Sonntag, 24. Mai 2020

540. Hesekiel, Gilgamesch und Pfeile Gottes

Teil 540 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein



Foto 1: Der Hesekiel
von Schwarzrheindorf
Hoch über mir steht das fliegende Rad. Es gehört zum »Hesekiel-Zyklus« in einem der schönsten Gotteshäuser Europas. Es ist erstaunlich, wie ausführlich in einzelnen Bildern in der unteren Kirche von »St. Maria und Clemens« auf den biblischen Hesekiel eingegangen wird. Warum geschah dies nur hier und in keiner anderen Kirche? Für wen waren diese Darstellungen gedacht? Die »Untere Kirche« wurde vom »gewöhnlichen Volk« besucht, dem die »Obere Kirche« verschlossen blieb. Dort versammelten sich Adelige und Klerus zur Andacht.

Eine Flut von Gemälden an den Wänden ließ vor etwa neun Jahrhunderten das vermeintlich ungebildete Volk staunen. Verstanden die Menschen, was da in Bildern dargestellt wurde? Lesen konnten sie in der Regel nicht. Erkannten sie die Bedeutung der Wandgemälde? Da wird in einem Gemälde dem Hesekiel eine Schriftrolle zum Verzehr gereicht. Dort erkennt man Hesekiel in einem anderen Gemälde, wie er sich mit einem Schwert den Bart abschneidet. Ein weiteres Gemälde zeigt Hesekiel, der mit einer Hacke ein Loch in eine Steinmauer geschlagen hat. Entsetzt blickt der Prophet durch das Loch. Auf der anderen Seite wird offenbar Götzendienst betrieben, und das – was für ein Sakrileg – offenbar im Tempel zu Jerusalem.

Der »Hesekiel-Zyklus« ist wirklich einzigartig in der sakralen Kunst christlicher Gotteshäuser. Szenen aus dem »Neuen Testament« sind eindeutig zu erkennen: Jesus ärgert sich über die Händler im Tempel und Jesus vertreibt die Händler aus dem Tempel. Andere Darstellungen sind vermutlich allegorisch gemeint. Da kämpfen die »Tugenden« gegen die »Laster«. Manche Darstellungen sind wirklich brutal. Da werden die »Sünder« brutal massakriert. Sie werden förmlich zerhackt. Immer wieder begegnen uns Szenen aus dem »Neuen Testament«. Pilatus wäscht seine Hände in Unschuld. Dem sterbenden Jesus wird mit einem Schwamm Essig gereicht. Ein römischer Soldat stößt Jesus eine Lanze in den Leib.

Und dann: Immer wieder taucht Hesekiel auf. Wir sehen Hesekiel im Kreis der Ältesten sitzen. Die Hand Gottes erscheint aus dem Himmel über ihm. Hesekiel wird Zeuge des Götzendienstes der Juden, die einer Götterstatue huldigen. Hesekiel salbt den Altar. Die Götzendiener werden bestraft, weil sie vom Glauben abgefallen sind. Die »Guten« werden gekennzeichnet und entgehen dem Gemetzel. Die »Bösen« werden zerhackt, die »Guten« bleiben verschont.

Mich aber interessiert vor allem das mächtige Rad, das über mir am Himmel zu schweben scheint. Was, so frage ich mich, ein wenig misstrauisch von meinem Kirchenführer beäugt, hat Hesekiel gesehen? Was sah er am Himmel? Was kam vom Himmel herab?

Im Gilgamesch-Epos zeigt sich Göttin Siduri dem heroischen Gilgamesch. Eine solche Gottesoffenbarung bezeichnet man in der Theologie als »Theophanie«. Der Begriff leitet sich von zwei griechischen Worten ab, nämlich von »theos« (»θεός, »Gott«) und von »phainesthai« (»φαίνεσθαι«, »sich zeigen, erscheinen«). In einer »Theophanie« (»Erscheinung eines Gottes«) offenbart sich ein Gott. Offensichtlich tun das Götter auf Planet Erde schon seit Jahrtausenden. Auch dem biblischen Hesekiel wurden Theophanien zuteil.

Foto 2:  »Hesekiels Rad« nach der Restaurierung
(Farblich verändert und kontrastverstärkt
um Details sichtbar zu machen. Collage.)



Das »Alte Testament« kennt solche »Theophanien«, die ganz offensichtlich mit massiven, ja furchteinflößenden Begleiterscheinungen einhergingen. Recht eindrucksvoll wird eine »Theophanie« in Psalm 18 geschildert (1): »Die Erde bebte und wankte, und die Grundfesten der Berge bewegten sich und bebten, da er zornig war. Rauch stieg auf von seiner Nase und verzehrend Feuer aus seinem Munde; Flammen sprühten von ihm aus. Er neigte den Himmel und fuhr herab, und Dunkel war unter seinen Füßen. Und er fuhr auf dem Cherub und flog daher, er schwebte auf den Fittichen des Windes. Er machte Finsternis ringsum zu seinem Zelt, dunkle Wasser, dichte Wolken. Aus dem Glanz vor ihm zogen seine Wolken dahin mit Hagel und Blitzen. Der HERR donnerte im Himmel, und der Höchste ließ seine Stimme erschallen mit Hagel und Blitzen.« Als ausgesprochen friedlich wird dieser Gott allerdings nicht dargestellt, heißt es doch (2): »Er schoss seine Pfeile und zerstreute die Feinde, sandte Blitze in Menge und erschreckte sie.«

