»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
Foto 1: »Hesekiels Rad« nach der Restaurierung. Farblich verändert und kontrastverstärkt zur Hervorhebung der Details. Zu sehen ist das Rad in vier verschiedenen Bearbeitungen. |
William Levi Dawson (*1899; †1990) komponierte 1942 ein Lied für gemischten Chor, das Hesekiels himmlische Sichtung immer wieder refrainartig besingt. Zahlreiche Künstler nahmen sich des erfolgreichen Songs an. Louis Armstrong (*1901; †1971) hat »Ezekiel sah das Rad« in seiner ganz speziellen Weise besungen, Johnny Cash (*1932; †2003) ebenso. Woody Guthrie (*1912; †1967) hat das Lied über das himmlische Rad ebenso erklingen lassen wie der Gospelchor »The Charioteers« (1930-1957) oder der Chor »The Dixie Hummingsbirds« (gegründet 1928). Bing Crosby (*1903; †1977) nahm »Ezekiel saw the wheel« ebenso auf wie John Lee Hooker (* vermutlich 1917; †2001).
Zahlreiche Künstler nahmen »Ezekiel saw the wheel« in ihr Repertoire auf. Sie variierten den Text manchmal mehr, manchmal weniger. Aber alle beschrieben das himmlische Rad, alle wiederholten refrainartig »Ezekiel sah das Rad, hoch oben in der Luft.« Bei Johnny Cash allerdings »wirbelte« das Rad »hoch oben in der Luft«, bei Louis Armstrong sah Hesekiel das Rad einfach nur »ganz oben in der Luft«.
Weihnachten 1982 präsentierte Johnny Cash mit dem Chor »Mighty Clouds of Joy« und der »Carter Family« meine Lieblingsversion von »Ezechiel saw the Wheel«. Ausführlich zitiert Johnny Cash den mysteriösen Bibeltext von der »Herrlichkeit des Herrn« (»Majestas Domini«).
Foto 2: »St. Maria und Clemens«, Schwarzrheindorf, um 1900. |
Als ich vor Jahren »Hesekiels Rad« begegnete, da geschah dies nicht unter freiem Himmel, sondern in einem altehrwürdigen Gotteshaus, nämlich in »St. Maria und Clemens« in Schwarzrheindorf. Die romanische Doppelkirche ist einer der schönsten und zugleich geheimnisvollsten Sakralbauten, die ich je besucht habe. Ihre großflächigen Deckenmalereien würden einen mehrtägigen Besuch rechtfertigen. Man könnte sich sogar wochenlang in die herrliche sakrale Kunst vertiefen.
»Mein« Taxifahrer freute sich, als ich am Bonner Hauptbahnhof einstieg und mein Ziel, »St. Maria und Clemens«, nannte. »Diese Kirche ist leicht zu finden, wenn man weiß, wo sie ist! Vom ›Beueler Zentrum‹ im Stadtbezirk Beuel geht es nach Norden. Im Bonner Ortsteil Schwarzrheindorf/Vilich-Rheindorf kann man sie dann gar nicht mehr verfehlen!«
Ich ärgerte mich etwas. Von einem Vorortbahnhof aus wäre die Taxifahrt vielleicht nicht so lang ausgefallen. Aber die begeisterten Schilderungen »meines« Taxifahrers ließen meinen Verdruss verschwinden. »Machen Sie ruhig eine Führung mit! Aber genießen Sie einfach die üppige Pracht der Gemälde. Was die im Einzelnen bedeuten, da haben sich die Theologen wohl mancherlei ausgedacht! Aber achten Sie unbedingt auf das fliegende Rad aus der Bibel!« Zu einem besonderen Erlebnis wurde die Fahrt nach Schwarzrheindorf durch eine musikalische Darbietung des Taxifahrers.
