Sonntag, 11. Juni 2017

386 »Nichts als heiße Luft«

Teil  386 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein


Foto 1: Der legendäre Inka-Gott Viracocha am Sonnentor von Tiahuanaco, Bolivien

Seit vierzig Jahren bekomme ich immer wieder zu hören: »Was du nur immer mit dieser komischen Ebene von Nazca hast! Da ist nichts geheimnisvoll! Das war ein Ballonstartplatz!« Und erst vor wenigen Tagen, Anfang Juni 2017, knallte mir ein wütender Besucher nach meinem Vortrag ein Buch aufs Rednerpult. Eine kurze Textpassage war gelb markiert (1): »›Glaubst du nun, der Gott Viracocha könnte zur Sonne zurückgeflogen sein, wie die Legenden sagen?‹ fragte ich. ›Nun, das haben wir zu meiner Zufriedenheit bewiesen, daß er das konnte‹, erwiderte Julian. ›Weißt du, da oben hatte ich das Gefühl, daß wir nicht die ersten sind, die mit dem Wind über Nazca geflogen sind. Hast du das auch gespürt?‹«

Was genau hat Jim Woodman mit seinem Experiment bewiesen? Beweise liefert er letztlich keine. Er stellt nur Behauptungen auf, wie diese (2): »›Ich weiß ganz genau, daß in Nazca jemand geflogen ist‹, behauptete ich immer wieder. ›Man kann vom Boden aus einfach überhaupt nichts sehen. Man kann nirgends etwas erkennen – nur von oben. Niemand kann mir erzählen, daß sich die Baumeister von Nazca die Mühe mit diesen Monumenten gemacht haben, ohne sie jemals zu sehen.‹« Und wenn die riesigen Bildwerke und kilometerlangen Bahnen gar nicht für menschliche Augen bestimmt waren? Wenn sie für die himmlischen Götter gedacht waren?

Foto 2: WJL in Nazca

Nach Jim Woodman flogen die Meisterkünstler von Nazca über der riesigen Ebene umher, um sich an den gigantischen Scharrzeichnungen von Tieren und kilometerlangen »Bahnen« zu ergötzen? Und wie? Nach Jim Woodman bauten sie Heißluftballone. Beweise? Mit einem Grabräuber und einer »Lisa« unternimmt er eine Exkursion zur uralten »Nazca-Friedhöfen«. Natürlich gräbt man nicht, plündert nicht, sondern sammelt auf, was Archäologen und andere Grabräuber liegen gelassen haben. Womöglich Jahrtausende alte Stoffreste werden gefunden, später wissenschaftlich untersucht. Und siehe da: Das Gewebe war noch feiner gewebt als heutige, moderne Stoffe, die bestens geeignet sind, um daraus Hüllen für Heißluftballons zu fertigen. Nur: datiert wurden die Stoffe nicht.

Mag ja sein, dass die Bewohner von Nazca extreme feine Stoffe weben konnten. Sie verwendeten sie als »Säcke« für Mumien. Aber fertigten sie daraus auch Heißluftballons? Jim Woodman fabuliert fantasiereich (3): »Die alten Textilien, Tonwaren, Legenden, Mythen und die Nazcalinien und – zeichnungen führten ganz von selbst zu einer neuen, ständig wachsenden Sammlung von Artefakten und Luftfahrtartikeln.«

Fotos 3 und 4: Sieht so ein Ballonstartplatz aus?

Leider enthüllt Jim Woodman in seinem Buch nicht, was er als »Luftfahrtartikel« identifizieren zu können meint. Sollten sie gar aus den Zeiten der Nazca-Künstler stammen? Woodman beschreibt sie nicht und in seinem reich bebilderten Buch findet sich kein einziges Foto eines »Luftfahrtartikels«. Auch fehlt jeder Hinweis auf die – hier und immer wieder – erwähnten »Legenden«. An einer Stelle wird’s konkreter (4): »Die meisten Legenden sagen, der Inka flog zur Sonne – und wir nehmen an, daß er allein flog. Manche Legenden sagen, der Inka sei nach dem Tod zur Sonne gesandt worden – ein aufsteigender Scheiterhaufen – ein Wagen zur Sonne.«

Sollten die Inka also per Luftfracht – pardon – entsorgt worden sein? Das »einfache Volk« von Nazca wurde in Erdgräbern bestattet. War es den toten Inka-Herrschern vorbehalten, im Heißluftballon zur Sonne zu schweben? Gibt es dafür Belege? »Ein aufsteigender Scheiterhaufen – ein Wagen zur Sonne« heißt es nach Woodman in »manchen Legenden« könnte tatsächlich so verstanden werden, dass der verstorbene Inka mit Hilfe eines Heißluftballons gen Himmel schwebte. Leider fehlt jegliche Quellenangabe. Leider wird nicht verraten, welche Legenden denn so eine Himmelfahrt eines toten Inka schildern.

