Sonntag, 17. November 2013

200 »Der Riese in der Dorfkirche I«

Teil 200 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein


Das Kirchlein im Herbst - Foto: W-J.Langbein

Die Oktobersonne wärmte immer noch. Sie ließ das herbstlich gefärbte Laub besonders bunt erscheinen, als ich in Dresden in mein Taxi stieg. Der Taxifahrer stutzte, als ich ihm mein Fahrziel mitteilte. »Dresden-Wilschdorf? Was wollen Sie denn da?« Noch verblüffter wurde sein Gesichtsausdruck, als ich antwortete: »In Wilschdorf steht die älteste Kirche Dresdens!« Davon hatte der wackere Chauffeur noch nie etwas gehört. Ich müsse mich irren.

Wintereinbruch am
27.10.2012 in
Wilschdorf bei Dresden.
 Foto:
Walter-Jörg Langbein
»Die älteste Kirche Dresdens ist die Stadtkirche, auch Kreuzkirche genannt. Soll ich Sie zur Stadtkirchen bringen?« Mein Ziel war aber die »St. Christophorus-Kirche« von Wilschdorf. Wieder korrigierte der Taxifahrer: »Sie wollen also nach Laubegast ... zur Chrisopheruskirche?« Ich beharrte auf meinem Ziel ... Wilschdorf ... »Christophorus-Kirche«.

Noch strahlte das bunte Herbstlaub im morgendlichen Sonnenlicht ... Es begann allerdings zu regnen. Aus vereinzelten Regentropfen wurde rasch ein heftiger Schauer ... und im idyllischen Wilschdorf begann es heftig zu schneien. Als das Taxi vor dem kleinen Kirchlein anhielt, wirbelten Schneemassen in heftigem Wind zu Boden. Das herbstliche Wetter war einem winterlichen Szenario gewichen, wie man es sich für die Weihnachtszeit wünscht.


Eine freundliche Mitarbeiterin der Kirchgemeinde schließt das kleine Gotteshaus auf. Knarrend öffnet sich die Türe. Im Vorraum steht ein altehrwürdiger Opferstock. Starke Eisenbänder schützen das  augenscheinlich recht alte Holz. Außerdem ist der Opferstock fest im Boden verankert. Ich erfahre, dass das gute Stück eine echte Rarität ist! Wann es gefertigt wurde, weiß niemand zu sagen. Bereits im Jahre 1637, so erfahre ich, suchten schwedische Truppen Wilschdorf heim. Sie plünderten und raubten ... auch den Opferstock. Offenbar ist es nicht gelungen, an die spärlichen Gaben heran zu kommen. Also nahmen die Schweden den Opferstock mit ... und ließen ihn irgendwo im Wald liegen. Zufällig wurde er wieder gefunden ... und ist seit 1967 wieder im Gebrauch.

Der uralte Opferstock
Foto: W-J.Langbein 
Im 18. Jahrhundert, so erfahre ich, wurde das Kirchlein vom Blitz getroffen. »Die Schäden müssen erheblich gewesen sein!«, heißt es. Rasch wurde renoviert. Und im Inneren wurde mehr Platz für die Gläubigen geschaffen ... auf der damals neu angebrachten Empore. Was damals aber nicht bekannt war: Unter unansehnlicher Farbe verbargen sich Wandmalereien aus dem frühen 15. Jahrhundert. Die Kunstwerke waren offenbar nach der Reformation im 16. Jahrhundert dem Geistlichen ein Ärgernis. Sie wurden übertüncht.

Als dann im 18. Jahrhundert die neue Empore angebracht wurde, wurden Teile der noch verborgenen Malereien beschädigt. Erst 1971 wurden alte Kunstwerke unter der Tünche entdeckt, aber erst 1972 bis 1985 freigelegt ... und das nur zum Teil. Bis heute fehlen die finanziellen Mittel, um die Malereien gänzlich wieder zum Vorschein bringen und fachgerecht restaurieren zu lassen. Bis dahin schlummert noch so manches Bildnis unter weißlicher Farbe, bleibt auf diese Weise aber bestmöglich konserviert!

Um Fresken im eigentlichen Sinn handelt es sich bei den Malereien nicht. Beim Fresko werden die Farben aufgetragen. Als Unterlage dient noch feuchter, in mehreren Schichten aufgetragener Putz. In der »St. Christophorus«-Kirche erfolgte die religiöse Malerei auf dem bereits trockenen Putz.

