Sonntag, 13. Juli 2014

234 »Alte Götter, neue Götter, tote Götter…«


Teil 234 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein


Der steinerne Koloss wendet dem Meer den Rücken zu und blickt ins Landesinnere. Warum? Warum starren die steinernen Kolosse – mit einer Ausnahme – nie aufs Meer hinaus? Sollten sie etwa Angst vor den Fluten gehabt haben? Galt ihre ganze Aufmerksamkeit der Besiedlung des Landes? Oder wollten sie demonstrieren, dass ihnen die Wassermassen herzlich gleichgültig waren? Wir wissen es nicht. Und die Osterinsulaner schweigen…

Der Riese schaut ins Land. Foto Ingeborg Diekmann

Die Besiedelung der Südsee vor Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden stellt eine gewaltige seefahrerische Leistung dar. Die winzigen Eilande in den schier unendlichen Weiten des Pazifik wirken verloren wie Sterne im gigantischen Universum. Mit berechtigter Bewunderung stellt Annie Francé-Harrar fest (1): »Es ist also sehr merkwürdig, daß man den alten Melanesiern und Polynesiern nicht mehr und nicht weniger zutraut, als die Eroberung des Stillen Ozeans, und das ist, an ihrer Zivilisation gemessen, eine unvergleichlich größerer Leistung, als alle europäischen Entdeckungsfahrten von Marco Polo bis Columbus zusammen.«

Das ist wohl wahr! Wenn man von einer europäischen Küste einfach gen Westen reist, kommt man zwangsläufig irgendwann an einer amerikanischen Küste an. Der amerikanische Kontinent ist nicht zu verfehlen. Wenn man aber von einem mikronesischen Eiland auf einem kleinen Floß in See sticht und sich gen Osten vorkämpft, dann grenzt es schon an ein Wunder, wenn die wagemutigen Seefahrer die winzige Osterinsel treffen. Man muss sich fragen, wie viele Expeditionen einst losgeschickt wurden und wie wenige wohl eine rettende Insel erreicht haben mögen! Wie viele dieser frühen Seefahrer mögen wohl in den Weiten des gar nicht immer so friedlichen, riesigen Pazifik umgekommen sein? So muss die Entdeckung und Besiedlung von Inseln im Pazifik von Polynesien aus als gewaltige Leistung angesehen werden.

Die »Entdeckung« der Südseeinseln durch »zivilisierte« Europäer war dank modernen Wissens um Navigation sehr viel einfacher, für die Bewohner der Eilande aber in der Regel eine Katastrophe. Die Vertreter der vermeintlich so viel höher stehenden modernen Zivilisationen gaben gern vor, dass den armen, unwissenden Heiden das segensreiche Christentum nahegebracht werden sollte. Annie Francé-Harrar konstatiert erschüttert (2): »Das alte Kolonialwort, daß dem Missionar der Händler, dem Händler der Soldat folgt, hat für die Südsee in weitestem Maße gegolten. Auflehnung gegen das oft ungeschickte und gewalttätige Vorgehen einzelner Missionsbrüder haben nicht selten das Eingreifen von Kriegsschiffen und den Tod vieler Farbigen (sic) nach sich gezogen. So geschah es zum Beispiel den Neukaldoniern, die 1862 aus Protest die Mission von Houagap belagerten (ohne freilich jemandem ein Leides zuzufügen) und denen aus ›Revanche‹ die Brigg ›Gazelle‹ dann alle Pflanzungen zerstörte, die Häuptlinge – auch jene, die sich ergaben – niederschoß, viele Kanaken ums Leben brachte und denen Land fortnahm, um es unter die europäischen Kolonisten zu verteilen.«

Osterinselidyll 19. Jahrhundert. Foto Archiv

In den vergangenen Jahrzehnten lernte ich auf meinen Reisen in Südamerika wie in der Südsee so manchen Missionar kennen. Speziell in Südamerika – zum Beispiel in Peru und Bolivien – setzen sich viele Geistliche für die Interessen der Ärmsten der Armen ein, was offenbar keineswegs bei den Vertretern der Amtskirchen nur auf Begeisterung stößt. In der Südsee – auf der Osterinsel, in Mikronesien und auf den Neuen Hebriden, zum Beispiel – überwog meiner Beobachtung nach die Verbreitung des christlichen Glaubens. Vordergründig betrachtet kann man derlei Bemühungen frommer Glaubensbrüder allenfalls belächeln, aber doch nicht negativ bewerten. Allerdings geht die Überzeugungsarbeit für das Christentum auf Kosten alter Glaubenswelten.

