Sonntag, 26. Mai 2013

175 »Der Tempelturm von Tanjore«

Teil 175 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein


Teil des Tanjore-Tempelkomplexes
Foto W-J.Langbein
»Du möchtest also ein Sthapati werden?« fragt mich der junge Inder vor dem Tempelturm von Tanjore. Mythen und Mauern haben es mir schon seit Jahrzehnten angetan. Und Tanjore, 320 Kilometer südlich von Madras, ist ein wirklich lohnendes Ziel für den Reisenden in Sachen »Rätsel der Menschheit«. Wir sind kurz ins Gespräch gekommen, der in der uralten Tradition verwurzelte Inder und ich, der neugierige Besucher. So hat der junge Mann in Jeans und rotem T-Shirt erfahren, dass ich Theologie studierte. »Sthapati?« frage ich verunsichert. Der junge Inder fährt fort, mit einem Reisigbesen den Tempelvorplatz zu fegen. Er deutet auf den Tempelturm von Tanjore.

»Stell' Dir vor, Du bist Priester in Deiner Religion. Ein gewaltiger Sturm bringt Dein Gotteshaus zum Einsturz ... Was unternimmst Du dann?« Ich reagiere verunsichert. Mein Gesprächspartner lacht. »Ich beauftrage ein Bauunternehmen...« Im »Alten Indien«, so erfahre ich, war der Sthapati nicht nur Priester. Als solcher musste er die heiligen Zeremonien zu Ehren der Götter abhalten. Er war Betreuer der Gläubigen, die in den Tempel kamen. Er erklärte ihnen die heiligen Überlieferungen aus uralten Zeiten. Er las ihnen aus den heiligen Texten vor, in denen von Göttern die Rede ist, die in den Lüften ebenso zuhause waren wie auf der Erde. Und er war Priester-Architekt. Er musste die heilige Geometrie anwenden, wenn ein Tempel gebaut oder renoviert wurde.

»Der Tempel war kein einfaches Gebäude, kein simpler Ort der Versammlung ... Er war heilig ... als plastisch-materielle Dimension des jeweiligen Gottes!« Traurig deutet der junge Inder auf einige Besucher aus der ach so »zivilisierten Welt«. Manche sehen so aus, als kämen sie eben vom Badestrand. »Leider werden Tempel oft nur noch als Touristenattraktionen gesehen ...« Und wirkliche Sthapati gebe es schon lange nicht mehr.

Ein erster Eingang
Foto: W-J.Langbein
Wer sich für militärische Wehranlagen interessiert, die vor vielen Jahrhunderten errichtet wurden ... sollte unbedingt nach Indien reisen. Massive Forts beeindrucken allein schon durch die gigantischen Massen verbauten Steins. Sakrale Tempelanlagen haben mich – mit einer kleinen Reisegesellschaft – nach Indien gelockt. Offenbar gab es einst massive Baukomplexe, Burgen mit Monstermauern, die den Göttinnen und Göttern vorbehalten waren ... und natürlich dem »Bodenpersonal« der Himmlischen. Offenbar sind viele der einst so massiven Monstermauern im Lauf der Geschichte abgetragen worden. Auch von den einst so stolzen Tempeln hat nur ein Teil überlebt.

Wann die theologischen Architekten die ersten Tempel auf dem Reißbrett entworfen haben mögen? In den ältesten Überlieferungen, etwa dem Rig Veda, wird bereits von den sakralen Bauten berichtet. Und diese Texte entstanden vor 3.500, vielleicht sogar schon vor 4.000 Jahren ... oder noch sehr viel früher! Noch älter mögen die Höhlenheiligtümer sein, in denen schon die Götter des »Alten Indien« verehrt und angebetet wurden. Im Jahr 2004 wurde die Küste von Tamilnadu von einem Tsunami heimgesucht. Bei Mahabalipuram wurden von den Naturgewalten Sandmassen weggespült ... und altes Mauerwerk freigelegt.
Dr. Satchidanandamurti untersuchte die steinernen Strukturen. Zwei Tempel, so ließ er verlauten, waren so entdeckt worden. Einer von ihnen war »mindestens 800 Jahre alt« ... stand aber auf einem sehr viel älteren Bauwerk. Und das wurde auf die Zeit um Christi Geburt datiert.

