Teil 179 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
Puri, im indischen Bundesstaat Orissa gelegen, ist das Rom des Hinduismus. In der Küstenstadt wird kein Geringerer als Jagannath verehrt: der »Herr des Universums«. Ende Juni bis Anfang Juli – der genaue Termin hängt vom Mondkalender ab – wird ein großes Fest gefeiert. Statuen von Jagannath und seinen Geschwistern Balabhadra und Subhadra werden auf heiligen Wagen durch die Straßen gezogen ... und das mehrere Tage lang.
Unzählige Pilger strömen Jahr für Jahr nach Puri. Jeder versucht, und sei es auch nur kurz, beim Bewegen der Statuen behilflich zu sein. Besonderer Andrang herrscht bei den Seilen, an denen die Wagen vorwärts gezogen werden. Wer auf diese Weise den Göttern hilft, der hofft auf Gnade, sprich auf schnelleren Wechsel vom irdischen Diesseits ins unbeschreibliche Nirvana.
Immer wieder kommt es vor, dass sich besonders eifrige Pilger vor die Götterwagen werfen und überrollen lassen. Diese religiös motivierten Selbstmörder haben es besonders auf den Wagen von Jagannath selbst abgesehen. Sie glauben, dass ihr irdischer Leib zerquetscht und dass jeder so Dahingeschiedene durch den »Herrn des Universums« selbst vom irdischen Jammertal ins unfassbare »Nirvana« katapultiert wird. (1)
Jagannath und seine Geschwister Balabhadra (männlich) und Subhadra (weiblich) bilden eine Göttertriade. Kurios: Auch die christliche Trinität, bestehend aus Gottvater, Sohn und Heiligem Geist, setzt sich aus zwei männlichen und einem weiblichen Wesen zusammen. Ist doch »der« Heilige Geist ursprünglich ... eine »Heilige Geistin« (ruach im »Alten Testament«). Jagannath entspricht als »Herr des Universums« am ehesten »Elohim« (2) des »Alten Testaments«. Während allerdings eine bildliche Darstellung des Bibelgottes per Gebot streng verboten ist, gibt es von den indischen Göttern unzählige Skulpturen und Gemälde.
Aus europäischer Sicht mag die typische Jagannath-Statue kurios anmuten. Sie wird meist aus dem Holz des Niembaumes geschnitzt, den die Hindus als heilig ansehen. Der Kopf des mächtigen Gottes ist überproportional groß. Die runden »Glotzaugen« erinnern an eine Brille. Bei allen Darstellungen von Jagannath fallen die bunten Farben auf. Beine fehlen ebenso wie Hände.
Warum Jagannath so unvollständig ausgeführt wird? Eine Erklärung fand ich in der Literatur nicht. Möglicherweise soll auf diese Weise verdeutlicht werden, dass Jagannath kein physisches Wesen im herkömmlichen Sinne ist. Er benötigt keine Beine, um sich fortzubewegen. Er erschafft das Universum ohne Hände, nur aus seiner geistigen Kraft. Mein Gesprächspartner in Sanchi stimmte mir zu: »Jagannath ist ein anderes Gesicht von Krishna, der schon als Baby Wunder bewirkte!«
Der »Jagannath-Tempel« in Puri ist ein gewaltiger Komplex. In seiner heutigen Form geht er auf Codaganga Anantavarman (1088-1160), Herrscher von Orissa, zurück. Er mag ältere Vorgänger gehabt haben. Für den mächtigen Regenten war Religion die wichtigste Stütze seiner Autorität. Gott Jagannath wurde zum eigentlichen Herrscher erklärt, der König selbst begnügte sich mit dem Amt des irdischen Stellvertreter Gottes. Wer es wagte, den irdischen Regenten zu kritisieren, der galt schon als Gotteslästerer. Ein Aufstand, eine Rebellion war dann ein Angriff auf den Gott des Universums, ein schlimmes Sakrileg. Rund vierhundert Jahre später vertrat Martin Luther die gleichen Lehren, nur im »christlichen Gewand«. Auch nach Luther ist der irdische Herrscher von göttlicher Autorität hienieden auf Erden. Als sich die Bauern gegen die unmenschliche Knechtschaft erhoben, war dies für Luther auch eine Art Sakrileg.
