»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
Foto 1: Spukt es in Kuelap? |
»Völlig erschöpft erreicht ich die mysteriöse Ruine der einstigen Metropole der Chachapoyas. Es war kalt. Die Luft war – kein Wunder, bei einer Höhe von 3.000 Metern über dem Meeresspiegel – natürlich sehr dünn. Jeder Atemzug tat weh. Plötzlich war ich in Nebel getaucht. Oder waren es dichte Wolken? Eben noch hatte ich die gewaltige Mauer von Kuelap in greifbarer Nähe gesehen. Jetzt war sie verschwunden! Eben war mir noch angenehm, von der Temperatur her. Und jetzt war mir kalt.«
Foto 2: Ingeborg Diekmann |
So schilderte mir Archäologie-Student Werner Kaiser (1) seinen Besuch in Kuelap. Nach einem Diavortrag über »Peru und seine Geheimnisse« waren wir ins Gespräch gekommen. Ich hatte auch über meinen Besuch in Kuelap berichtet.
Tagelang habe ich mich vor Ort aufgehalten. Ich bin außen die Monstermauer abgeschritten. Ich habe die schmalen Ein- und Ausgänge studiert wie steinerne Bücher. Steile Treppen führen durch hohe, schmale, künstlich geschaffene Spalten durch die Monstermauer in das Innere der wehrhaften Stadt. (Foto 2, links: Ingeborg Diekmann hat einen der engen Eingänge fast durchschritten.)
Türen oder Tore waren nicht erforderlich. Es genügten wenige
Verteidiger, die jedes Eindringen unmöglich machen konnten. Von oben
wurden die Feinde mit Steinen beworfen. Tödlich getroffen sanken sie
nieder, versperrten mit ihren Körpern nachrückenden Kämpfern den Weg.
Auf breiter Front konnte nicht angegriffen werden. Nur wenige Krieger
konnten sich gleichzeitig durch die schmalen Zugänge zwängen. Und die,
die den Steinhagel überstanden, konnten im Kampf Mann gegen Mann besiegt
werden. Ein riesiges Heer war also nutzlos, da immer nur wenige
zugleich versuchen konnten, in die Stadt einzudringen. Die Monstermauer
war viel zu hoch, als dass sie hätte schnell erklommen werden können.
Wenn das jemand versuchen wollte, konnte er von oben mit Steinhagel
eingedeckt werden.
Ob die Inka Kuelap je eingenommen haben? Oder wurde die Stadt warum auch immer aufgegeben? Fiel sie durch Verrat?
Foto 3: Kuelap über den Wolken |
»Eben noch arbeitete ich mich im wabernden Nebel vor. Und plötzlich stand ich direkt vor der Mauer von Kuelap, im strahlenden Sonnenlicht. Und unter mir machte ich den Nebelschleier aus. Oder waren es Wolken? Jedenfalls wurde mir klar, wie hoch über Normalnull Kuelap angelegt worden war!«
Mich hat die nicht wirklich in Worte zu fassende Abgeschiedenheit von Kuelap zutiefst beeindruckt. Und damit meine ich nicht nur die räumliche Distanz der in den hohen Anden aufgetürmten Metropole. Diese Ferne vom Leben in niederen Gefilden war einst ein Schutz der Chachapoyas. Sie wurden von Feinden so schnell nicht entdeckt. Kuelap kam mir vor wie eine surreale Insel, fern von jeder Zeit. Wenn ich in Kuelap war, dann war der stressige Alltag unserer modernen Zeit weit, weit weg. Und in Kuelap, so versicherte mir Werner Kaiser, spukt es. Zumindest will er dort den Schrei der Mumie gehört und eine gespenstische Erscheinung gesehen haben.
Foto 4: Rekonstruiertes Rundhaus |
Die monströse Wehrmauer bietet einen imposanten Eindruck. Im Inneren sind noch die Fundamente der seltsamen Rundhäuser zu erkennen. Archäologen haben so ein Gebäude rekonstruiert. Andere Reste von Bauwerken sind nur noch so bruchstückhaft erhalten, so dass nicht mehr zu erkennen sind, welchem Zweck sie einst dienten. Leider gibt es auch keinerlei Schrifttum der Erbauer der Stadt, so dass wir wohl auf so viele Fragen keine Antworten erhalten werden. Wir wissen nichts über das Leben der Chachapoyas. Wir wissen auch überhaupt nichts über die Religion der Chachapoyas. Wir kennen nicht ihre Sagen und Legenden, ob sie an ein Leben nach dem Tode glaubten und wie sie wohl – falls überhaupt – Götter verehrten und anbeteten.
Ungeduldig fragte mich Archäologie-Student Werner Kaiser nach meinem Vortrag: »Haben Sie auch die Knochen gesehen?« Das hatte ich in der Tat. Ich war im Inneren von Kuelap auf massive Gebäudereste geklettert, hatte da und dort enge Spalten in dicken Mauerstümpfen entdeckt und hatte mich neugierig hineingezwängt. Mir waren seltsame, leicht zu übersehende, sauber gearbeitete kleine »Eingänge« aufgefallen. Ich habe sie, so gut es ging, erkundet. Da und dort lagen, geschützt von Ruinenresten Knochen, offensichtlich menschliche Knochen. Waren es Gräber im steinernen Mauerwerk? Wurden da einst Tote von den Chachapoyas bestattet? Oder war ich auf Reste von einst geopferten Menschen gestoßen?