Foto 5: Cover von  Woodmans Buch »Nazca«
Endlich wird es bei Woodman einmal konkret (5): »Nach der Antarquilegende haben die Inkas einen kleinen Jungen zum Fliegen benutzt – das heißt, daß sie sich der Bedeutung des Verhältnisses zwischen Last und Auftrieb bewußt waren. Nach den meisten Darstellungen von Antarqui handelt es sich um einen Jungen, der kaum mehr als 35, 36 Kilogramm wog. Sein Gewicht, dazu ein leichter Binsenkorb als Gondel ergaben keine große Last.« Ich habe nach der Antarquilegende gesucht und bin fündig geworden. Bei Pedro Sarmiento de Gamboa bin ich fündig geworden. Pedro Sarmiento de Gamboa (* etwa  † 1592), ein spanischer Seefahrer, Abenteurer und Kosmograph verfasste eine »Geschichte der Inkas«, die mir in englischer Übersetzung vorliegt (6). In seinem faszinierenden Werk geht er auch auf die von Jim Woodman bemühte Antarquilegende ein.

Freilich ist in besagter Legende weder von einem Heißluftballon, noch von einem 35 oder 36 Kilogramm leichten Knaben die Rede, der mittels so eines Ballons fliegen musste. Nach der Antarquilegende (7) erhielt der »Tupac Inca« – gemeint sein könnte Túpac Inca Yupanqui, der 10. Inka-Herrscher – Ende des 15. Jahrhunderts Hinweise von Seefahrern auf »Inseln«. Der Herrscher, er wird als »Mann mit hochtrabenden, ehrgeizigen Ideen beschrieben, wollte diese »Inseln« ausfindig machen. Um das Risiko zu minimieren konsultierte der Inka »einen Mann, der ihn auf seinen Eroberungszügen begleitete, mit dem Namen Antarqui«.

Antarqui war kein Kind von 35 oder 36 Kilogramm Gewicht, sondern ein Erwachsener, ein Nekromant, ein Geisterbeschwörer. Antarqui, am ehesten als Schamane zu bezeichnen, beherrschte, so die Legende, die Kunst der »Seelenreise«. Dank seiner »Künste« flog er die von den Seefahrern beschriebene Reise nach und fand tatsächlich die »Inseln«. Ein Heißluftballon wird nicht erwähnt. Naheliegender ist eine andere Erklärung: Schamanen kannten auch zu Inka-Zeiten das Geheimnis der Pflanzen, die halluzinogene Substanzen enthalten. Die nahmen sie zu sich und traten dann – high vom Rauschgift und losgelöst vom physischen Leib –  zu sich »Seelenreisen« an.

Foto 6: Túpac Inca Yupanqui
»Tupac Inca«, so heißt es weiter in der Legende (8), bekam von Antarqui bestätigt, dass es die Inseln tatsächlich gab und erfuhr offenbar auch ihre Position. Daraufhin soll sich der Inkaherrscher mit einer gewaltigen Flotte von Balsaflößen mit insgesamt mehr als 20.000 Mann Besatzung auf die Reise gemacht haben. Tatsächlich, so heißt es weiter, wurden die Inseln »Avachumbi« und »Ninachumbi« entdeckt. Erbeutet wurden »schwarze Menschen, Gold, ein Messingstuhl, Haut und Kiefer eines Pferdes«. Alles wurde nach Cuzco, in die Inkafestung, geschafft.

Ob die Legende auf Tatsachen beruht, das sei dahingestellt. Wenn es denn so eine Entdeckungsreise gegeben haben sollte, dann ist die Größe der Flotte mit Sicherheit maßlos übertrieben. Bei den Eilanden könnte es sich um die Galapagosinseln gehandelt haben. Oder hatte man gar die Osterinsel entdeckt?  Schwarze Menschen gab es da freilich nicht. Hat es die Expedition gegeben? Tatsächlich gibt es auf der Osterinsel ein steinernes Monument, eine Mauer, ganz im Stil der Inkabaukunst. Thor Heyerdahl sieht diese Mauer als Beweis für Kontakte zwischen Peru und der Osterinsel an.

Angeblich sollen neun oder zwölf Monate verstrichen sein, bis der Inka wieder in der Heimat auftauchte. Mag sein, dass es die legendäre Expedition gegeben hat. Sicher ist: ein Heißluftballon mit Antarqui kam definitiv nicht zum Einsatz. Es befremdet, dass Jim Woodman eine Legende so falsch wiedergibt. Es wundert mich nicht, dass er auch hier kein Zitat anzubieten hat.

