Teil 260 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
Autor Langbein in Orissa. Foto I. Diekmann |
Aus winterlich-kalten Gefilden ging’s in die Gluthitze von Orissa (heute Odisha) am Golf von Bengalen. Ein kleiner Reisebus, ausgestattet mit allem Komfort, brachte uns von Tempel zu Tempel. Erschöpft wankten wir zwischen Ruinen und bestens rekonstruierten Kultbauten. Zurück im Bus umwehte uns angenehm kalte Luft aus der auf Hochtouren laufenden Klimaanlage. Der ständige Wechsel zwischen erfrischender Kühle und strapaziösen Hochtemperaturen erwies sich bei mir als gesundheitlich abträglich. Fieber, Schnupfen, Heiserkeit und Schüttelfrost suchten mich heim. Unser Busfahrer hatte schnell zwei Heilmittel zur Hand:
Ein Fläschchen mit hochprozentigem Rum und ein Döschen mit Schnupftabak. Letzerer, so hatte ich das Gefühl, würde nicht nur meine Nasenschleimheute wegätzen, sondern gleich die ganze Nase. Und der Rum schmeckte so, wie ich mir in jungen Jahren Feuerwasser bei der Lektüre von Karl Mays Amerika-Romanen vorgestellt habe, nämlich scharf und scheußlich. Indes… Die Kur zeigte bald die erwünschte Wirkung. Ich konnte weiter Ruinen und Tempel erkunden… und das bei rund 30 Grad im Schatten.
Der Bundesstaat Odisha hat unzählige hochinteressante Tempel zu bieten, besser gesagt hatte. Der größte Teil dieser sakralen Bauten ist inzwischen verschwunden. Die ältesten dürften zwei Jahrtausende alt gewesen sein. Trotzdem sind noch so viele der steinernen Gotteshäuser erhalten, so dass man viele Wochen, ja Monate vor Ort verbringen könnte. In der Hauptstad von Odisha, Bhubaneswar, finden sich heute noch rund 500 Tempel, ursprünglich sollen es 7 000 gewesen sein. Unklar ist, wie viele Kulthöhlen genutzt wurden, lange bevor die ersten steinernen »Gotteshäuser« errichtet wurden. Offiziell nicht bekannt ist, in wie vielen solcher Höhlen sich heute noch Gläubige versammeln, ungestört durch Touristen.
Marodes Tempelchen. Foto W-J.Langbein |
Fernab der Touristenpfade gibt es auch noch so manchen kleinen Tempel, der alles andere als ein museales Schaustück ist. Gerade besonders große und aufwändig rekonstruierte und restaurierte Bauwerke ziehen Touristen in großen Scharen an. So imposant diese Denkmäler fantastischer Baukunst der alten Inder auch sind, so »leben« sie längst nicht mehr. Sie waren einst als Stätten der Andacht und Besinnung konzipiert, nicht als Attraktion für neugierige Besucher ohne Respekt vor fremdem Glauben. Beeindruckend ist die Toleranz, die in Hindu-Tempeln praktiziert wird. Das mag daran liegen, dass es kein »heiliges Buch« gibt, das genau festlegt, was der Gläubige als unumstößliche Wahrheit anzusehen hat. Im Hinduismus gibt es keine Definition, was »rechter Glaube« und was »ketzerisch« ist.
Hunderttausende, nein Millionen von Hausaltären gibt es in Indien, in Privathäusern von Hindus. Da können sich neben Figürchen von Brahma, Shiva und Vishnu problemlos auch solche von Jesus und Maria finden. Ich selbst sah einmal in einer Privatwohnung bei einer Einladung eine Krippe, die zur Adventszeit in jeder christlichen Kirche hätte stehen können. Doch statt des Jesuskindes lag der elefantenköpfige Ganesha darin. Einer der Beinamen Ganeshas lautet »Herr der Scharen«. Just diesen Beinamen - »Herr Zebaot« oder »Herr der Scharen« - trägt auch der Gott des Alten Testaments. (Beispiel: 1. Samuel 1, 3!)