Der fragte mich, ob ich das Lied »Ezekiel saw the Wheel« kenne. Als ich das bejahte, da schmetterte er »Ezekiel saw the wheel« so laut, dass auch andere Verkehrsteilnehmer in den akustischen Genuss kamen. Der Gesangsstil des Taxifahrers war einzigartig. Offensichtlich war er stärker vom Sangeskünstler Herbert Arthur Wiglev Clamor Grönemeyer (*1956) als von Johnny Cash, Woody Guthrie oder Bing Crosby beeinflusst. Aber vielleicht machte der Chauffeur auch gerade eine starke Entzündung der Nasennebenhöhlen durch. Jedenfalls war vom Text des Liedes kaum etwas zu verstehen. Je unklarer seine Artikulation wurde, desto lauter sang der Mann am Lenkrad. Manchmal blieb er kurz stecken, holte dann aber die verlorene Zeit durch schluckaufartige Sangestechnik wieder auf. Oder sollte der singende Taxifahrer zwischendurch tatsächlich immer wieder von mächtigen Schluckaufattacken heimgesucht worden sein? Oder unterliefen ihm einige Rülpser, die allerdings kaum auffielen.
Foto 3: »Hesekiels Rad« nach der Restaurierung. Farblich verändert und kontrastverstärkt zur Hervorhebung der Details. |
Der fragte mich, ob ich das Lied »Ezekiel saw the Wheel« kenne. Als ich das bejahte, da schmetterte er »Ezekiel saw the wheel« so laut, dass auch andere Verkehrsteilnehmer in den akustischen Genuss kamen. Der Gesangsstil des Taxifahrers war einzigartig. Offensichtlich war er stärker vom Sangeskünstler Herbert Arthur Wiglev Clamor Grönemeyer (*1956) als von Johnny Cash, Woody Guthrie oder Bing Crosby beeinflusst. Aber vielleicht machte der Chauffeur auch gerade eine starke Entzündung der Nasennebenhöhlen durch. Jedenfalls war vom Text des Liedes kaum etwas zu verstehen. Je unklarer seine Artikulation wurde, desto lauter sang der Mann am Lenkrad. Manchmal blieb er kurz stecken, holte dann aber die verlorene Zeit durch schluckaufartige Sangestechnik wieder auf. Oder sollte der singende Taxifahrer zwischendurch tatsächlich immer wieder von mächtigen Schluckaufattacken heimgesucht worden sein? Oder unterliefen ihm einige Rülpser, die allerdings kaum auffielen.
Manchmal war ich mir nicht sicher, in welcher Sprache der Gesang vorgetragen wurde. War das Englisch? Oder Türkisch? Manches klang auch französisch. Unbezweifelbar englisch war allerdings »Ezekiel saw the wheel«.
Foto 4: »Hesekiels Rad« nach der Restaurierung. Farblich verändert und kontrastverstärkt zur Hervorhebung der Details. Zu sehen ist das Rad in vier Variationen. |
»Schwarzrheindorf« liegt rechts des Rheins. Der kleine Ortsteil von Bonn hat etwa 4.500 Einwohner. Die Kelten siedelten hier bereits. »Schwarzrheindorf« gilt als eine der ältesten Siedlungen der Kelten im schönen Rheintal. Die Oberkirche von »St. Maria und Clemens« ist der Gottesmutter Maria, die Unterkirche dem »Heiligen Clemens« geweiht. Einst gehörte das Gotteshaus als Kapelle zu einem imposanten burgähnlichen Gebäudekomplex. Vom weltlichen Teil aus konnte man direkt in das Obergeschoss der Kirche gelangen. Eher bescheidene Abbruchreste lassen die einstige »Burg« nicht einmal mehr auch nur erahnen. Dass es so eine Burg einst gegeben hat, das hat Bernhard Hundeshagen (*1784; †1858) bereits anno 1820 nachgewiesen.
»St. Maria und Clemens« (1) wurde, das ist beurkundet, am 25. April 1151 vom Kölner Erzbischof Arnold von Wied im Beisein des Königs Konrad III. geweiht. Die Doppelkirche in Schwarzrheindorf gilt als romanisches Kleinod. Die herrlichen Wandmalereien aus dem 12. Jahrhundert machen das Gotteshaus zu einer echten Kostbarkeit. Die üppigen Malereien in der Unter- und Oberkirche sollen, so erfuhr ich von meinem Führer, zu den am besten erhaltenen Bildwerken dieser Zeit gehören.