Ich wende mich vom Eingang aus nach links. Mittig an der linken Seitenwand ist die hölzerne Empore angebracht. Ich trete näher. Unter der Empore erkenne ich eine noch erstaunlich gut erhaltene farbige Malerei. Kaum zu glauben, dass sie fast sechs Jahrhunderte alt ist.

Die Empore an der Seitenwand
Foto: wikicommons, Paulae

Ich betrachte die Malerei genauer. Zwei Füße fallen mir auf. Zwischen den Füßen ist ein Fabelwesen zu erkennen. Es ist ein Mensch unbestimmbaren Geschlechts. Der Unterleib ist wie bei einer Wassernixe der eines Fisches. Das mythische Wesen bläst tüchtig in eine altertümliche Tröte. In der spätgotischen Kirche »St. Sixti«, Northeim, habe ich auch eine Nixe gesehen, allerdings splitternackt und unweit einer Teufelsfratze. »Sinnlichkeit und Dämonisches wurden hier verewigt!«, erklärte mir, sichtbar verlegen, ein Northeimer Geistlicher. »Wenn es nach mir ginge, würde diese unsittliche Schmiererei übermalt!« Dazu wird es hoffentlich nicht kommen!

Die »St. Christophorus«-Kirche hat eine lange Geschichte. Sie reicht bis ins 11. Jahrhundert zurück. Über einem der Füße des Christophorus, offenbar aber auf einer tieferen Schicht aufgetragen, findet sich in rotbrauner Farbe ... ein Weihekreuz. Ob es von den Erbauern des Sakralbaus, also vor rund einem Jahrtausend, angebracht wurde?

Weihekreuze wurden in den ältesten und geheimnisvollsten Gotteshäusern entdeckt. Zu den mysteriösesten Kirchen überhaupt darf man die Rundkirchen von Bornholm zählen. In  Bornholmer Rundkirchen, nämlich in der Nylars Kirche und in der Ny Kirke, wurden auf die Innenwände der Rundschiffe je ein Weihekreuz gemalt. Eine Heimatforscherin von Bornholm: »Diese Weihekreuze hatten durchaus magische Bedeutung! Sie sollten wie ein Amulett Böse fernhalten!« Böse? »Unsere runden Kirchen wurden ja als Wehrkirchen angelegt!«, erklärte mir die dänische Pädagogin. »Ständig musste mit Überfällen gerechnet werden. Die Menschen verschanzten sich dann in den Rundbauten, die effektiv zu verteidigen waren!«

Aber nicht nur vor »räuberischen Banden« hatten die Menschen damals Angst, sondern auch vor »feindlichen Truppen« und vor »Mächten der Finsternis, vor Satan und seinen Heerscharen!« Glaubte man, dass ein aufgemaltes Kreuz den leibhaftigen Teufel und sein Gefolge abhalten würden?

Die Füße des Riesen - Foto: W-J.Langbein

Das älteste Weihekreuz wurde meines Wissens in Portugal um das Jahr 1100 in das Mauerwerk der Kathedrale von Coimbra geritzt. Häufiger allerdings wurden Weihekreuze nicht auf Mauerwerk aufgetragen oder im Mauerwerk eingeritzt, sondern auf Deckplatten von Altären gemalt.

Prof. Hans Schindler-Bellamy, Archäologe aus Wien, erklärte mir im Interview: »Weihekreuze gehen auf sehr viel ältere magische Symbole aus vorchristlichen Zeiten zurück! Ihre ursprüngliche Bedeutung kennen wir nicht mehr. Wahrscheinlich sollten die vier Himmelsrichtungen dargestellt werden, also die gesamte Welt. Weihekreuze waren auch bei den Tempelrittern in Gebrauch, deren geheimes esoterisches Wissen bis heute auch nicht einmal im Ansatz bekannt ist. Bis zur Reformation war das Weihekreuz auch bei den Päpsten in Gebrauch, als »Hoheitszeichen«. Seither ist auch unter  dem Namen »Papstkreuz« bekannt.

So stehe ich vor dem vielleicht ältesten Stück Malerei in der »St. »Christophorus-Kirche« zu Wilschdorf, das vor fast einem Jahrtausend an das Gemäuer der kleinen Kirche gepinselt wurde. Ist es ein Zufall, dass man just dort den Heiligen Christophorus verewigte ... und eine doch aus heidnischen Überlieferungen bekannte Nixe mit Fischschwanz? Verbirgt sich hinter der »Nixe« die Erinnerung an Göttinnen aus Zeiten lange vor dem Christentum?