Glücksbringer Ganesha. Foto W-J.Langbein |
Und neben der Krippe aus dem Stall von Bethlehem stand keine Geringere als Parvati, die Gütige, selbst. Ein Esel fehlte allerdings, stattdessen kauerte da ein stolzer Tiger, das Reittier der Muttergöttin Parvati. Es gibt nicht wenige Hindus, die glauben (wie Christen), Jesus sei als Retter auf die Erde gekommen. Andere wiederum sehen in Jesus den wiedergeborenen Ganesha. Und wiederum andere verstehen »Ganesha« und »Jesus« als zwei Namen des gleichen göttlichen Wesens. Für andere wiederum sind »Jesus«, »Ganesha« und alle sonstigen göttlichen Wesen Verkörperungen der unendlichen göttlichen Energie.
Große Summen werden aufgebracht, um monumentale Tempelanlagen für Besucher aus dem Ausland möglichst attraktiv zu gestalten. Die Reisenden bringen wiederum Geld ins Land, was die Investitionen in steinalte Kultur sinnvoll erscheinen lässt. Aber fernab der Touristenströme gibt es – besonders auf dem Land – eine Vielzahl kleinerer Tempel, die oftmals recht baufällig sind. Es steht nicht genug Geld zu Verfügung, um auch nur einen Bruchteil der heute zusehends verfallenden Tempel zu erhalten oder gar zu restaurieren. Diese kleinen sakralen Bauwerke sind keine Denkmäler der archäologischen Künste, auch keine »Magnete« für Touristenströme, sondern »nur« Räume des Glaubens. Sie sind in Armenvierteln anzutreffen, vollständig integriert in das Alltagsleben. Man mag bedauern, dass sie langsam verfallen. Andererseits würden sie wahrscheinlich restauriert bald keine »lebenden« Tempel mehr sein.
Mukteshwara-Tempel. Foto Walter-Jörg Langbein |
Ein Beispiel: In einem Hüttchen wurden Einmachgläser mit verschiedenen Gemüsesorten angeboten. Auf einer Wäscheleine trockneten bescheidene Kleidungsstücke. Und im Hintergrund trotzte ein Tempelturm aus uralten Zeiten wacker so gut er konnte dem Zahn der Zeit, der schon deutliche Spuren hinterlassen hatte. Ein Foto aus respektvollem Abstand habe ich aufgenommen, auf weitere Fotos aber verzichtet.
Geradezu rührend war die schlichte Ganesha-Statuette, aus Holz geschnitzt, vor der Gläubige bescheidene Opfergaben ablegten. Eine vom Wetter gegerbte alte Dame verharrte lange (im stillen Gebet?) und schenkte dann Ganesha eine winzige exotische Blüte. Beim Weggehen nickte sie mir freundlich zu. Ich glaube, sie freute sich, weil ich als Fremder aus fernen Landen »ihrem« Ganesha meine Aufwartung machte. Leider benehmen sich aber Besucher aus der sogenannten »zivilisierten Welt« an den ältesten Kultstätten unseres Planeten alles andere als »kultiviert«. Eine Minderheit schreckt selbst vor Beschädigungen nicht zurück. Ein Besucher der Osterinsel wurde mit einem Stück einer der Riesenstatuen erwischt, das er abgeschlagen hatte und als »Souvenir« mit in die Heimat nehmen wollte. Ein anderer Reisender schlug Stückchen von Steinen der Cheopspyramide ab, um sie in einer häusliche Vitrine zur Schau zu stellen. Weitaus mehr »Gäste« legen in fremden Ländern nur ein inakzeptables, herablassendes Benehmen an den Tag.
