»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
Aufmarsch einiger Riesen |
Als Schüler schrieb ich an die deutsche Botschaft in Santiago de Chile und bat um Unterlagen in Sachen Osterinsel. Monate später besuchte mich ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft im Elternhaus. Er war auf Urlaub im Frankenland. Der freundliche Herr hatte einen Projektor dabei und führte meinen erstaunten Eltern einen Film über die Kolosse der Osterinsel vor. Das war 1968. Ich war damals 14 und hätte nie zu hoffen gewagt, jemals selbst »Isla la Pascua« besuchen zu können. In den vergangenen 25 Jahren war ich wiederholt auf dem geheimnisvollen Eiland.
Ich muss zugeben, dass ich mich sehr lange nur für die berühmten Steinkolosse interessiert habe. Wie wurden sie aus dem Stein gemeißelt? Wie wurden sie transportiert? Wie wurden sie aufgestellt? Ich muss zugeben, dass mich die jüngere Vergangenheit der Osterinsel nie wirklich interessiert hat. Ich muss zugeben, dass ich nur das Idyll der Osterinsel zur Kenntnis nehmen und genießen wollte. Kein anderes Fleckchen unseres Planeten kam mir so paradiesisch still vor. Auf der Osterinsel fühlte ich mich immer wie fern unserer lauten und hektischen Welt. Es kam mir immer so vor, als sei »Isla la Pascua« gar nicht wirklich von unserer Welt, als sei sie eine wunderschöne Oase in der Zeit.
Angeblich soll es an Orten, wo Menschen schlimmes Leid ertragen mussten, spuken. Angeblich sollen dort, wo Menschen ermordet wurden, Geister ihr Unwesen treiben. Wenn dem so wäre, dann müsste die Osterinsel ein Ort des Grauens sein, wie es nur der Großmeister des Horrors, Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) plastisch beschreiben kann (1). Das Grauen in Lovecrafts wird förmlich spürbar dank der Erzählkunst dieses großartigen Schriftstellers, war und ist aber fiktiv. Das Grauen auf der Osterinsel aber, es war – leider – real und wird bis heute gern verschwiegen und verdrängt.
Ich muss zugeben, dass mich die wohlklingenden Namen von Höhlen aus alten Zeiten sehr viel mehr interessierten als die jüngere Historie des Eilandes. Ich besuchte den Steinbruch, also den Geburtsort der Riesenstatuen, liegende und aufgerichtete Steinkolosse und ich kroch in Höhlen. Ihre Namen ließ ich mir auf der Zunge zergehen, zum Beispiel »Ana Kai Tangata«. »Ana« bedeutet Höhle, »Kai« zählen und »Tangata« bedeutet »Leute« (»Höhle - zählen - Leute«).
In »Ana Kai Tangata« wurden die mutigen Männer gezählt, die den »Vogelmann-Kult« zelebrierten. Sie musste eine steile Klippe zum Meer hinab klettern, durch haireiches Gewässer zu einer winzigen Insel schwimmen. Es galt, das erste Ei einer Rußseeschwalbe heil zur Osterinsel zu bringen. Nicht wirklich klar ist bis heute, was das für den Sieger bedeutete. Wurde er zum »Osterinselpapst«? Möglich. Oder traten die sportlichen Schwimmer für ihre Stammeshäuptlinge an?
In der Ana Kai Tangata Höhle. Foto Jürgen Huthmann |
In »Ana Kai Tangata« wurden die mutigen Männer gezählt, die den »Vogelmann-Kult« zelebrierten. Sie musste eine steile Klippe zum Meer hinab klettern, durch haireiches Gewässer zu einer winzigen Insel schwimmen. Es galt, das erste Ei einer Rußseeschwalbe heil zur Osterinsel zu bringen. Nicht wirklich klar ist bis heute, was das für den Sieger bedeutete. Wurde er zum »Osterinselpapst«? Möglich. Oder traten die sportlichen Schwimmer für ihre Stammeshäuptlinge an?
Ich muss zugeben, ich liebte die Gesänge der Osterinsulaner in ihrer vokalreichen, so sanft klingenden Sprache. Aber wollte ich wirklich alles hören und verstehen, was sie uns mitteilen? Begierig notierte ich Überlieferungen von Make Make dem großen, fliegenden Gott der Osterinsel. Ich ließ mir immer wieder erklären, wie Make Make Menschen schuf, wie er ihm treu ergebene Menschen belohnte und wie er ungehorsame Menschen bestrafte. Da war die Rede davon, dass Make Make böse Menschen durch die Lüfte trug und auf einem winzigen Eiland aus nacktem Fels aussetzte. Da wurde berichtet, wie die Menschen aus dem Reich des »Atlantis der Südsee« erfuhren: durch einen Priester, den Make Make entführte und nach einer Himmelsreise auf der Osterinsel absetzte.
