jahre alt! - in einer Schuhcremefabrik schuften. Seine Erfahrungen mit der bitteren Armut und der menschenunwürdigen Kinderarbeit sollte Dickens später realistisch in seinem Roman »David Copperfield« beschreiben ... und so auf die schlimmsten Zustände im England des 19. Jahrhunderts aufmerksam machen.

Erst als Vater Dickens aus dem Gefängnis entlassen wurde, konnte Sohn Charles wieder eine Schule besuchen. Das war 1826. Ein Jahr später, 1827 – Charles war 15 – bekam er eine Anstellung als Schreiber bei einem Anwalt. Da ihm eine Schulausbildung verwehrt blieb, war Charles auf eigene Studien angewiesen. Der junge Dickens war häufiger Gast im »British Museum«. Ehrgeizig wie er war, schuftete Dickens im Beruf, machte auf sich aufmerksam ... und brachte es 1829 immerhin zum parlamentarischen Berichterstatter.

Charles Dickens
Charles wollte auf keinen Fall in eine ähnliche Notsituation geraten wie sein Vater. Als sich Charles Dickens 1830 in Maria Beadnell verliebte und bei ihren Eltern um die Hand der jungen Frau anhielt, lernte er die Verachtung der sogenannten höheren Kreise für gesellschaftlich »nieder Schichten« kennen. Maria Beadnell wurde auf eine Mädchenschule in Paris geschickt, die romantische Liaison durch väterliche Gewalt beendet. Jetzt gab es für Charles Dickens nur noch ein Ziel: Er wollte unbedingt gesellschaftlich aufsteigen. Ob er sich damals vorstellen konnte, nicht nur reich, sondern einer der geachtetsten Autoren Englands, ja der Welt zu werden?

Karl May, Sohn armer Webersleute, versuchte gesellschaftliche Anerkennung zu finden: als Lehrer. Doch kleinste »kriminelle« Verfehlungen, vorwiegend Bagatelldelikte, brachten dem Vater von »Old Shatterhand« und »Winnetou« ins Gefängnis. Noch in der Haft plante May eine Zukunft als Schriftsteller. Karl May gelang der Aufstieg zum wohlhabenden Romanautor. Immens fleißig, kreierte er geradezu ausufernde Fortsetzungsromane ... wie Charles Dickens. Dickens allerdings blieb das Gefängnis erspart.

Karl May
Charles Dickens schreib ab 1831 für die »True Sun«, wirkte am »Parlamentsspiegel« mit und erhielt schließlich eine Anstellung beim »Morning Chronicle«. 1836 erregte Dickens mit seinen »Pickwick Papers« (»Die Pickwickier«), die in Fortsetzungen erschienen, Aufsehen.

Charles Dickens hatte den richtigen Weg eingeschlagen: Er wollte durch seine aufrüttelnden Werke etwas tun, um das Los der Ärmsten der Armen zu verbessern. Und er wollte für sich den gesellschaftlichen Aufstieg erreichen. Beides gelang ihm. Seine Werke schildern einerseits hart unglaubliche Missstände ... Sein ganz besonderer, häufig zynischer Humor kennzeichnen sein Werk. Und sein Werk machte Dickens zum Publikumsliebling, ja für viele seiner Zeitgenossen zur Lichtgestalt.

Mit dem Erfolg kamen aber auch die Neider. Dickens wurde vorgeworfen, andere Werke geguttenbergt, sprich plagiiert, zu haben. Einige Empörung löste Dickens' Trennung von seiner Frau Catherine aus ... nach über zwanzigjähriger Ehe und – auch als Vater war Dickens sehr produktiv – zehn gemeinsamen Kindern. Charles Dickens meinte, ohne seine neue große Liebe, die junge Schauspielerin Ellen Ternan, nicht leben und schreiben zu können. Im Haus der Schauspielerin, so heißt es, sei er am 9. Juni 1870 gestorben.

Oliver Twist
Sein Publikum blieb Charles Dickens allen Skandalen zum Trotz treu. Wie ein Star aus unseren Tagen wurde er bejubelt, nicht nur in England, sondern auch in den Vereinigten Staaten von Amerika. Von Amerika war Dickens allerdings bitter enttäuscht. Hatte er sich doch die USA als ein freiheitliches und tolerantes Land erhofft ... als einen Hort gesellschaftlicher Harmonie und Gerechtigkeit im Gegensatz zum England der Adelsherrschaft und der krassen Klassenunterschiede. Die Realität aber sah anders aus als erträumt: Wie in England gab es auch in den USA klares Klassendenken. Statt sozialer Gerechtigkeit gab es auch hier krasse Unterschiede zwischen Arm und Reich ... und Sklaverei!