Aus der guten Göttin mag im Christentum die böse, verführerische Nixe geworden sein, die selbst den Frömmsten in Versuchung führen kann. Malte man sie als Abschreckung an Kirchenwände? Sollte den frühen Christen vor Augen geführt werden, dass die – im Volksglauben immer noch starke Göttin aus uralten Zeiten – für den frommen Christen als Symbol der verwerflichsten Sündhaftigkeit zu gelten hatte?

Stolze 3 Meter und 70 Zentimeter misst der Christophorus in der kleinen Kirche zu Wilschdorf, von den Füßen bis zum mächtigen Haupt. Kopf und mächtiger Stab des Riesen sind im Verlauf der Jahrhunderte arg verwaschen. Auch das Jesuskind mit seinem Heiligenschein ist auf der Schulter des Giganten kaum noch zu erkennen. Und ein Großteil des Christophorus befindet sich hinter der Rückwand der Empore.

Wilschdorf - Der Heilige Riese
mit dem Jesuskind
auf der Schulter
Foto: W-J.Langbein 
Wenn wir der Spur des Christophorus folgen, so führt sie uns in die Türkei. Bereits anno 454 soll in Chalkedon, dem heutigen Stadtteil Kadiköy in Ístanbul, dem Christophorus eine Kirche geweiht worden sein. Vermutlich ist Christophorus, der heute die Autofahrer beschützen soll, ein alter Gott aus heidnischen Zeiten im christlichen Gewand. Christophorus soll ein menschenfressendes, hundsköpfiges Monster gewesen sein. Durch die auf »wundersame Weise erhaltene Taufe« wurde aus dem stummen Riesen namens Probus oder Reprobus Christophorus, ein wortgewandter Missionar für den christlichen Glauben, der mit großem Erfolg Heiden zum Christentum bekehrte.


In Lykien verstand Christophorus die fremde Sprache der Menschen nicht. Er betete verzweifelt zu Gott, schon beherrschte er die Sprache Lykiens und predigte mit großem Erfolg. Allerdings mussten die so für den neuen Glauben gewonnenen Menschen erst noch bitter büßen. Sie wurden auf Geheiß des Herrschers gemartert und getötet.

Befremdlich wirkt auf mich, dass die Bekehrung zum »wahren Glauben« den von Christophorus Getauften Schmerz und Tod brachte. Geradezu genüsslich wird in alten Legenden beschrieben, dass vom heidnischen König ausgesandte Truppen den Riesen nicht überwältigen, geschweige denn töten konnten. Stattdessen wurden die hartgesottenen Soldaten selbst bekehrt ... und zur Strafe vom König zum Tod verurteilt.

Ob es einen historischen Christophorus gegeben hat? Wahrscheinlich eher nicht. »Christophorus« war ursprünglich ein Ehrentitel für Märtyrer, die ihr Leben für den neuen christlichen Glauben gelassen haben. Christophorus selbst soll ja auch als Märtyrer gestorben sein. Der Legende nach wirkte er nach seinem Tod noch ein Wunder. Er soll jenen König, der ihn töten ließ, von Blindheit geheilt haben. Vor seiner Hinrichtung riet Christophorus dem hasserfüllten König, sich nach seiner Enthauptung ein Gemisch aus seinem Blut und Erde auf die Augen zu schmieren. Der Monarch tat das, wurde wieder sehend ... und ließ sich der Legende nach taufen.

Wilschdorf - Blasende Nixe
zwischen den Füßen des Riesen - Foto: W-J. Langbein

Der Ursprung der Christophorus-Legende ist so alt nicht. Im 13. Jahrhundert taucht sie in der berühmten »Legenda Aurea« des Jacobus de Voragine und einem Hymnus des Mailänders Origo Scaccabarozzi auf. Ein Zehn-Meter-Riese sucht den mächtigsten Herrscher der Welt. Schließlich gelangt er, nach einigen Suchen, an einen Fluss. Dort verdingt er sich als Fährmann ohne Boot. Dank seiner gewaltigen Körpergröße kann er den Fluss durchwaten und Menschen ans andere Ufer tragen. So scheint es eine seiner leichtesten Aufgaben zu sein, ein kleines Kind ans andere Ufer zu bringen. Doch unter dem schier unendlichen Gewicht droht Christophorus fast zu ertrinken. Sein kleiner Passagier gibt sich zu erkennen. «Mehr als die Welt hast du getragen«, soll das Kind zu ihm gesagt haben. Und weiter: »Der Herr, der die Welt erschaffen hat, war deine Bürde!« Das Jesuskind selbst drückte den unendlich starken Riesen unter Wasser ... und taufte ihn.


Der Riese in der Dorfkirche II,
Teil 201 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                                                                                              
erscheint am 24.11.2013



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