Mythologie in Stein... Foto W-J.Langbein |
»Traum in Sandstein« wird der Tempel von Mukteshwara genannt, weil die Kultanlage aus rötlichem Sandstein gebaut wurde, vor allem aber weil sie über und über mit einer Vielzahl von konkret-figürlichen wie abstrakt-ornamentalischen Kunstwerken geschmückt wurde. Zahlreiche Göttinnen und Götter wurden von Steinmetzen geschaffen, denen noch heute von gläubigen Menschen geopfert wird. Die meisten Hindus lehnen – anders als andere Religionen – blutige Opferrituale, die mit Tieren zelebriert werden, ab. Statt Tierblut wird den Göttinnen und Göttern gern der berühmte »Pooja Honey« dargeboten. Der köstliche Honig ist überall zu haben, auch in winzigen Mengen. »Es kommt nicht auf die Größe der Gabe an, die man den Göttinnen und Göttern schenkt!«, erklärte mir eine örtliche Reiseleiterin. »Wichtig ist allein die Einstellung des Gebers! Er anerkennt die hohe Stellung des Göttlichen, die für den Hindu viele Namen haben kann!«
Im Tempel von Mukteshwara begegnete ich einem Studenten, der mir von Dr. Shikaripur Ranganatha Raos (1922-2013) hochinteressanten, ja sensationellen Arbeiten berichtete. Uralten heiligen esoterischen Schriften Indiens zufolge gründete Sri Krishna einst die legendäre Stadt Dvaraka. Westliche Indienexperten schenkten derlei Überlieferungen selten Glauben, weil die vorgeschichtliche Metropole im altindischen Mahabharata auch als Austragungsort von gewaltigen Schlachten (bei denen Furcht einflößende Flugvehikel zum Einsatz kamen) zwischen himmlischen Göttern und Menschen erwähnt wird. Dr. Shikaripur Ranganatha Rao hat in Jahrzehnten intensiver archäologischer Arbeit schon mehrere mythologische Stätten Indiens als einst real existierend nachgewiesen.
Göttin in Stein... oder Tempeltänzerin? |
Der angesehene Wissenschaftler, langjähriger leitender Mitarbeiter an diversen wissenschaftlichen Instituten Indiens (»Indian National Science Academy«, »Department of Science and Technology«, »Council of Scientific and Industrial Research«, »National Institute of Oceanography«) fand nun auch Dvaraka: an der Westküste Indiens....auf dem Meeresgrund. Nördlich von Porbandar an der Mündung des »Gulf of Kachchh« kamen kürzlich umfangreiche unterwasserarchäologische Untersuchungen einen vorläufigen Abschluss. Über Jahrzehnte hinweg war immer wieder intensiv getaucht worden. Unzählige Artefakte wurden vom Meeresboden geborgen. Sie stammen mindestens aus dem zweiten Jahrtausend vor Christus! Wann Dvaraka überflutet wurde, konnte bislang nicht definitiv bestimmt werden.
Tipp für Reisende
Besuchen Sie das »Museum of Tribal Arts & Artifacts«. Adresse: Off CRP-DAV Road, Near CRP Square, Palika Nagar, Bhubaneswar, 751015, Indien. Montags ist das Museum geschlossen. Das Museum informiert ausführlich über die verschiedenen Stämme, deren Lebensgewohnheiten, Bräuche, Kunst, Schmuck, Waffen.
Literaturempfehlungen
Göttin in Stein. Foto W-J.Langbein |
Franz, Heinrich Gerhard: Das alte Indien/ Geschichte und Kultur des
indischen Subkontinents, München 1990
Rao, Dr. P.V.L. Narasimha: Kanchipuram/ Land of legends, saints and
temples, New Delhi 2008
Thompson, Richard L.: Vedic Cosmography and Astronomy, Los Angeles
1990
Hinweis zu den Fotos
Mit Ausnahme des ersten Fotos (aufgenommen von
Ingeborg Diekmann) stammen alle Fotos von
Walter-Jörg Langbein. Copyright: Walter-Jörg Langbein
261 »Die Schlangengöttin«,
Teil 261 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 18.01.2015
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