Sonntag, 26. Dezember 2010

Helga König: Nachtrag zu Rolf Dobellis "Massimo Marini."

 Anfang Dezember habe ich Rolf Dobellis neuen Roman "Massimo Marini" rezensiert. Der Schriftsteller beginnt seinen Text mit einem Zitat aus Büchners "Woyzeck" und lässt ihn mit einem weiteren Zitat aus dem Trauerspiel des Goddelauers enden.

Büchner hat in meinem Leseleben immer einen besonderen Stellenwert eingenommen, denn ich wurde  in Wolfskehlen, dem Nachbarort von Goddelau geboren. Beide Orte gehören heute der Verbandsgemeinde Riedstadt an. Zu Riedstadt zählen des Weiteren die Gemeinden Leeheim, Crumstadt, Philippshospital und Erfelden.

Büchners Vater hatte seine erste Stelle als Arzt in Philippshospital angenommen. Er heiratete die Tochter des Hospitalverwalters Johann Georg Reuß. Einer der Nachfahren dieses Hospitalsverwalters war noch in den 1950er und 1960er Jahren Allgemeinmediziner in Wolfskehlen und ein von allen Bewohnern sehr geschätzter Hausarzt.

Auf dem Areal des Philippshospitals siedelten übrigens schon 6000 v. Chr. jungsteinzeitliche Kulturen, wie die Ergebnisse von Grabungen dokumentieren.


Die Gegend, in der Büchner das Licht der Welt erblickte, ist demnach  altes Kulturland. Der Ort Leeheim ist bereits 766 urkundlich erwähnt. In der Gemarkung Leeheims wurde an dem früheren Ort Camba 1024 der Salier Konrad II. zum deutschen König gekrönt. Büchner wird  Wolfskehlen,  den Ort, an dem ich zur Welt kam, sicher auch gekannt haben.Vielleicht hatten seine Eltern dort Freunde. Erwähnt wurde Wolfskehlen erstmals 1002. Im Gegensatz zu den anderen Orten hatte diese Gemeinde im Mittelalter Stadtrechte. Vor dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) gab es hier einige Adelshöfe und ferner zwei Burgen, deren Besitzer die Herren von Wolfskehlen waren.


Die Wirren des Dreißigjährigen Krieges führten dazu, dass Wolfkehlen geschleift wurde. Die Burgen wurden nicht mehr aufgebaut. Außer der Kirche, die später einen großen Brandschaden zu beklagen hatte, blieb von der alten Stadt Wolfkehlen nichts mehr übrig. Fast die gesamte Bevölkerung, auch die Leeheims verstarb an Pest und wurden in einem Massengrab beerdigt. Goddelau scheint von der Pest verschont worden zu sein.


In Erfelden (gegründet 779) lagerte 1631 Gustav Adolf und übernachtete im dortigen Bürgermeisterhaus. Der Schwedenkönig überschritt bei Erfelden mit seinem Heer den Rhein, um die Spanier im katholischen Mainz angreifen zu können. Von den Plünderungen und Brandschatzungen erholten sich die Gemeinden erst nach vielen Jahrzehnten, wie mir Einheimische immer wieder berichten. Ob Büchner von all dem wusste, ist mir nicht bekannt. Seine Eltern zogen 4 Jahre nach seiner Geburt nach Darmstadt um. Es ist möglich, dass bei Besuchen von Verwandten über die Plünderungen im Dreißigjährigen Krieg gesprochen wurde, denn bei der einheimischen Bevölkerung ist das Leid jetzt nach mehr als 360 Jahren noch immer nicht vergessen.

