Sonntag, 19. Juli 2020

548. »Alles menschliche und göttliche Wissen«

Teil 548 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein


Foto 1: Erzengel Raziel, 17. Jahrhundert.
(vermutl. Spanien).
Engel beschäftigen mich schon seit einigen Jahrzehnten. Wunderschönen Darstellungen bin ich in deutschen Kirchen und Kapellen begegnet, aber auch in der Südsee. Erste Ergebnisse meiner Recherchen erschienen bereits 1981 in der Monatsschrift »Esotera« (1) in einer zweiteiligen Serie. Ich muss zugeben, dass die spannende Thematik immer verwirrender wurde, ja intensiver ich mich mit den mysteriösen Himmelswesen beschäftigt habe. Je mehr Material ich zusammentrug, desto geheimnisvoller wurde die Welt der Engel.

Vordergründig ist der Sachverhalt klar. Für gläubige Christen sind Engel ganz besondere Wesen. Zur Weihnachtszeit treten sie massiv auf. Sie blasen Posaune oder singen »Oh du fröhliche…« Und seit Jahrhunderten werden sie in der abendländischen Kunst meist als attraktive menschliche Wesen gezeigt. Nicht selten sind es ansehnliche junge Frauen. Und immer haben Engel mächtige Flügel am Rücken. Je wichtiger, je bedeutsamer ein Engel ist, desto imposanter sind seine Flügel. Die Engel der Bibel, speziell des »Alten Testaments«, haben aber mit den Engeln der Kunst und unzähliger kitschiger Darstellungen der letzten Jahrhunderte nichts zu tun.

Biblische Engel sind auch keine Frauen, sondern immer Männer, und ohne Flügel. Sie haben eine prosaische Funktion: Botschaften von Gott werden übermittelt. Diese Funktion wird deutlich, wenn wir im Hebräischen nachlesen. »Mal’ach« steht da in der »Biblia Hebraica«, »Engel« heißt es viele Male in den Übersetzungen. Wortgetreu wäre schlicht und einfach »Bote« oder »Übermittler von Botschaften«. Sie überbrachten Nachrichten vom himmlischen Gott an irdische Menschen.

Es gibt es eine kaum zu überschauende Fülle von Namen. Offensichtlich gibt es sehr viel mehr Namen als Engel, weil ein und derselbe Engel oft unter verschiedenen Namen in Erscheinung tritt. Im »Slavischen Henochbuch« zum Beispiel, so »Jewish Encyclopedia« (2) taucht unter den Namen »Raguel« und »Rasuel« erstmals der Engel »Raziel« auf. Und tatsächlich, der slav slavischerische Henoch, auch »Das Buch der Geheimnisse Gottes« genannt (3) erwähnt Engel Rasuel (4).

Prof. Ernst Bammel (*1923; †1996) leitete an der »Friedrich Alexander Universität« zu Erlangen in den späten 1970er Jahren spannende Seminare zu den mysteriösen »Schriftrollen vom Toten Meer«, die in den Jahren von 1947 bis 1956 in elf Felshöhlen nahe der Ruinenstätte Khirbet Qumran im Westjordanland entdeckt hat.

An Professor Bammel konnte ich mich wenden, wenn ich Fragen zu außerbiblischen Texten hatte. Professor Bammel erklärte mir, dass der Name »Raziel« mit »Geheimnis von Gott« übersetzt werden könne. Das sei nur logisch, denn Gott, so Prof. Bammel, hat diesem Engel »Geheimnisse« anvertraut. Nicht ganz klar scheint zu sein, ob »Raziel« ein echter individueller Eigenname oder ein Titel im Sinne von »Gottes Geheimnisträger« ist.

Höchst mysteriös ist eine offenbar recht umfangreiche »Sammlung geheimer Schriften«. Zu dem zum Teil nur schlecht erhaltenen Texten gehört das »Buch Raziel«. Einen Teil der Texte, so ist es überliefert, hat Erzengel Raziel dem biblischen Adam übermittelt, kurz nachdem der wegen des berühmten »Apfelskandals« aus dem Paradies vertrieben worden war. Ein anderer Teil wurde dem biblischen Noah übermittelt. Raziel, so haben es die Lehrer der »Geheimlehre Kabbala« übermittelt (5), »ist der Erzengel der Mysterien und Hüter der Geheimnisse. Er ist der Verfasser des Buches »Sepher Raziel Ha Malach« (Malach bedeutet so viel wie Engel.) Als Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden, war ihnen bald die Tragweite dessen bewusst. Als Adam deshalb zu beten begann, so die Legende, erhörte ihn Gott und sandte den Erzengel Raziel zu ihm.