Am 9. Juni 1865 wäre Charles Dickens fast bei einem tragischen Zugunglück ums Leben gekommen. Moralapostel sahen in der Bahnkatastrophe göttliche Bestrafung für Dickens' »sittliche Verfehlung«. Geschah die Entgleisung doch, als Dickens von seiner Geliebten Ellen Ternan zurückkam. Dickens kümmerte sich zunächst rührend um Verletzte, denen er erste Hilfe leistete. Dann barg er das Manuskript seines letzten vollendeten Werkes aus den Trümmern, »Unser gemeinsamer Freund« (»Our mutual friend«). Dickens' letzter Roman, »Das Geheimnis des Edwin Drood« («The Mystery of Edwin Drood«) blieb unvollendet.

DavidCopperfield
Vor zweihundert Jahren wurde einer der Riesen der Weltliteratur geboren ... Charles Dickens. Seine letzte Ruhestätte fand der scharfe Kritiker frömmelnder Lügen ausgerechnet in der Londoner »Westminster Abbey«, wo Englands Monarchen seit ewigen Zeiten gekrönt und beigesetzt werden. Ob sich Charles Dickens in deren nobler Gesellschaft wohlgefühlt hätte ... das ist zu bezweifeln. Ein Trost wäre es ihm wohl gewesen, dass ganz in seiner Nähe eine Statue zu Ehren eines anderen literarischen Giganten Englands aufgestellt wurde ... das Standbild von William Shakespeare!

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(Abb. 1-5: Creative Commons - Wikipedia)

Sonntag, 5. Februar 2012

107 »Alten Rätseln auf der Spur«

Teil 107 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein


Make Make glotzt aus
dem gewachsenen Stein
Foto: W-J.Langbein
Die Osterinsel verdankt ihre Existenz gewaltigen Vulkanausbrüchen auf dem Meeresgrund. Gewaltige Lavamassen wurden aus dem Erdinneren empor gespien, formten den massiven Grundstock der Insel. Aus dem Lavagestein erkalteter Vulkane wurden die Kolosse und ihre gewaltigen Hüte gemeißelt. In Lavagestein ritzten Osterinsulaner schon vor Jahrhunderten religiös-mythologische Bilder ... an denen oftmals der Zahn der Zeit so intensiv genagt hat, dass sie kaum noch zu erkennen sind.

Wir begegnen Haien und Delphinen ... aber auch Göttern wie Make Make. Die altehrwürdigen Bildnisse scheinen, das ist mein Eindruck von mehreren Besuchen in der Südsee, immer schneller zu verwittern und ausgelöscht werden. Neben der Witterung tragen auch einheimische Führer dazu bei, die alten Kunstwerke zu beschädigen. Sie kratzen Moose weg, zeichnen mit Kreide nach. So verstärkt der Mensch Schäden, die Witterung findet noch mehr Angriffspunkte ... in den Stein geritzte Bildnisse verschwinden nach und nach ... von Gott Make Make, von Haien und Delfinen, Tintenfischen Wasserschildkröten.

Die Grenzen zwischen Realität und Fabelwelt verschwimmen in der Welt der Osterinsel. War Make Make ein reales, physisches Wesen? Wer oder was waren die geheimnisvollen Vogel-Menschen, Tier und Mensch zugleich? Auch ihre Bildnisse verwittern zusehends, werden bald nur noch in Form von Fotos oder Zeichnungen existieren.

Vogelmenschen
Foto: W-J.Langbein
Vor Ort zeigte man mir im Maßstab 1 zu 1 angefertigte zeichnerische Rekonstruktionen der alten Bilder ... Ein weiches, dünnes Spezialpapier wurde auf die Steingravur gelegt. Mit Spezialkreide wurde Zentimeter für Zentimeter jede Unebenheit auf das Papier übertragen. So wurde die Abbildung sehr viel klarer, deutlicher zu erkennen als das Original.