Foto 5: Knochen im Gemäuer von Kuelap |
Die Abgeschiedenheit von Kuelap bot bislang Schutz. Wenn sich aber erst einmal zigtausende Menschen auf den Weg machen und in Massen durch die »Ruine« ziehen? Von Vandalismus will ich gar nicht reden. Für einen solchen Ansturm ist die Stadt nie gedacht gewesen. Ich fürchte, dass vieles zerstört werden wird, bevor eine profunde Forschung beginnt. Das ist ja der »circulus vitiosus«, der »Teufelskreis«. Heute fehlt das Geld für umfangreiche Erforschung der Stadt in den Hochanden und für ihren Schutz vor dem Verfall. Viele Touristen würden viel Geld bringen, könnten also Forschung und Erhalt der faszinierenden Stätte finanzieren. Viele Touristen würden aber auch gefährden, was doch geschützt, erhalten und erforscht werden soll!
Foto 6: Das »Castillo« von Kuelap |
Werner Kaiser schien es gar nicht abwarten zu können, bis die Zuhörerinnen und Zuhörer nach meinem Diavortrag und der anschließenden Diskussion endlich gegangen waren. Als ich meinen Diaprojektor einpackte, erzählte er mir aufgeregt eine kuriose Geschichte. Ob er wirklich erlebt hat, was er mir da offenbarte? Das jedenfalls behauptete er mit Nachdruck. Ich gebe seinen Bericht wieder, ohne eine Wertung vorzunehmen.
Foto 7: Das Gesicht am »Castillo« |
Werner Kaiser: »Es war schon später Nachmittag, als ich die Ruine betrat. Ich war offenbar allein. Jedenfalls begegnete mir schon beim Aufstieg und dann auch innerhalb der Mauer kein Mensch. Als ich gerade die seltsame Gravur am Mauerwerk eines eigenartigen Turmstumpfs untersuchte, hörte ich plötzlich einen gellenden Schrei, der mir durch Mark und Bein fuhr! Woher kam er? War da jemand in Lebensgefahr?«
Foto 8: So soll der Geist ausgesehen haben |
Diesen Turm habe ich bei meinem Besuch genauer »unter die Lupe genommen«. Ich habe die wissenschaftliche Literatur dazu studiert. Vermutlich war er einst von astronomischer Bedeutung. Ich glaube, er war eine Art von Observatorium. Das »Castillo« hatte, so nennt man ihn heute, hatte ursprünglich wie Ausgrabungen ergeben haben, ein rechteckiges Fundament und bestand aus drei plattformartigen Stockwerken. Heute ist das »Castillo« einsturzgefährdet. Holzbalken sollen Mauerwerk stützen. Eingraviert in einen der Mauersteine: ein menschliches Antlitz.
Foto 9: Der »schreiende Schädel« |
Wen oder was stellt es dar? Tatsächlich gibt es die Theorie, es könne sich bei Kuelap insgesamt um ein Solar-Observatorium gehandelt haben. (2) Sollten die Chachapoyas einem Sonnengott gehuldigt haben?
Werner Kaiser: »Ich lauschte. Woher kam dieser Schrei? In welche Richtung musste ich eilen, wenn ich helfen wollte? Ich rannte, so gut ich im unebenen, unwegsamen Gelände konnte, los. Ich stürzte, verletzte mich dabei. Ich wollte so schnell wie möglich aufstehen, fühlte mich aber irgendwie wie gelähmt. Ich konnte mich nicht bewegen. Vor mir lagen in einer Art Nische bleiche Knochen. Es waren Menschenknochen. Und für Sekundenbruchteile tauchte in der Nische so etwas wie ein ›Geist‹ auf. Das ›Etwas‹ war – eine Mumie, in Tuch gehüllt. Der Kopf, ein Totenschädel, riss weit seine Kiefer auseinander. Noch einmal stieß das Wesen diesen grässlich schrillen Laut aus!«
Fußnoten
1) Name vom Verfasser geändert, strikte Vertraulichkeit wurde vereinbart und bleibt gewahrt.
2) McGraw, James, sowie Oncina, Manuel, Sharon, Douglas und Torres, Carlos: »Kuelap: A Solar Observatory?«, San Diego, Museum of Man, 1996
Foto 10: Der Totenkopf des Geistes |
Foto 1: Spukt es in Kuelap? Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 2: Ingeborg Diekmann hat einen der engen Eingänge fast durchschritten.Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 3 Kuelap über den Wolken. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 4 Rekonstruiertes Rundhaus.Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 5 Knochen im Gemäuer von Kuelap.Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 6 Das »Castillo« von Kuelap.Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 7 Das Gesicht am »Castillo«Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 8 So soll der »Geist« in etwa ausgesehen haben.Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 9: So soll der »schreiende Schädel« ausgesehen haben. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 10: So soll der Totenkopf des Mumien-Geistes ausgesehen haben. Foto Walter-Jörg Langbein
Hinweis: Foto 8 zeigt natürlich nicht den Schrei der Mumie. Die Mumie soll in etwa ao ausgesehen haben.
Fotos 9 und 10 zeigen natürlich auch nicht den schreienden Totenschädel der Mumie. Foto 8 zeigt eine Chachapoya-Mumie, Fotos 9 und 10 wurden auf dem Friedhof von Chauchilla, Peru aufgenommen. Fotos 8 und 9 wurden etwas bearbeitet, um der Schilderung von Werner Kaiser nahe zu kommen.
333 »Der Schrei der Banshee«,
Teil 333 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 05.06.2016
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