Allerdings, so räumte mein Führer ein, sei es da und dort zu »malerischen Rekonstruktionen« gekommen, die wohl der Fantasie der Restaurateure entsprungen sind und nicht die zum Teil leider dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallenen Originale haben wieder entstehen lassen. Weitschweifig erklärte mir mein wortgewandter Führer, dass die zahlreichen Einzelgemälde nach einem »komplexen System« angeordnet worden seien und dass es ein »äußerst genau ausgeklügeltes Miteinander« der einzelnen Darstellungen gebe.
Offen gestanden: Ich habe manches, was mir der Führer erklärte, nicht nachvollziehen können. Vielleicht hat mich auch das »Rad« des Hesekiel, das da über meinem Kopf zu schweben schien, zu stark abgelenkt. Mir ist kein zweites Gotteshaus bekannt, das einen ganzen Hesekiel-Zyklus zu bieten hat. Nirgendwo sonst habe ich in einer Kirche den Propheten Hesekiel thematisiert entdecken können. Mir scheint, da ist »St. Maria und Clemens« einzigartig, und das wohl weltweit.
Wann genau die Ausgestaltung der Kirche mit üppiger Malerei abgeschlossen wurde, das ist nicht bekannt, wie Albert Verbeek anmerkt (2). Die Unterkirche war zu Lebzeiten des Stifters Arnold von Wied (*um 1098; †1156), also spätestens 1156 voll ausgemalt. Unbekannt ist, wann die herrlichen Wandmalereien übertüncht wurden. Dieser barbarische Vorgang dürfte bis zu neun Mal wiederholt worden sein. Gewiss, die Tünche-Schichten schützten die Malereien auch, etwa als die Kirche (3) »als Stall und Scheune diente«.
1854 begann Christian Hohe mit der planmäßigen Freilegung der Malereien. Er ließ die Tünche mit tuchumwickelten Holzhämmern abklopfen. Dabei kam es leider zu Beschädigungen der Originalgemälde. Bei der ersten Übermalung hatte sich die frisch aufgebrachte Kalkmilch mit der Originalfarbe verbunden, so dass nicht nur die störende Tünche, sondern auch Originalfarbe abgeschlagen wurde. Offenbar wurden zumindest Teile der äußeren Farbschicht mit der Tünche abgelöst.
Christian Hohe (*1798; †1868) war akademischer Zeichenlehrer der Universität zu Bonn und fantasiebegabt. Freie Stellen ergänzte er nach Gutdünken. Nicht unterschätzt werden darf, dass bei der Restaurierung durch Hohe manches Mal seine Interpretation im Vordergrund stand. Hohe meinte zum Beispiel in einem Gemälde die Darstellung eines Engels erkennen zu müssen und so sah die Gestalt dann auch aus. Daraus wurde nach neuerem Verständnis wieder (?) der Prophet Hesekiel. Christian Hohe einige nur noch schwach auszumachende Gestalten als »Ritter« gesehen und entsprechend »rekonstruiert«. Bereits 1902 wurden die »Ritter« durch neuerliche Bearbeitung zu allegorischen Darstellungen der Tugenden.
Bei aller berechtigter Kritik muss aber festgehalten werden, dass sich Christian Hohe durchaus in positivem Sinne als Restaurator verdient gemacht hat. Vorhandenes, noch Erhaltenes hat er kenntnisreich gesichert. Ein »Überzug von in Benzol und Terpentingeist aufgelöstem Wachs« schützte nicht nur die alten Farben, vielmehr wurden die alten Malereien klarer und wieder fester.