Wer waren diese Vogelmenschen? Sehr häufig scheinen sie vom Himmel herab auf die Erde zu springen. Oder sind es Taucher, die die Tiefe des Meeres erkunden? Wir kennen noch den Vogelkult. Von Orongo aus kann man die drei kleinen Inselchen sehen, die der Osterinsel vorgelagert sind. Von hier aus kletterten Anhänger des Vogel-Menschen-Kults die senkrecht abfallende Felswand in die Tiefe, schwammen aufs Meer hinaus zu den Inselchen. Es galt, das erste Ei einer dort brütenden Schwalbenart zu bergen ... Jeder Stamm ließ seine besten Sportler antreten. Unklar ist: Wurde der erfolgreiche Schwimmer, der mit einem Ei wieder die Steilwand emporgeklettert war, für ein Jahr zum religiösen Führer? Oder wurde diese Ehre dem Stammeshäuptling zuteil, dessen Athlet den gefährlichen Wettbewerb gewonnen hatte?

Umstritten ist, wann der mysteriöse Vogelmenschkult entstand. 800 n. Chr.? 1800 n. Chr.? Stand Gott Rongo im Zentrum, dessen heiliges Symbol der Regenbogen war? Ging es um kultisch-rituelle Zeremonien zur Erhaltung der Schöpfung? Die Wahrheit werden wir wohl nie erfahren. Wir können nur spekulativ versuchen, den Spuren alter Rätsel zu folgen.

Spuren von Mahiva
Foto: W-J.Langbein
Christlichen Missionaren war eine solche Spurensuche meist ein Gräuel. Voller Abscheu wandten sie sich ab, wenn die Einheimischen von übernatürlichen Wesen wie Geistern oder Göttern sprachen. Einst sollen solch mysteriöse Wesen Spuren hinterlassen haben, die heute weitestgehend verschwunden sind. So zog sich angeblich einst so etwas wie eine Schleifspur, stets dem Küstenverlauf folgend, um das gesamte Eiland. Dieser »Weg« wird der Gottheit Mahiva zugeschrieben. Mahiva, der Name wird gelegentlich als »Die Dunkelheit« übersetzt, soll auch für eine seltsame Spur im Stein verantwortlich sein.

Auf einer großen, ebenerdigen Steinfläche entdeckte ich bei ausgiebigen Wanderungen über die einsamste Insel der Welt unzählige nicht mehr zu erkennende Gravuren. Viele Meter zog sich über die plane Fläche ein Kuriosum: Es sieht aus, als wäre ein Vehikel mit Rädern über feuchten Zement gefahren ... und hat »Reifenspuren« hinterlassen. Natürlich handelt es sich bei der steinernen »Plattform« nicht um Beton. Die beiden parallel verlaufenden Spuren sind auch nur wenige Millimeter tief. Sie verlaufen quer über Risse im Stein. Nach dem sonntäglichen Gottesdienst hatte ich Gelegenheit mit dem Geistlichen zu sprechen. Der Gottesmann freute sich sehr über mein Interesse an der Osterinsel. Auf die mysteriöse Doppelspur angesprochen, reagierte er verärgert: »Das hat mit Mahiva und Aberglauben zu tun!« Abrupt brach er unser Gespräch ab.

»Reifenabdrücke« im Stein
Foto: Walter-Jörg Langbein
Verschwunden ist nicht nur »Ara Mahiva« (»Mahivas Straße«), die einst rund um die Insel führte. Verschwunden sind auch sorgsam gepflasterte Wege. Sie führten, das haben intensive Recherchen vor Ort bei mehreren Besuchen ergeben, nicht vom Steinbruch weg ... und auch nicht zu Plattformen mit Statuen.
Die Wege endeten sehr häufig ... bei aus Steinbrocken aufgetürmten Pyramiden. Im Museum erhielt ich die Erklärung, bei den Pyramiden habe es sich um einfache »Steinhaufen« gehandelt. Früher habe man die Lavaklumpen bei Aufräumungsarbeiten gesammelt und aufgetürmt. Sehr überzeugend ist diese Erklärung nicht. Es ist richtig: die Osterinsel ist von Millionen von kleinen bis großen Lava-Klumpen übersät. Selbst wenn man früher diese Brocken als störend empfunden und zusammengetragen haben sollte ... dann hätte man doch nicht die Wege zu den pyramidenförmigen Steinhaufen gepflastert.

Wahrscheinlicher ist, dass es sich um Mahnmale handelte – zu Ehren von in kriegerischen Auseinandersetzungen gefallenen Kämpfern. So soll es direkt bei den Pyramiden steinerne Podeste gegeben haben, auf denen die Toten aufgebahrt wurden, bevor sie in Ehren bestattet wurden ... etwa in oder unter den »Pyramiden«? Im Museum zeigte man mir einen stark ausgebleichten Druck, der angeblich nach einer »zeitgenössischen Darstellung gefertigt« wurde. Zu erkennen sind eine Pyramide, ein gepflasterter Weg und zwei runde Podeste, über die man eine Bahre mit einem Toten legte. Was ist aus den gepflasterten Wegen, was aus den Pyramiden geworden? Hat man sie als »Steinbrüche« missbraucht?