Ich interessierte – ich muss es zugeben – die fantastisch anmutende Zeit vor der Entdeckung der Osterinsel durch ach so zivilisierte Europäer. Das Grauen der Osterinsel unter »christlicher Herrschaft« verdrängte ich. Mag sein, dass es in der mythischen Zeit der Osterinsel Menschenfresserei gab. Die wirkliche Zeit des Grauens setzte aber erst ein, als sich Vertreter der »zivilisierten Welt« die Osterinsel aneigneten und die Geschicke der Menschen bestimmten.
Die reale Geschichte der Osterinsulaner ist nach dem Auftauchen von Vertretern der »zivilisierten Welt« von Grausamkeit und Brutalität geprägt.
1805. Der Schoner Nancy ankert vor der Osterinsel in der »Cooksbay«. Die Besatzung geht an Land, fällt über die ahnungslosen Osterinsulaner her. Wie viele Einheimische brutal niedergemetzelt werden, wir wissen es nicht. Ein zeitgenössischer Bericht beschreibt eine »blutige Schlacht«. Die Insulaner haben keine Chance, die Amerikaner sind ihnen dank ihrer Schusswaffen überlegen.
Männer und Frauen werden an Bord der Nancy, Heimathafen New-London, USA, gezerrt und gefesselt. Sie sollen als Sklaven auf der Insel »Más Afuera« (heute Alejandro Selkirk Insel, Juan-Fernández-Archipel) angesiedelt werden. Dort sollen sie für ihre »Besitzer« Seehunde jagen. Drei Tage lang hält man die Osterinsulaner in Fesseln. Als man schließlich den Männern die Eisen löste, stürzten sie sich in die Fluten.
Ein Boot wird zu Wasser gelassen, soll die Flüchtigen wieder einfangen. Das gelingt nicht. Die Männer tauchen, ertrinken lieben als dass sie in die Sklaverei gehen.
1811. »Pindos«, ein amerikanischer Walfänger, ankert vor der Osterinsel. Männer gehen an Land, fassen Frischwasser. Als die Wasservorräte ausreichen, fallen die Matrosen über die Einwohner der Osterinsel her. Sie haben es auf Frauen abgesehen, die sie brutal vergewaltigen und an Bord der »Pindos« verschleppen.
Dort »tobte sich die Besatzung in aller Scheußlichkeit aus«, wie ein zeitgenössischer Bericht vermeldet (2). Die schwer misshandelten, übel zugerichteten Frauen werden schließlich über Bord geworfen. Und dienen als lebende Zielscheiben für »Schießübungen«.
Dort »tobte sich die Besatzung in aller Scheußlichkeit aus«, wie ein zeitgenössischer Bericht vermeldet (2). Die schwer misshandelten, übel zugerichteten Frauen werden schließlich über Bord geworfen. Und dienen als lebende Zielscheiben für »Schießübungen«.
»Offensichtlich hatten deine Vorfahren keinerlei Rechte im 19. Jahrhundert…«, sagte ich aufrichtig bedauernd zu der bildschönen Osterinsulanerin, die mich mehrere Tage lang kreuz und quer auf der Insel herumfuhr und mir auch Höhlen zeigte, die für »Schnell-Schnell-Touristen« zu weit abseits von den Kurztouren liegen. Traurig sah mich die Schöne an. »Meine Vorfahren hatten im 19. Jahrhundert keine Rechte. Daran hat sich im 20. Jahrhundert nichts geändert!«
Die Menschen lebten in Angst auf »Isla la Pascua«. Nahte ein Schiff, versteckten sie sich in den zahlreichen Höhlen, um nicht als Sklaven verschleppt oder »nur« vergewaltigt zu werden. Im Herbst 1862 schaffte Peru die Sklaverei ab, offiziell und aus »humanitären Gründen«. An den realen Verhältnissen änderte sich aber nichts. Die Menschenhändler wollen auf ihre immensen Profite nicht verzichten. Sie treiben ihr »Handwerk« weiter, verschleppen weiter Menschen aus dem polynesischen Raum. Weiter werden Menschen auf der Osterinsel gefangen. Weiter werden die Menschen nach Peru geschafft, wo sie unter unsäglichen Bedingungen schuften müssen.