Weniger ausführlich werden die Begleiterscheinung einer »Theophanie« in Psalm 97 beschrieben (3): »Der HERR ist König; des freue sich das Erdreich und seien fröhlich die Inseln, so viel ihrer sind. Wolken und Dunkel sind um ihn her, Gerechtigkeit und Recht sind seines Thrones Stütze. Feuer geht vor ihm her und verzehrt ringsum seine Feinde. Seine Blitze erleuchten den Erdkreis, das Erdreich sieht es und erschrickt. Berge zerschmelzen wie Wachs vor dem HERRN, vor dem Herrscher der ganzen Erde. Die Himmel verkündigen seine Gerechtigkeit, und alle Völker sehen seine Herrlichkeit.«

Auch dem Hesekiel zeigt sich Gott, wie gleich zu Beginn des Buches Hesekiel mitgeteilt wird (4): »Und im dreissigsten Jahr, im vierten Monat, am Fünften des Monats, als ich unter den Verbannten am Fluss Kebar war, öffnete sich der Himmel, und ich sah göttliche Schauungen.«

Dieser eher unscheinbare Vers enthält eine höchst interessante Information, auf die mich Prof. Dr. Georg Fohrer (*1915; †2002), Fachbereich Altes Testament an der »Friedrich Alexander Universität Erlangen«, hingewiesen hat. Ich habe manche seiner Vorlesungen besucht und an seinen Seminaren teilgenommen.

Georg Fohrer hat von 1934 bis 1938 Evangelische Theologie und vergleichende Religionswissenschaft an den Universitäten Marburg und Bonn studiert. 1939 promovierte er zum »Dr. phil.«, 1944 zum »Dr. theol.«. Schließlich habilitierte er sich 1949. 1954 wurde er zum »außerplanmäßigen Professor« ernannt. In den Jahren 1954 bis 1962 wirkte er an der »Evangelisch-Theologischen Fakultät« der Universität Wien. 1962 schließlich holte man ihn als »Professor Fachbereich Altes Testament« an die Universität Erlangen. 1979 wurde der Gelehrte emeritiert, konvertierte zum Judentum und zog nach Jerusalem. In Jerusalem verstarb Prof. Fohrer nach schwerer Krankheit. Im gleichen Jahr brach ich mein Studium der evangelischen Kirche in Erlangen ab und veröffentlichte mein erstes Buch.

Foto 3:  »Hesekiels Rad« nach der Restaurierung
(Farblich verändert und kontrastverstärkt
um Details sichtbar zu machen. Collage.)

Im Hebräischen kommt im ersten Vers des ersten Kapitels bei Hesekiel ein Wort zum Einsatz, das in allen Übersetzungen mit »öffnen« verdeutscht wird (5). Diese Vorstellung taucht nur noch ein einziges Mal im »Alten Testament« vor, nämlich bei Jesaja (6). Wenn das Ende seinen Anfang nehmen wird, wenn die Endzeit ihren Lauf nimmt, dann soll der Himmel zerrissen werden: »Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen.«

Prof. Dr. Georg Fohrer, er war Ehrendoktor der Universitäten Marburg, Aberdeen und St Andrews und Ehrenmitglied zahlreicher gelehrter Gesellschaften, über eine Teophanie bei Hesekiel (7): »Wenn Jahwe zu Beginn der Endzeit zur Erde herniedersteigt, zerreißt er den Himmel. Ez(echiel) bedient sich keines bekannten Bildes oder theologischen Ausdrucks und weist damit bereits darauf hin, wie neu und ungewöhnlich sein Erleben für ihn ist.«

Die »eigentliche Wohnung Jahwes« war, so Prof. Fohrer, der Himmel. Aus dem Himmel herab steigt Gott bei Hesekiel wie bei Jesaja. Es kann also keinen Zweifel geben, dass der biblische Gott des »Alten Testaments« aus dem Himmel herab zur Erde kam, als er Hesekiel aufsuchte. Hesekiel beschreibt das sehr anschaulich. Der himmlische Wagen, so schien es, wurde am Himmel plötzlich sichtbar. Für Hesekiel gab es nur eine Erklärung: der Himmel war aufgerissen, hatte sich aufgetan.

Foto 4: Hesekiel schneidet sich
den Bart ab.
Es ist wirklich erstaunlich, wie ausführlich in einzelnen Bildern in der unteren Kirche von »St. Maria und Clemens« auf den biblischen Hesekiel eingegangen wird. Ich habe mir bei meinem Besuch viel Zeit für den »Hesekiel-Zyklus« genommen. Da mir die Hesekieltexte geläufig waren, verstand ich sofort die Aussage einiger der Darstellungen. Da wird dem Hesekiel eine Schriftrolle zum Verzehr gereicht. Keine Frage: Da wird biblischer Text illustriert (8): »Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, iss, was du vor dir hast! Iss‘ diese Schriftrolle und geh hin und rede zum Hause Israel! Da tat ich meinen Mund auf und er gab mir die Rolle zu essen und sprach zu mir: Du Menschenkind, gib deinem Bauch zu essen und fülle dein Inneres mit dieser Schriftrolle, die ich dir gebe. Da aß ich sie, und sie war in meinem Munde so süß wie Honig.« Offenbar soll Hesekiel im sprichwörtlichen Sinne verinnerlichen, was er den Menschen verkünden soll.