Puri ist für den Besucher seltsam fremd. Und doch fühlte ich mich wohl. Bei aller Turbulenz war doch eine ganz besondere Ruhe, ich möchte sagen Harmonie, zu spüren. Da schritt der offensichtlich bettelarme Pilger im schlichten Gewand gravitätisch wie ein Kaiser. Da knatterte ein Moped, da wartete geduldig ein Jeepfahrer in seinem Vehikel, bis eine dösende Kuh erwachte und den Weg freigab.
Da schob sich eine Fahrradrikscha ins Straßengetümmel. Dort ließ eine mit einem kleinen Motor laufende Rikscha einer greisen Marktfrau den Vortritt. In unseren Breiten wäre ein solch harmonisches Durcheinander nicht denkbar. Jeder Verkehrsteilnehmer würde auf sein unbestreitbares Recht pochen ... Es käme zu zahllosen Karambolagen. Warum geht es in Indiens Städten so viel friedlicher zu?
Und mitten im scheinbaren Chaos des Alltags ... thront seit rund 800 Jahren der heilige Jagannath-Tempel. Eine Fahne wehte stolz im Wind. Und ein gewaltiges, mit einfachen Mitteln errichtetes Gerüst umgibt den Haupttempel wie ein schützendes Netz. Mich hat der Tempel mit Gerüst an den legendären Turm zu Babel erinnert. Ob man im Lande Babylon auch mit solchen Gerüsten gearbeitet hat, auf denen Arbeiter bis in den Himmel empor steigen zu können scheinen? Wer hier zum Beispiel Steine über unzählige Leitern an die Spitze des Tempels tragen muss, der leistet Unglaubliches.
Ist es der Tempelkomplex, der Ruhe ausstrahlt? Der Tempel ist in Indien sehr viel mehr als ein »Gotteshaus« nach christlichem Verständnis. Er ist ein symbolisches Abbild des Universums. Der Tempel symbolisiert auch den Schöpfungsakt Brahmas, der aus dem ungeordneten Sein die geordnete Form gestaltete.
Im Zentrum des Universums ... des Seins ... befindet sich Brahma. Um diesen Kern legt sich die Welt der Götter, und zwar ringförmig. Die Götterwelt wiederum wird umschlossen von unserer Welt, in der wir leben. Am weitesten entfernt von Brahma ist der äußerste Bezirk. Hier haust die niedrigste und zugleich unheimlichste Gruppe: die der Gnome, Geister und Kobolde. »Am tiefsten in dieser Hierarchie stehen«, so heißt es in Henri Stierlins Werk »Indien/ Bauten der Hindus, Buddhisten und Jains«, »die Kobolde, Gnome und Geister. Sie bewohnen, ohne Verbindung zu den Göttern und zu Brahma, die Randzone der konzentrisch um das Brahma geordneten Welten.«
Der Bauplan eines typischen südindischen Tempels bildet mathematisch exakt diesen Kosmos von Supergott Brahma, von Göttern, Menschen und Kobolden ab. Der Grundriss eines Tempels wird penibel auf dem Reißbrett entworfen. Der Bauplan wird in quadratischer Form angelegt und in sechzehn mal sechzehn gleichgroße Felder unterteilt.
Der Architekt hat exakte Zahlenangaben, nach denen er sich richten muss. Jede der »Welten« hat eine vorgegebene Größe ...
Das Allerheiligste, Brahma: 16 Felder
Welt der Götter, zweiter Ring: 84 Felder
Welt der Menschen, dritter Ring: 96 Felder
Welt der Kobolde, vierter Ring: 60 Felder
Uralt ist das Geheimwissen um die göttliche Architektur. Vieles ist längst in Vergessenheit geraten, manches wurde gewiss falsch überliefert. Gesichert ist aber der Grundgedanke indischer Tempelbauweise: Der gesamte Kosmos trägt in sich einen göttlichen Plan. Aufgabe des Sthapati war es nun, das geheime Wissen um den Aufbau des Universums in Zahlen auszudrücken. Diese Zahlen wiederum wurden in geometrische Formen umgesetzt. Und nach diesen Formen wurden die Tempel gebaut! Der Eingeweihte konnte die uralten Bauten wie ein Buch lesen.