Von Adam kam dann das Buch in die Hände Noahs. … Nach der Sintflut überreichte Noah es dem Patriarchen Abraham, welcher das Buch nach Ägypten brachte. Das Buch wurde von Vater zu Sohn weitergegeben und schließlich hielt eines Tages auch König Salomo das Buch in den Händen, der König des Friedens und der Weisheit.« Gebaut wurde die »Arche Noah« nach einem »himmlischen Bauplan« im vielleicht mysteriösesten Buch der Welt.

Ein Detail ist besonders interessant, wie »Jewish Encyclopedia« unter dem Stichwort »Raziel, Book of« vermeldet (6): »Das Buch wurde in Saphirstein eingraviert und von Generation zu Generation weitergegeben, bis es zusammen mit vielen anderen geheimen Schriften in den Besitz Salomos gelangte.«

Während meines Studiums der Theologie an der »Friedrich-Alexander- Universität« zu Erlangen-Nürnberg nutzte ich ausgiebig die üppig ausgestattete Bibliothek. Während sich viele meiner Studienkollegen zum Beispiels Luthers Traktate, Tischreden und Predigten zu Gemüte führten, interessierten mich ganz andere Veröffentlichungen. Besonders fasziniert hat mich »The Golden Bough: A Study in Magic and Religion« von Sir James George Frazer (*1854; †1941). Der schottischer Ethnologe und Klassischer Philologe gilt als Mitbegründer der Religionsethnologie. Kein anderes mir bekanntes Werk eines Wissenschaftlers hat so gründlich Mythologie und Religion miteinander verglichen. Im englischen Original erschien »The Golden Bough« zwischen 1906 und 1915 in dritter Auflage in zwölf stattlichen Bänden. Eine sehr stark gekürzte Version in einem Band erschien 1928 in Leipzig in deutscher Übersetzung: »Der goldene Zweig. Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker«. Spannend und sehr aufschlussreich sind Sir Fraziers religionswissenschaftliche Vergleiche (7).

Foto 2: Die »Arche Noah«,
Gemälde von Edward Hicks (*1780; †1849)

Über den mysteriösen Raziel weiß Sir Frazier Interessantes zu berichten (8). Demnach lernte Noah aus Raziels Buch »Sepher Raziel Ha Malach«, wie die berühmt-legendäre »Arche« gebaut werden musste. Dieses Buch, so Sir Frazier, enthielt »alles menschliche und göttliche Wissen«. Das Opus war kein gewöhnliches »Papier-Buch«, auch kein Papyrus oder Codex. Vielmehr war es aus Saphiren gefertigt und erinnert der Beschreibung nach mehr an einen Computer als an ein herkömmliches Buch. So diente es dem Noah »als Zeitmesser«, der Tag und Nacht funktionierte. An Bord der Arche bewahrte Noah Raziels »Sepher Raziel Ha Malach« sorgsam in einer »goldenen Kassette« auf.

Über die Jahre habe ich versucht, so viele Einzelheiten über Raziels Buch »Sepher Raziel Ha Malach« in Erfahrung zu bringen. Unbezweifelbar ist der im wahrsten Sinne des Wortes himmlische Ursprung dieses seltsamen Buches. Es kam aus dem Himmel. Robert von Ranke-Graves (*1895; †1985) veröffentlichte ein umfangreiches Werk. Eingefleischten Anhängern eines rein patriarchalischen Gottes sehr zu empfehlen ist (9) »Die weiße Göttin« aus seiner Feder.

Wie die »Jewish Encyclopedia« und Sir James George Frazer, so legt auch von Ranke-Graves dar, dass das Buch »Sepher Raziel Ha Malach« eine Sammlung von kosmischen Geheimnissen bietet, die in einen Saphir eingeritzt worden sind (10). Kann man denn ein Buch in einen Saphir einritzen? Selbst ein riesiger Saphir bietet doch viel zu wenig Platz, um mehr als nur einen einzigen kurzen Satz zu verewigen. Und doch könnte ein Saphir tatsächlich ein ganzes Buch aufnehmen, freilich wäre dazu modernste Technologie erforderlich, die doch wohl zu biblischen Zeiten nicht zur Verfügung stand. 

Siddharth Dhomkar, Physiker vom »City College in New York«, beklagt, dass heutige Speichertechnologie, die vor wenigen Jahrzehnten allenfalls als futuristische Zukunftsvision denkbar war, längst an ihre Grenzen stößt, veraltet ist und dringend abgelöst werden muss.