Da der Sklavenhandel aber inzwischen verboten ist, dürfen die Sklaven nicht mehr als Sklaven bezeichnet und auch nicht mehr verkauft werden. Also bekommen die Sklaven »Arbeitsverträge« und »dürfen« in Südamerika »einwandern«. Als Sklavenhandel noch offiziell erlaubt war, wurden die Sklaven auf Märkten feil geboten und wie Ware hin und her geschoben. Das ist nun nicht mehr statthaft. Stattdessen werden jetzt die Arbeitsverträge verkauft und gekauft. Wer einen »Arbeitsvertrag« erwirbt, der kauft de facto den dazugehörigen Sklaven mit, auch wenn der Sklave jetzt nicht mehr Sklave genannt wird.
Weihnachten 1862 liegen acht Schiffe vor der Osterinsel. Fast 100 Mann gehen an Land, locken die Insulaner an den Strand. Netze werden über die Menschen geworfen, sie werden gefesselt und von den Sklavenhändlern an Bord ihrer Schiffe gezerrt. Da noch Platz für weitere Sklaven ist, wird regelrecht Menschenjagd betrieben. Wer sich widersetzt, wird kaltblütig ermordet. Ein gewisser de Aguirre, Kapitän des spanischen Schiffs »Cora« tötet Osterinsulaner mit gezielten Schüssen. Auch der Koordinator der scheußlichen, verbrecherischen Aktion, ein gewisser Juan Maristany, erschießt eigenhändig Gefangene, weil sie sich seiner Meinung nach nicht schnell genug auf die Schiffe verladen lassen.
Einigen Flüchtenden gelingt es, sich in einer großen Zuckerrohranpflanzung zu verstecken. Zunächst schießen die Sklavenjäger ziellos, doch die Menschen zeigen sich nicht. Also wird die Plantage angezündet. Es kommt zu einem blutigen Gemetzel. Die Einheimischen bewerfen ihre Peiniger mit Steinen, die Vertreter der »Zivilisation« setzen bedenkenlos ihre Schusswaffen ein. Fünf der verbrecherischen Sklavenjäger kommen ums Leben, die Zahl der ermordeten Insulaner ist nicht bekannt.
Wir können das Grauen, das Vertreter der »zivilisierten Welt« – auch – auf der Osterinsel inszenierten nicht mehr vollständigen in seiner abartigen Abscheulichkeit erfassen. Zu spärlich sind die überlieferten Dokumente. Nackte Zahlen lassen Schlimmstes über die Umstände, unter denen die Sklaven schuften mussten, erahnen. Die menschenunwürdigen Zustände auf den Guanofeldern der Chincha-Inseln führten dazu, dass die meisten der Sklaven nicht lange überlebten. Größer waren die Überlebenschancen der Sklaven auf den Haciendas allerdings nicht. Im Chillón-Tal zum Beispiel starben 64 von 100 Sklaven, die aber nicht mehr als Sklaven bezeichnet werden durften. Sklaverei war ja schließlich verboten.
Das Grauen auf der Osterinsel – verantwortlich: »zivilisierte« Sklavenjäger – fand auf dem Festland Südamerikas seine Fortsetzung… verantwortlich: »zivilisierte« Haciendabesitzer. So unsäglich waren die Verbrechen, dass schließlich Vertreter der katholischen Kirche protestierten und eine Rückkehr der überlebenden Sklaven in die Heimat forderten.
Fußnoten
1) Obwohl H.P. Lovecraft schon im Alter von 47 Jahren starb, hinterließ er ein umfangreiches Werk der einzigartigen Horrorliteratur. Eine kleine Auswahl…. Lovecraft, H.P.: »Chronik des Cthulhu-Mythos I«, »Chronik des Cthulhu-Mythos II«, »Die lauernde Furcht – 24 Horrorgeschichten«, »Gesammelte Werke Band 1: Der kosmische Schrecken« und »Gesammelte Werke Band 1: Der kosmische Schrecken«, »Gesammelte Werke Band 2: Namenlose Kulte«.
2) Mazière, Francis: »Insel des Schweigens«, Berlin 1967
Zu den Fotos...
»In der Ana Kai Tangata Höhle.« Foto Jürgen Huthmann
Alle übrigen Fotos: Walter-Jörg Langbein
309 »Der Genozid«,
Teil 308 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 20.12.2015
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