Es war die Aufgabe des Sthapati, das uralte Wissen in Stein zu verewigen. Papyrustexte, Palmblätter, Bücher, ja auch Disketten und CDs sind vergänglich. Stein überdauert Jahrtausende! Werden wir je die uralten Botschaften der indischen Tempelbauer wieder wie ein Buch lesen können?
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
Die Tempelwelt von Puri Foto: W-J.Langbein |
Unzählige Pilger strömen Jahr für Jahr nach Puri. Jeder versucht, und sei es auch nur kurz, beim Bewegen der Statuen behilflich zu sein. Besonderer Andrang herrscht bei den Seilen, an denen die Wagen vorwärts gezogen werden. Wer auf diese Weise den Göttern hilft, der hofft auf Gnade, sprich auf schnelleren Wechsel vom irdischen Diesseits ins unbeschreibliche Nirvana.
Immer wieder kommt es vor, dass sich besonders eifrige Pilger vor die Götterwagen werfen und überrollen lassen. Diese religiös motivierten Selbstmörder haben es besonders auf den Wagen von Jagannath selbst abgesehen. Sie glauben, dass ihr irdischer Leib zerquetscht und dass jeder so Dahingeschiedene durch den »Herrn des Universums« selbst vom irdischen Jammertal ins unfassbare »Nirvana« katapultiert wird. (1)
Jagannath und seine Geschwister Balabhadra (männlich) und Subhadra (weiblich) bilden eine Göttertriade. Kurios: Auch die christliche Trinität, bestehend aus Gottvater, Sohn und Heiligem Geist, setzt sich aus zwei männlichen und einem weiblichen Wesen zusammen. Ist doch »der« Heilige Geist ursprünglich ... eine »Heilige Geistin« (ruach im »Alten Testament«). Jagannath entspricht als »Herr des Universums« am ehesten »Elohim« (2) des »Alten Testaments«. Während allerdings eine bildliche Darstellung des Bibelgottes per Gebot streng verboten ist, gibt es von den indischen Göttern unzählige Skulpturen und Gemälde.
Supergott Jagannath - Foto: W-J.Langbein |
Warum Jagannath so unvollständig ausgeführt wird? Eine Erklärung fand ich in der Literatur nicht. Möglicherweise soll auf diese Weise verdeutlicht werden, dass Jagannath kein physisches Wesen im herkömmlichen Sinne ist. Er benötigt keine Beine, um sich fortzubewegen. Er erschafft das Universum ohne Hände, nur aus seiner geistigen Kraft. Mein Gesprächspartner in Sanchi stimmte mir zu: »Jagannath ist ein anderes Gesicht von Krishna, der schon als Baby Wunder bewirkte!«
Der »Jagannath-Tempel« in Puri ist ein gewaltiger Komplex. In seiner heutigen Form geht er auf Codaganga Anantavarman (1088-1160), Herrscher von Orissa, zurück. Er mag ältere Vorgänger gehabt haben. Für den mächtigen Regenten war Religion die wichtigste Stütze seiner Autorität. Gott Jagannath wurde zum eigentlichen Herrscher erklärt, der König selbst begnügte sich mit dem Amt des irdischen Stellvertreter Gottes. Wer es wagte, den irdischen Regenten zu kritisieren, der galt schon als Gotteslästerer. Ein Aufstand, eine Rebellion war dann ein Angriff auf den Gott des Universums, ein schlimmes Sakrileg. Rund vierhundert Jahre später vertrat Martin Luther die gleichen Lehren, nur im »christlichen Gewand«. Auch nach Luther ist der irdische Herrscher von göttlicher Autorität hienieden auf Erden. Als sich die Bauern gegen die unmenschliche Knechtschaft erhoben, war dies für Luther auch eine Art Sakrileg.