Bei meinen Recherchen vor Ort stieß ich auf eine Fülle von Daten. Demnach gehen die ältesten Tempel auf die Zeit zwischen 200 vor und 500 nach Christus zurück. Die jüngsten – von Neubauten aus unseren Tagen abgesehen – stammen aus dem 17. Jahrhundert. In Madurai (Bundesstaat Tamil Nadu) leben heute über eine Million Menschen. Im dritten Jahrhundert v. Chr. dürfte Madurai bereits Hauptstadt des Pandyareiches gewesen sein. Man kann davon ausgehen, dass es schon damals Tempel gab!

Tempel wurden nicht an beliebigen Orten errichtet. Sie kennzeichneten vielmehr heilige Stätten aus uralten Zeiten, die von den Anhängern »neuerer« Religionen übernommen wurden. Madurai jedenfalls hat eine Geschichte, die deutlich in vorchristlichen Zeiten ihren Anfang genommen hat. Sie wird bereits im Sanskrit-Text »Arthashastra« des Kautilya (um drittes/ viertes Jahrhundert v. Chr.?) erwähnt. Angeblich gab es hier so etwas wie eine vorgeschichtliche Universität, in der die heiligen Texte studiert wurden.

Ein zweiter Eingang
Foto: W-J.Langbein
Tempelkomplexe waren sehr personalintensiv: Vom Architekten, der stets darauf achten musste, dass uralte Baupläne strikt eingehalten wurden ... zum Hilfsarbeiter, der die wertvollen Werkzeuge der Steinmetzen pflegen musste. Unzählige Priester und ihre Helfer gestalteten das religiöse Leben. Sie achteten auf die Einhaltung der unzähligen Vorschriften, die das Leben der Bewohner sakraler Welten regelten. Auch mussten die heiligen Gesänge zu Ehren der Götter vorgetragen werden. Dann waren da schon vor vielen Jahrhunderten Pilger, die die Tempel aus uralten Zeiten aufsuchen wollten. Größere Tempelkomplexe sollen mehrere Hundert Tänzerinnen benötigt haben, die auf ihre Weise Göttinnen und Göttern huldigten.

»Wenn Du ein Sthapati werden willst, so kennst Du gewiss die heiligen Texte Deines Glaubens!« fragt mich der kundige Inder mit dem Besen. »Im ersten Teil Deiner Bibel ist von einer Feuersäule die Rede ...« Ich freue mich, zu Füßen des majestätischen Tempelturms zu Tanjore das »Alte Testament« zitieren zu können (1): »Und Jahwe zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten.«

Die »Feuersäule«, so erfahre ich, ist keineswegs ein rein biblisches Phänomen. Einst, so ist überliefert, kam es zu einem heftigen Streit zwischen den großen Göttern des »Alten Indien«. Da erschien eine Feuersäule am Himmel, deren Ausmaße nicht zu ergründen waren. Gott Brahma versuchte, die Spitze des Himmelsphänomens zu erreichen ... vergeblich. Vishnu scheiterte ebenfalls. Er wollte den tiefsten Punkt der Säule ausfindig machen. Als die Götter vor der unglaublichen Größe der Feuersäule vor Ehrfurcht erstarrten, tat sie sich auf und Shiva erschien.
Stolz erklärt mir mein Gesprächspartner: »Dieser Komplex hier ... war eine heilige Festung, in der Shiva verehrt und angebetet wurde. 400 Tempeltänzerinnen gingen ihrer Arbeit nach. 600 Handwerker waren ständig damit beschäftigt; sie renovierten, erneuerten...« Die alten Götterkulte scheinen floriert zu haben. Tausende und Abertausende fanden Arbeit.