Es besteht die Gefahr, dass die »Heiden« ihre Wurzeln verlieren, der eigenen Kultur entfremdet werden. Dieser Prozess ist ein schleichender. Nicht selten wird der christliche Glaube im Gewand der einheimischen Kulte und Religionen angeboten. Im Bereich des mysteriösen »John-Frum-Kults« der Südsee etwa agieren christliche Missionare und deren Gehilfen recht effektiv. Sie bieten nicht etwa den Jesus des »Neuen Testaments« als Alternative zum verehrten »John Frum« an, sondern lassen als »John Frum« verkleidete Jesusse bei Zeremonien auftreten. So verschwinden die Unterschiede zwischen »John Frum« und »Jesus« und Anhänger von »John Frum« sind sehr viel geneigter, »Jesus Frum« anzunehmen.

Schon vor fast einem Jahrhundert monierte Annie Francé-Harrar arbeiten manche Missionare durchaus wissenschaftlich und publizieren interessante Werke über die Glaubenswelten alter Südseevölker. Aber, so Annie Francé-Harrar (3) »da sie wirklich und in allem ein Staat im Staate sind, der niemandem Rechenschaft gibt, so handeln sie nur nach ihren vorgeschriebenen Glaubensinteressen, die ihnen gebieten, das natürliche Eingeborenenleben von Grund auf zu ändern, die alten Künste und Gebräuche abzuschaffen, das Selbstbewußtsein des Farbigen zu brechen und ihm dem Dienst bei seinem ›weißen Bruder‹ geneigt zu machen.«

Alte, für die Südsee typische, religiös fundierte Kultur wurde zerstört. Das so entstandene Defizit wurde und wird aber durch neue Religionsformen oft nur vordergründig behoben. So entstand ein Mangel an Verbundenheit zu den eigenen Wurzeln. Auch erschienen die christlichen Missionare in der Südsee nicht immer als wirklich glaubwürdig, speziell dann nicht, wenn sich unterschiedliche christliche Gruppierungen – katholische, protestantische, amerikanische Sekten – untereinander bekämpften.

Bei meinem Besuch in Tahiti erfuhr ich, dass Ende des 19. Jahrhunderts nicht wenige, vormals hoch angesehene Einheimische nur den Suizid als Ausweg sahen. Die Missionsarbeit hat sich – polemisch ausgedrückt – als durchschlagender Erfolg erwiesen. Die alten Glaubenswelten waren gezielt ins Lächerliche gezogen, als Teufelswerk verurteilt und planmäßig zerstört worden. Die einst im alten Glauben tief verwurzelten »Heiden« standen vor dem Trümmerhaufen ihrer geistigen Welt. Sie waren zur Überzeugung gebracht worden, dass ihre alten Götter tot waren. Sie konnten aber die neuen Götter nicht als »Ersatz« akzeptieren.

Die berühmte christliche Dreifaltigkeit empfanden sie als drei neue Götter (Mehrzahl), die ihrem Leben keinen neuen Sinn gaben. (4)

In das Leben der Osterinsulaner griff die »christliche Welt« im 19. Jahrhundert vor allem in Gestalt von Sklavenhändlern ein, die einen Großteil der Bevölkerung verschleppten 1862 sollen rund 5 000 Osterinsulaner verschleppt und versklavt worden sein. Die Geknechteten starben unter unmenschlichen Bedingungen in großer Zahl. Die wenigen Überlebenden, die schließlich auf die heimatliche Osterinsel zurückkehren durften, brachten Epidemien mit, denen fast die gesamte Bevölkerung des Eilands zum Opfer fiel. Ironie des Schicksals: Die todbringende Heimkehr überlebender Sklaven erfolgte auf Betreiben der katholischen Geistlichkeit. Das Christentum hat so fast die gesamte Bevölkerung der Osterinsel ausgelöscht.

Ausgelöscht wurde auch weitestgehend die Geschichte eines mysteriösen Inselvolks, das einst – so wird es überliefert – aus dem Westen der Südsee Zuflucht auf der Osterinsel fand, weil die eigene Heimat in den Fluten der Südsee versank. Weitestgehend verdrängt und vergessen wurden die Erinnerungen an Götter und Göttinnen der Osterinsel. Die meisten Wissenden wurden einst als Sklaven verschleppt oder kamen bei Epidemien ums Leben. Und dennoch wurden noch Mythen überliefert, auswendig gelernt und weitergereicht. Ich bin davon überzeugt, dass es auch heute noch einzelne Eingeweihte auf der Osterinsel gibt, die Fremden gegenüber Stillschweigen wahren. Ob eines Tages die »sprechenden Hölzer« wieder zum Reden gebracht werden können?