Puri ist für den Besucher seltsam fremd. Und doch fühlte ich mich wohl. Bei aller Turbulenz war doch eine ganz besondere Ruhe, ich möchte sagen Harmonie, zu spüren. Da schritt der offensichtlich bettelarme Pilger im schlichten Gewand gravitätisch wie ein Kaiser. Da knatterte ein Moped, da wartete geduldig ein Jeepfahrer in seinem Vehikel, bis eine dösende Kuh erwachte und den Weg freigab.
Geordnetes Chaos Foto: W-J.Langbein |
Und mitten im scheinbaren Chaos des Alltags ... thront seit rund 800 Jahren der heilige Jagannath-Tempel. Eine Fahne wehte stolz im Wind. Und ein gewaltiges, mit einfachen Mitteln errichtetes Gerüst umgibt den Haupttempel wie ein schützendes Netz. Mich hat der Tempel mit Gerüst an den legendären Turm zu Babel erinnert. Ob man im Lande Babylon auch mit solchen Gerüsten gearbeitet hat, auf denen Arbeiter bis in den Himmel empor steigen zu können scheinen? Wer hier zum Beispiel Steine über unzählige Leitern an die Spitze des Tempels tragen muss, der leistet Unglaubliches.
Ist es der Tempelkomplex, der Ruhe ausstrahlt? Der Tempel ist in Indien sehr viel mehr als ein »Gotteshaus« nach christlichem Verständnis. Er ist ein symbolisches Abbild des Universums. Der Tempel symbolisiert auch den Schöpfungsakt Brahmas, der aus dem ungeordneten Sein die geordnete Form gestaltete.
Im Zentrum des Universums ... des Seins ... befindet sich Brahma. Um diesen Kern legt sich die Welt der Götter, und zwar ringförmig. Die Götterwelt wiederum wird umschlossen von unserer Welt, in der wir leben. Am weitesten entfernt von Brahma ist der äußerste Bezirk. Hier haust die niedrigste und zugleich unheimlichste Gruppe: die der Gnome, Geister und Kobolde. »Am tiefsten in dieser Hierarchie stehen«, so heißt es in Henri Stierlins Werk »Indien/ Bauten der Hindus, Buddhisten und Jains«, »die Kobolde, Gnome und Geister. Sie bewohnen, ohne Verbindung zu den Göttern und zu Brahma, die Randzone der konzentrisch um das Brahma geordneten Welten.«
Ein Buch in Stein - Foto: W-J.Langbein |
Der Architekt hat exakte Zahlenangaben, nach denen er sich richten muss. Jede der »Welten« hat eine vorgegebene Größe ...
Das Allerheiligste, Brahma: 16 Felder
Welt der Götter, zweiter Ring: 84 Felder
Welt der Menschen, dritter Ring: 96 Felder
Welt der Kobolde, vierter Ring: 60 Felder
Formenreichtum eines Buches in Stein Foto: W-J.Langbein |
Es war die Aufgabe des Sthapati, das uralte Wissen in Stein zu verewigen. Papyrustexte, Palmblätter, Bücher, ja auch Disketten und CDs sind vergänglich. Stein überdauert Jahrtausende! Werden wir je die uralten Botschaften der indischen Tempelbauer wieder wie ein Buch lesen können?
Fußnoten
1 Kulke, Hermann: »Jagannātha-Kult und Gajapati-Königtum/ Ein Beitrag zur Geschichte religiöser Legitimation hinduistischer Herrschaft«, Wiesbaden 1979
2 »Elohim« ist ein Pluralbegriff und verweist eher auf einen alten Vielgötterglauben als auf den Eingottglauben der Bibel.
3 Stierlin, Henri (Herausgeber): »Indien/ Bauten der Hindus, Buddhisten und Jains«, Band 9 der Reihe »Architektur der Welt«, herausgegeben von Henri Stierlin, Köln, ohne Jahresangabe, S. 55
>> Neue Bücher von Walter-Jörg Langbein
»Der Vampir von Puri«,
Teil 180 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 30.06.2013
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