Ich glaube Jim Woodman, dass er nächtens mit einem Grabräuber unterwegs war und tatsächlich Stoffreste gefunden hat. Im Gebiet von Nazca gibt es tatsächlich unzählige alte Gräber aus unterschiedlichsten Zeiten. Stoffreste aus diesen Gräbern können 20, aber auch 2.000 Jahre alt sein. Erst ein Bruchteil wurde bislang archäologisch untersucht. Sehr viele alte Grabstätten wurden von Grabräubern geöffnet, bevor Archäologen Untersuchungen vornehmen konnten. Mumien wurden aus ihren Hüllen gerissen, die sterblichen Überreste warf man achtlos beiseite. Man suchte – und sucht – nach Kostbarkeiten wie Schmuck und gut erhaltenen Stoffresten, möglichst mit farbigem Muster.

Ich glaube auch, dass die Stoffreste, die von Jim Woodman zur Untersuchung gegeben wurden, feiner gewebt waren als Hüllen von Heißluftballons. Aber sie müssen keineswegs aus der Zeit der Nazca-Linien stammen, können auch wesentlich jünger sein. Bewiesen ist damit nicht, dass die Nazca-Künstler Heißluftballone betrieben haben.

Foto 7: Riesiger Kolibri im Wüstenstaub.

Was mich ärgert: Jim Woodman führt als »Beweis« für seine Heißluftballon-Theorie eine Legende an, die es so gar nicht gibt. Die – gelinde gesagt – fantasiereich veränderte Legende lässt eben keinen Heißluftballon steigen, vielmehr schickt der Inka (s)einen Schamanen auf Geistreise. Jim Woodman aber bleibt bei seiner – angeblich bewiesenen – Theorie, wonach die Inka per Heißluftballon zur Sonne geschickt wurden. Und das soll die Ebene von Nazca erklären. Die Inka aber hatten keinerlei Verbindung zu Nazca und den fantastisch anmutenden Riesenzeichnungen. Zwischen Túpac Inca Yupanqui (Ende des 15. Jahrhunderts) und der Herstellung der mysteriösen Kunstwerke auf der Nazca-Ebene aber liegen mindestens 1.000, wahrscheinlich sogar 1.500 Jahre.

Foto 8: Kleine Inseln vor der Küste der Osterinsel.

Die Behauptung, tote Inka-Herrscher seien von Nazca aus auf die Reise in die ewigen, himmlischen Jagdgründe geschickt worden, kann ich nur als absurd bezeichnen. Gibt es doch nicht den Hauch eines Beweises dafür, dass irgendein Inka-Herrscher etwas mit der Ebene von Nazca zu tun hatte. Die Kultur der Nazca-Bewohner war zu Zeiten der Inka schon mindestens 1.000 Jahre erloschen.


Foto 9: Die »Inkamauer« auf der Osterinsel
Fußnoten
1) Woodman, Jim: »Nazca/ Mit dem Inka-Ballon zur Sonne«, München 1977, S. 208, Zeilen 4-7 von unten
2) ebenda, S. 36, Zeilen 13-19 von unten
3) ebenda, Seite 90, Zeilen 9-12 von unten
4) ebenda, Seite 94, Zeilen 12-16 von unten
5) ebenda, Seite 94,  Zeilen 4-11 von unten
6) de Gamboa, Pedro Sarmiento: »History of the Incas«, eBook,
Hakluyt-Society, Cambridge
7) ebenda Seite 116/ Pos. 1976
8) ebenda Seite 117/ Pos. 1983


Zu den Fotos
Foto 1: Der legendäre Inka-Gott Viracocha am Sonnentor von Tiahuanaco, Bolivien. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 2: WJL in Nazca. Foto Willi Dünnenberger, Oktober 1992
Fotos 3 und 4: Sieht so ein Ballonstartplatz aus? Fotos Walter-Jörg Langbein
Foto 5: Buchcover von  Jim Woodmans Buch »Nazca«
Foto 6: Túpac Inca Yupanqui, mächtiger Herrscher. Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 7: Riesiger Kolibri im Wüstenstaub. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 8: Kleine Inseln vor der Küste der Osterinsel. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 9: Die »Inkamauer« auf der Osterinsel. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 10:  Wurde die Inkamauer auf der Osterinsel von »alten Peruanern« gebaut? Foto Walter-Jörg Langbein


Foto 10:  Wurde die Inkamauer auf der Osterinsel von »alten Peruanern« gebaut?
387 »Heißluftballons für tote Inkas oder Bohnen?«,
Teil  387 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                       
erscheint am 18.6.2017













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