Foto 6: »Hesekiels Rad« nach der Restaurierung. Farblich verändert und kontrastverstärkt zur Hervorhebung der Details. |
Was mich in die Unterkirche von »St. Maria und Clemens« zu Schwarzrheindorf geführt hat, das beschreibt Albert Verbeek so (4): »Auf der Südseite ist die Berufungsvision Ezechiels am Flusse Kebar geschildert, im Zwickel der Prophet zusammengekauert, darüber die hergewehte Wolke und daneben ein Rad nach den Worten: ›Ich schaute und siehe: ein Sturmwind kam von Norden, eine große Wolke und flackerndes Feuer; aus deren Mitte strahlte es wie das Blinken von Glanzerz. In seiner Mitte war etwas, was vier Lebewesen glich… Ein Rad war auf der Erde.«
Foto 7: Gestalt in »Hesekiels Rad« (Skizze Christian Hohe, Ausschnitt). |
Da stand ich also in der für das Volk bestimmten Unterkirche und starrte zu Hesekiel empor, der da seltsam zusammengekauert zu sitzen schien. Über ihm aber, hoch oben am Himmel, da stand ein gewaltiges Rad, das Rad, das so oft besungen wurde. Und dieses Rad steht nun hoch über mir »am Himmel« der Unterkirche von »St. Maria und Clemens« zu Schwarzrheindorf. Das mysteriöse Rad war freilich, anno 1854 nur noch zum Teil erhalten. Nachdem Christian Hohe die weiße Tünche hatte abschlagen lassen, da zeigte sich, dass fast die Hälfte des Originals fehlte. Bevor mit der planmäßigen Freilegung der Malereien begonnen wurde, fertigte Christian Hohe Zeichnungen an. Mir liegt eine Zeichnung Hohes vom Rad, das Hesekiel sah, in Kopie vor. Sie zeigt Erstaunliches. Da sitzt im Rad eine Gestalt, von der man in der Skizze Kopf und Oberkörper sieht, und blickt aus dem Inneren des Rades heraus. Wer soll das sein? Ein Engel vielleicht?
Das nur zum Teil erhaltene Rad wurde schließlich vervollständigt. Die Gestalt im Rad (Foto 7!) allerdings wurde nicht in die wiederhergestellte Malerei aufgenommen. Ob sie im Original zu sehen war? Und wenn dem so war, wieso ließ man sie dann verschwinden?
Foto 8: Noch einmal das EINE Rad Hesekiels in vier Variationen (zur Hervorhebung der sonst schwer zu erkennenden Einzelheiten!) |
Fußnoten
(1) Doppelkirche Schwarzrheindorf, Dixstraße 41, 53225 Bonn
(2) Verbeek, Albert: »Schwarzrheindorf/ Die Doppelkirche und ihre Wandgemälde«, Düsseldorf 1953, Seite XXXVI
(3) Ebenda, 13. Zeile von unten
Zu den Fotos
Foto 1: Hesekiels Rad von Schwarzrheindorf. Fotocollage. Farblich verfremdet.
Kontrastverstärkt zur besseren Sichtbarkeit der Details. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 2: »St. Maria und Clemens«, Schwarzrheindorf, um 1900. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein (Anmerkung: Nach meinen Recherchen entstand das Foto definitiv vor 1910, vermutlich um die Jahrhundertwende.)
Foto 3: »Hesekiels Rad« nach der Restaurierung. Farblich verändert und kontrastverstärkt zur
Hervorhebung der Details. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 4: »Hesekiels Rad« nach der Restaurierung. Farblich verändert und kontrastverstärkt zur
Hervorhebung der Details. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 5: »Hesekiels Rad« vor der Restaurierung (Skizze Christian Hohe). Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 6: »Hesekiels Rad« nach der Restaurierung. Farblich verändert und kontrastverstärkt zur Hervorhebung der Details. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 7: Gestalt in »Hesekiels Rad« (Skizze Christian Hohe, Ausschnitt). Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 8: Noch einmal das EINE Rad Hesekiels in vier Variationen (zur Hervorhebung der sonst schwer zu erkennenden Einzelheiten!)Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
540. »Hesekiel, Gilgamesch und Pfeile Gottes«,
Teil 540 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 24. Mai 2020
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