Gepflasterter Weg zu einer Pyramide an der Küste
Foto: Archiv W-J.Langbein
1957 machte Thor Heyerdahl bei Ausgrabungen unmittelbar am »Rano Raraku«-Steinbruch eine sensationelle Entdeckung: eine einzigartige Statue! Alle übrigen Statuen stehen und haben die Arme seitlich an den Körper angelegt. Die Hände sind seltsam abgewinkelt und deuten auf den Nabel hin. Beine haben die Statuen nicht. Sie enden an der Gürtellinie.

Heyerdahls Ausnahme-Statue aber ist komplett bis zu den Füßen. Und sie steht nicht, sondern sie sitzt. Kurioseste Bezeichnungen wurden erfunden. Manche sehen in der Ausnahmestatue einen »sitzenden Buddha«, andere eine »alte Frau«. Wen oder was die seltsame Figur darstellt ... noch heute haben manche Insulaner Angst vor dem steinernen Wesen. Ein böser Geist beseele die Kreatur.
Warum wurde nur eine einzige »Ganzkörperstatue« in sitzender Position angefertigt? Warum wurde dieses Unikat vollkommen vergraben? Sollte sie den Steinbruch bewachen?

Hockende Statue
Foto: W-J.Langbein
Seit mehr als drei Jahrzehnten bin ich alten Rätseln auf der Spur. Eines habe ich lernen müssen! Skepsis ist immer angebracht, wenn lautstark verkündet wird, dass wieder ein archäologisches Rätsel gelöst worden sei. Thor Heyerdahl zum Beispiel behauptete, alle Geheimnisse um die Osterinselriesen aufgeklärt zu haben. In seinem Weltbestseller »Aku Aku«, 1957 erstmals in Oslo erschienen, schildert er, wie angeblich mit primitiven Mitteln die Steinriesen mit einfachen Steinfäustlingen aus dem Vulkan gemeißelt worden seien. Anschließend habe man sie mit primitiven Seilen über Land gezerrt und mit Holzstangen, Seilen und untergeschobenen Steinen aufgerichtet.

Thor Heyerdahl erweckt in Wort und Bild den Eindruck, es sei ihm mit einigen Insulanern gelungen, experimentell diese seine Theorie zu beweisen. So heißt es zum Beispiel als Bildunterschrift zu einem Foto, auf dem wackere Insulaner mit Steinfäustlingen auf eine Steinwand einschlagen (1): »Eine Statue wird im Steinbruch des Vulkans ausgehauen – zum ersten Mal wieder seit Hunderten von Jahren. Im Vordergrund liegen die Steinbeile und die Flaschenkürbisse, die die gesamte Ausrüstung bei dieser Arbeit darstellten.«

Heyerdahls Experiment misslang
Foto: W-J.Langbein
Die Realität sieht ernüchternd aus: Heyerdahls Experiment misslang, auch wenn er in seinem Buch das Gegenteil suggeriert! Die emsigen Steinmetze mussten nach Tagen mit blutigen Händen aufgeben. Es gelang ihnen eben nicht (anders als von Heyerdahl suggeriert), eine Statue aus dem Steinbruch zu schlagen. Allenfalls die Konturen des Kopfes sind, wenige Zentimeter »tief« gelungen. In diesem Zustand wartet noch heute die von Heyerdahls willigen Gehilfen erst begonnene Statue seit mehr als einem halben Jahrhundert auf Vollendung. Ich habe erhebliche Zweifel, dass das Werk je fortgeführt werden wird.

Wer alten Rätseln auf der Spur die Welt bereist, wird immer wieder feststellen, dass sich so manches Geheimnis einer raschen Aufklärung widersetzt. Steine lassen sich meist nicht wie ein Buch lesen ... Das aber macht für mich den besonderen Reiz der alten Mysterien aus.

Ritzzeichnung eines
großen Fisches
Foto W-J.Langbein
Fußnote
1) Heyerdahl, Thor: »Aku Aku«, Berlin 1972, rechts von Seite 104, Foto unten
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»Die Steine von Moorea«,
Teil 108 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 12.02.2012

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