Dort erkennt man Hesekiel, wie er sich mit einem Schwert den Bart abschneidet. Auch hier handelt Hesekiel nach einem seltsam anmutenden Befehl Gottes (9): »Und du, Menschenkind, nimm ein scharfes Schwert und brauche es als Schermesser und fahr damit über dein Haupt und deinen Bart.« Mag sein, dass dies ein Hinweis auf das Unglück sein soll, das über Jerusalem hereinbrechen wird. Ein letztes Beispiel soll genügen: Ein weiteres Gemälde zeigt Hesekiel, der mit einer Hacke ein Loch in eine Steinmauer geschlagen hat. Entsetzt blickt Hesekiel durch das Loch. Da wird offenbar Götzendienst betrieben, und das offenbar im Tempel zu Jerusalem.

In der Luther Bibel von 1912 findet sich ein seltsamer Fehler (10): »Und er führte mich zur Tür des Vorhofs; da sah ich, und siehe war ein Loch in der Wand. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, grabe durch die Wand. Und da ich durch die Wand grub, siehe, da war eine Tür. Und er sprach zu mir: Gehe hinein und schaue die bösen Greuel, die sie allhier tun. Und da ich hineinkam und sah, siehe, da waren allerlei Bildnisse der Würmer und Tiere, … und allerlei Götzen des Hauses Israel, allenthalben umher an der Wand gemacht.«

Foto 5: Hesekiel bricht ein Loch in die Wand.

Da stimmt etwas nicht mit der zeitlichen Abfolge! Da wird dem Hesekiel zunächst ein Loch in der Wand gezeigt. Und dann bekommt er den Befehl, durch die Wand zu graben. Aber das Loch ist doch schon vorhanden! Wozu also noch graben?

In der »Luther Bibel« von 2017 hat man diesen Fehler nicht behoben. Da wird er sogar noch deutlicher (11): »Und er führte mich zur Tür des Vorhofes. Da sah ich, und siehe, da war ein Loch in der Wand. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, brich ein Loch durch die Wand. Und als ich ein Loch durch die Wand gebrochen hatte, siehe, da war eine Tür.«

Hesekiel bekommt ein Loch in der Wand gezeigt und dann soll er erst einmal ein Loch durch die Wand brechen? Aber das Loch ist doch schonvorhanden!

Über allem aber scheint das Rad zu schweben, das Hesekiel sah. Sollte er tatsächlich ein riesiges Rad am Himmel gesehen haben? Sollte von einem solchen »Rad« die Herrlichkeit Gottes, »kabod jhwh« (כְּבֹוד־יְהוָ֑ה) im Hebräischen der »Biblia Hebraica« zur Erde hinab gestiegen zu sein?


Fußnoten
(1) Psalm 18, Verse 8-14, zitiert nach »Luther Bibel 2017«.
(2) Ebenda, Vers 15, zitiert nach »Luther Bibel 2017«.
(3) Psalm 97, Verse 2-6, zitiert nach »Luther Bibel 2017«.
(4) Hesekiel Kapitel 1, Vers 1, zitiert nach »Luther Bibel 2017«.
(5) נִפְתְּחוּ֙, ptch im Niphal
(6) Jesaja Kapitel 63, Vers 19
(7) Fohrer, Georg: »Handbuch zum Alten TestamentErste Reihe 13/ Ezechiel«, Tübingen 1955, Seite 10, 4.+3. Zeile von unten (Fußnoten nicht mitgezeählt!)
(8) Hesekiel Kapitel 3, Verse 1-3
(9) Hesekiel Kapitel 5, Vers 1
(10) Hesekiel Kapitel 8, Verse 7-10, zitiert aus der »Luther Bibel« von 1912. Die Rechtschreibung wurde unverändert übernommen.
(11) Hesekiel Kapitel 8, Verse 7 und 8


Zu den Fotos
Foto 1: Der Hesekiel von Schwarzrheindorf, bearbeitet (Collage. Kontrast verstärkt und Farben verändert, um Details besser erkennbar zu machen.)
Foto 2:  »Hesekiels Rad« nach der Restaurierung (Farblich verändert und kontrastverstärkt um Details sichtbar zu machen. Collage.)
Foto 3:  »Hesekiels Rad« nach der Restaurierung (Farblich verändert und kontrastverstärkt um Details sichtbar zu machen. Collage.)
Foto 4: Hesekiel schneidet sich den Bart ab.
Foto 5: Hesekiel bricht ein Loch in die Wand.

541. »Hesekiel, Elias und Henoch wurden ›entrückt‹«,
Teil 541 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 31. Mai 2020


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