Und noch ein Eingang
Foto: W-J.Langbein
In glühender Hitze versuchte ich den Brhadisvara-Komplex von Tanjore zu erfassen. Was in der Literatur gelegentlich als »Tempel« verniedlicht wird, Das zentrale Gebäude steht auf einem 240 Meter langen und 120 Meter breiten, von massiver Mauer umgebenen Areal. Herrscher Rajaraja I. soll 1003 den Baubeginn angeordnet haben. Sieben Jahre später hatte ein Arbeiterheer den Auftrag bereits erledigt.

Unvorstellbare Massen von Stein mussten fast fünfzig Kilometer vom Steinbruch zur Tempelanlage geschafft werden. Ausgerichtet ist die sakrale Miniaturstadt von Südosten nach Nordwesten. Betritt man den Komplex im Südosten, so durchschreitet man eine Säulenhalle, besucht vielleicht einen Versammlungssaal und erkennt einen imposanten »Vorraum«. Im Zentrum befindet sich das Allerheiligste, das Sanktuarium ... und darüber erhebt sich stolz – bis zu einer Gesamthöhe von 74 Metern (2) – die steile Tempelpyramide, ein Bauwerk von beeindruckender Schönheit!

58 Meter hoch, so lese ich vor Ort auf einer kleinen Tafel, ist der Tempelturm. Es war vor fast genau einem Jahrtausend eine Meisterleistung der Statik, solch einen Koloss auf einen »heiligen Raum« zu setzen. Dreizehn »Stockwerke« umfasst die Pyramide, die mich in verblüffender Weise an ähnlich steile Maya-Türme erinnert. Die einzelnen Stufen des anmutig wirkenden Turms sind aber fast überhaupt nicht zu erkennen. Mit künstlerischer Präzision sind unzählige Verzierungen angebracht, die den Eindruck einer glatten, gleichmäßig spitz zulaufenden Oberfläche vermitteln.

Golden leuchten heilige
Kultanlagen im Sonnenschein.
Foto: W-J.Langbein
»Wenn Du ein Sthapati werden willst, solltest Du wissen, dass der Tempelturm den ›heiligen Berg‹ darstellt ... die Kugel hoch oben an der Spitze ist ein Vimana ... und der ›heilige Raum‹ unter dem Turm die heilige Höhle, den Mutterschoß!« Ich wende ein: »Manche verstehen ja auch den gesamten Turm mit steinerner Kugel an der Spitze als Vimana, als Vehikel der Götter!« Wie sich doch die Bilder gleichen! Im 2. Buch Mose (3) wird beschrieben, wie die Israeliten auf der legendären Flucht aus Ägypten am Berg Sinai ankommt.
Der Gott der Bibel verbietet dem Volk, den Berg Sinai zu besteigen. Ein Zaun muss errichtet werden, um die Menschen daran zu hindern, auf die Spitze des Berges zu steigen. Es droht nämlich Gefahr: Der biblische Gott wird vom Himmel hoch auf den Gipfel des Berges herabsteigen. So geschieht es dann auch (4):

»Der ganze Berg Sinai aber rauchte, weil Gott auf den Berg herniederfuhr im Feuer; und der Rauch stieg auf wie der Rauch von einem Schmelzofen und der Berg bebte sehr.«


Fußnoten
1: 2.Buch Mose, Kapitel 13, Vers 21
2: Die Höhenangaben variieren in den verschiedenen Quellen geringfügig.
3: 2.Buch Mose Kapitel 19, Verse 1-25
4: 2. Buch Mose Kapitel 19, Vers 18

»Das Geheimnis der steinernen Kugel«,
Teil 176 der Serie »Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
erscheint am 02.06.2013


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