Der Naturwissenschaftler, Sozialrevolutionär und Dichter Büchner kam am 17. 10 1813 als erstes Kind von Ernst Karl und Caroline Büchner, geb. Reuß zur Welt. Die Familie lebten zunächst in Goddelau in der Weidstr. 9 zur Miete (Haus siehe oben). Büchner ging in Darmstadt zur Schule und studierte in Straßburg und Gießen Medizin. 1834 gründete er in Gießen die "Gesellschaft der Menschenrechte" und schrieb das berühmte Flugblatt "Der hessische Landbote", in dem er die Ungerechtigkeiten des Fürstenstaates thematisierte. Nachdem Büchner 1834 in Darmstadt das Drama "Dantons Tod" verfasst hatte, floh er, um seiner Verhaftung zu entgehen, 1835 nach Straßburg. Im Exil promovierte er und arbeitete anschließend in Zürich als Privatdozent für "Vergleichende Anatomie". In den beiden Jahren bis zu seinem Tode am 19.Februar 1837 verfasste er dann noch die Werke "Leonce und Lena", "Lenz" und "das Fragment "Woyzeck".

Während meiner Kindheit war der Ruf Büchners bei ungebildeten Einheimischen noch immer sehr schlecht. Man unterstellte, er sei ein alkoholsüchtiger Querulant gewesen. Es war unmöglich den Menschen den wirklichen Büchner nahe zu bringen. Der Rufmord war restlos gelungen. Die Vorurteile schienen aus Granit gemeißelt zu sein. Zu Lebzeiten Büchners hatte es die Obrigkeit geschafft, indem sie die immer wieder gleichen Lügen verbreiteten, den Namen Büchner nachhaltig zu diffamieren. An den Schulen im Südried wurden seine Texte noch in den 1960ern und frühen 1970ern  nicht  gelesen. Woyzeck las ich in Darmstadt am Gymnasium und befasste mich dann intensiver an der Uni mit diesem Dichter, hocherfreut über die umfangreiche Sekundärliteratur, die  mir dort nun zur Verfügung stand.

Büchners Geburtshaus wurde über viele Jahrzehnte mehr als stiefmütterlich behandelt. Es war der Schandfleck der Gemeinde. Auf diese Weise zeigte man, dass man dem großen Dichter keinen Respekt zollen wollte. Das 1665 erbaute denkmalgeschützte Haus wurde, dank einer Initiative von Privatleuten, Unternehmen und schließlich auch der Stadt 1997, vollständig saniert. Das Haus ist heute Ausstellungsort. Skizziert wird anhand von Bildern und Dokumenten sein Lebensweg und sein Nachleben am Theater und in der Literatur. Die Bibliothek im Büchnerhaus beherbergt außerdem Literatur über den Dichter, Schriften seiner Geschwister und Freunde, Erstausgaben seiner Werke und von Künstlern gestaltete Sonderausgaben.

Büchner wurde 200 Jahre nach den Gräueltaten des Dreißigjährigen Krieges im Südried geboren. Ich bin sicher, dass die tradierten Geschichten auch seine Ohren erreichten und sein Denken beeinflusst haben. 


Unangepasste, intelligente  junge Menschen, wie Büchner hatte es zu allen Zeiten nicht leicht. In autoritären Regimen werden solche Personen verfolgt, inhaftiert, gar  ermordet oder außer Landes verwiesen. Nur in wirklichen Demokratien eröffnet man ihnen Möglichkeiten ihre Ideen einzubringen und ist bereit  sich mit ihrer Kritik auseinander zu setzen.


Büchner verstarb übrigens am 19.2.1837 in Zürich in der Schweiz an Typhus. Dass der Schweizer Rolf Dobelli an den Goddelauer Dichter erinnert, hat mich sehr gefreut.


Zu den Bilder:
1) Büchners Geburtshaus in Riedstadt-Goddelau
2) Kirche in Riedstadt- Wolfskehlen
3)  Blick auf den Altrhein in Erfelden
4) Geburtshaus von Büchners Schwester in Riedstadt-Goddelau

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Für das  Neue Jahr habe auch ich ein Zitat aus Büchners "Woyzeck" gesucht. Es lautet:

"Wozu sollen wir Menschen miteinander kämpfen? Wir sollten uns nebeneinander setzen und Ruhe haben."

Georg Büchner, "Woyzeck", 1836/37.

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