»Die übliche Festplatte hat ihr Limit erreicht und kann maximal einige Terabytes speichern. Zudem halten sie nur einige Jahre, dann verhalten sie sich seltsam oder fallen gleich ganz aus.« Unsere heutigen Speichermedien haben, so Siddharth Dhomkar, keine Zukunft (11). Was heute an Daten verewigt wird, verdient diese Bezeichnung gar nicht. DVDs und andere optische Speicher, konstatiert der Wissenschaftler, funktionieren in der Praxis höchstens einige Jahrzehnte. Sogenannte »Flash-Speicher« sind womöglich schon nach wenigen Jahren bereits unzuverlässig und somit kein wirklich taugliches Speichermedium.

Siddharth Dhomkar hat nun einen praktikablen Weg gefunden, Daten in Diamanten zu speichern. Christian Buck: »Bei der Lebensdauer der Bits wäre das Material allen Konkurrenten haushoch überlegen: Lagert man den Diamanten in Dunkelheit, sollen die Daten ewig halten. Auch die Speicherkapazität wäre kaum zu schlagen. Die Daten kann Dhomkar im gesamten Diamanten speichern – nicht bloß auf einer Ebene wie bei DVDs. Dadurch erreicht er eine bis zu 1000-fach höhere Speicherdichte als Blu-ray-Disks. Und das könnte erst der Anfang sein.«

1953 sang Marilyn Monroe »Diamonds Are a Girl’s Best Friend« im Film »Blondinen bevorzugt«. 2053 sind vielleicht Diamanten der beste Freund von gespeicherten Daten, die dann »unsterblich« sein können. Noch ist die neue Methode nicht ausgereift, doch es zeichnen sich schon fantastisch anmutende Möglichkeiten ab: Diamanten als Speicher könnten Daten für die Ewigkeit erhalten. Sollte Gott sein himmlisches Wissen auf modernste Weise für die Ewigkeit abgespeichert haben? Nach dem »Slavischen Henochbuch« war jedenfalls der »ewige Gott« der Urheber des mysteriösen »Sepher Raziel Ha Malach«-Buches. Und der bezeichnet sich im »Slavischen Henochbuch« (12) als »ewig«.

Fußnoten
(1) Langbein, Walter-Jörg: »Engel im Orbit«, »Esotera« Juni und Juli 1981.
(2) »Jewish Encyclopedia«, Stichwort »Raziel, Angel«.  http://www.jewishencyclopedia.com/articles/12605-raziel (Stand 12.05.2020)
(3) »Henochbuch (slawisch) oder Zweiter Henoch/ Das Buch der Geheimnisse Gottes/ Die Offenbarungen Gottes« in Rießler, Paul: »Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel übersetzt und erläutert von Paul Rießler«, Augsburg 1928, Seiten 452-473
(4) Ebenda, Kapitel 33, Vers 6
(5) »Erzengel Raziel in der Kabbala«, »Edition Ewige Weisheit«, »Über die Esoterische Philosophie in den West-Östlichen Traditionen«. https://www.ewigeweisheit.de/geheimwissen/kabbalah/erzengel/raziel (Stand 12.05.2020)
(6) »Jewish Encyclopedia«, Stichwort »Raziel, Book of«. http://jewishencyclopedia.com/articles/12606-raziel-book-of (Stand 12.05.2020)
(7) Frazer, George: »Folk-lore in the Old Testament; studies in comparative religion, legend and law«, London 1919
(8) Ebenda, Seite 143
(9) Ranke-Graves, Robert von: »Die weiße Göttin/ Sprache des Mythos«, Berlin 1981
(10) Ranke-Graves, Robert von und Patai, Raphael: »Hebräische Mythologie/ Über die Schöpfungsgeschichte und andere Mythen aus dem Alten Testament«, Reinbek 1986, Seite 65, »12.«.
(11) Buck, Christian: »Daten für die Ewigkeit«, erschienen in »Technology Review«, Print-Ausgabe 04/2017
(12) Das »Slavische Henochbuch« Kapitel 33, Vers 4


Zu den Fotos
Foto 1: Erzengel Raziel, 17. Jahrhundert. (vermutl. Spanien). Foto wikimedia commons, public domain
Foto 2: Die »Arche Noah«, Gemälde von Edward Hicks (*1780; 1849). wikimedia commons, gemeinfrei.

549. »Und wir erhoben ihn zu einem hohen Ort.«
Teil 549 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 26. Juli 2020


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