Eines der »sprechenden Hölzer«. Foto wiki commons, gemeinfrei

Bischof Tepano Janssen interessierte sich in den 1860-er Jahren für die hölzernen Täfelchen mit geheimnisvollen Schriftzeichen. Bruder Eyraud sollte nun, vom Bischof beauftragt, möglichst viele der Schrifttäfelchen einsammeln. »Seine Bitte kam leider zu spät.«, stellt Jacek Machowski (5) fest. »Die fanatischen Missionare nämlich, die in diesen Tafeln einen Gegenstand heidnischen Kults entdeckt zu haben glaubten, hatten die Tafeln erbarmungslos vernichtet und sie unter anderem als Feuerholz in der Missionsküche verwandt.«

Vermutlich würde so manches Geheimnis der Osterinsel geklärt, wenn wir wieder den »sprechenden Hölzern« lauschen könnten. Angeblich dienten sie einst  beim Vortragen der alten Mythen und Sagen als Gedächtnisstütze. Nur Auserwählte sollen die Kunst beherrscht haben, die Botschaften der Holztafeln zu entschlüsseln. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts soll es eine Schule gegeben haben, in der die Zeichen und ihre Bedeutung gelehrt wurden. Die Wissenden aber wurden in die Sklaverei verschleppt, starben unter den Lasten der Arbeit.. oder wurden von Krankheiten dahingerafft. Bedenkt man, dass aus unserer »zivilisierten Welt« nur Tod und Verderben aufs Eiland in der Südsee kamen, wäre es ein Wunder, wenn heutige Wissende uns »Zivilisierte« einweihen würden…..

Osterinselschrift... Foto wiki commons, gemeinfrei


Fußnoten

1) Francé-Harrar, Annie: »Südsee/ Korallen – Urwald – Menschenfresser«, Berlin 1928, S.143 Hinweis: Die Zitate werden, auch in der Orthografie, unverändert wiedergegeben und nicht nach Regeln der Rechtschreibreformen »korrigiert«. Unverändert übernommen wurden auch Begriffe, die der heutigen politischen »Korrektheit« nicht mehr entsprechen.
2) ebenda, S. 160
3) ebenda
4) ebenda, S. 161: ».. denn die alten Götter seien tot, und es hätte für sie keinen Sinn mehr zu   leben«.
5) Machowski, Jacek: »Insel der Geheimnisse/ Die Entdeckung und Erforschung der Osterinsel«, Leipzig 1968, S. 12

Wenn er nur sprechen könnte... Foto W-J.Langbein


Literaturempfehlungen

Bacon, Edward (Herausgeber): Versunkene Kulturen/ Geheimnis und Rätsel früher Welten, Volksausgabe, München 1970
Bahn, Paul und Flenley, John: Easter Island, Earth Island/ A message from our past for the future of our planet, London 1992
Barthel, Thomas S. et al.: 1500 Jahre Kultur der Osterinsel/ Schätze aus dem Land des Hotu Matua/ Ausstellungskatalog, Mainz 1989
Berg, Eberhard: Zwischen den Welten/ Anthropologie der Aufklärung und das Werk Georg Forsters, Berlin 1982 (Die Osterinsel: Verschiedene Grade von Cultur S. 99-101)
Blumrich, Josef F.: Kasskara und die sieben Welten, Wien 1979
Brown, John Macmillan: The Riddle of the Paific, Honolulu, Hawaii, Nachdruck 1996
Diamond, Jared: Kollaps/ Warum Gesellschaften überleben oder untergehen, erweiterte Neuausgabe, Frankfurt 2011 (Teil 2/ Kapitel 2: Schatten über der Osterinsel, S. 103-154)
Felbermayer, Fritz: Sagen und Überlieferungen der Osterinsel, Nürnberg 1971
Francé-Harrar, Annie: Südsee/ Korallen – Urwald – Menschenfresser, Berlin 1928 (Osterinsel S. 143-152)
Heyerdahl, Thor: Aku-Aku/ Das Geheimnis der Osterinsel, Berlin 1972
Lee, Georgia: The Rock Art of Easter Island/ Symbols of Power, Prayers to the Gods, Los Angeles 1992
Machowski, Jacek: Insel der Geheimnisse/ Die Entdeckung und Erforschung der Osterinsel, Leipzig 1968


Ein steinernes Idol und Pferde am Strand. Foto W-J.Langbein


Mann, Peggy: Land of Mysteries, New York 1976
Métraux, Alfred: Ethnology of Easter Island, Honolulu, Hawaii, 1971
Orliac, Catherine und Michel: Mysteries of Easterisland, London 1995
Petersen, Richard: The Lost Cities of Cibola, Phoenix 1985 (Island of Mystery, chapter 10, pages 219 fff.)
Richter-Ushanas, Egbert: Die Schrifttafeln der Osterinsel in der Lesung Metoros und Ure Vaeikos, Bremen 2000
Rosasco, Jose Luis und Lira, Juan Pablo: Easter Island The Endless Enigma, Santiago 1991
Routledge, Katherine: The Mystery of  Easter Island, 1919, Nachdruck Kempton 1998
Winkel, Karl zum: Köpfe, Schlangen, Pyramiden in Lateinamerika/ Alte Kulturen von Mexiko bis zur Osterinsel, Heidelberg 2001


»Drei Göttinnen im Dom«,
Teil 235 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                        
erscheint am 20.7.2014



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