Sonntag, 5. Mai 2013

172 »Das Horrorkabinet von Konarak«

Teil 172 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«

von Walter-Jörg Langbein

Konarak, im indischen Bundesstaat von Orissa am Golf von Bengalen gelegen, ist so etwas wie eine Geisterstadt in Stein. König Narasimha Deva (13. Jahrhundert) gab den Auftrag, einen imposanten Himmelswagen für den Sonnengott Surya zu bauen. Der Gigant aus Granit scheint auf vierundzwanzig gewaltigen, mannshohen Rädern zu ruhen. Sieben magische Pferde aus Stein standen bereit. Der Sonnengott sollte jederzeit mit seinem mächtigen Vehikel gen Himmel fliegen können.

Unklar ist, ob die Kultanlage erst kurze Zeit nach Vollendung ... oder schon während des Baus wieder aufgegeben wurde. Verschwunden ist, so viel wissen wir, der einstige Tempelturm. War das sakrale Bauwerk bereits vollendet, als es wieder abgebrochen wurde? Oder hatten die Baumeister eine unfertige Bauruine hinterlassen, die aufgegeben und später wieder abgetragen wurde? Wurden die unzähligen, üppigen Figürchen am Tempel von den Steinmetzen (1) alle fertig gestellt? Oder unterbrachen die Künstler manche ihrer Arbeiten, aus welchem Grund auch immer?

Besonders liebevoll wurden Statuen von Surya gestaltet, ob stehend oder hoch zu Ross. Ein Sonnengott wurde schon lange vor Baubeginn just an jener Stelle verehrt, wo später Surya angebetet werden würde. So wie Kirchen häufig auf »heidnischen« Kultplätzen entstanden, so bauten die »Alten Inder« ihre Tempel oftmals dort auf, wo schon lange zuvor sehr viel ältere Kulte zelebriert wurden.

Sonnengott Surya von
Konarak - Foto:
W-J.Langbein
Aus einem Sonnengott (oder gar ... aus einer Sonnengöttin?) wurde Surya, der als Zentrum des Sonnensystems angesehen wurde. Ja man verehrte ihn als Atman, das »Höchste Selbst«. Mag sein, dass in Surya zwei Gottheiten aufgingen: eine männliche und eine weibliche. Aus der weiblichen Göttin wurde der weibliche Aspekt Suryas, genannt »Savitri«, die »Leuchtende«. Frommen Missionaren war die Göttin mehr als suspekt. Sie verunglimpften sie gern als Teufel Luzifer, den »Lichtbringer« oder »Lichtträger«.

Im 19. Jahrhundert wurden einige der grandiosen Tempel Indiens entdeckt ... zum Beispiel die Sakralbauten von Khajuraho. Und fast überall haben emsige Steinmetzen Himmelstänzerinnen, Göttinnen und mysteriöse Fabeltiere dargestellt ... und immer wieder sexuelle Darstellungen. Die Pärchen, fein säuberlich in Stein modelliert, demonstrieren zum Teil akrobatische Liebesakte, die an Hochleistungssport erinnern. Einer der Tempelentdecker war der britische Offizier T.S. Burt. Für den Armeehauptmann waren diese erotischen Kunstwerke »extrem unzüchtig und anstößig«. Zögerlich vermeldete der prüde Offizier Königin Viktoria seine Entdeckungen ... und dachte intensiv darüber nach, ob es denn nicht besser wäre, die Erotik in Stein möglichst rasch zu zerstören. Schließlich siegte der Respekt vor den uralten Bauwerken über die Prüderie, die Kunstwerke blieben unangetastet, in Khajuraho, in Konarak und in anderen Städten Indiens.

In Konarak gingen moderne Restauratoren sehr sorgfältig mit der alten, zum Teil maroden Bausubstanz vor. Sie waren bemüht, die alte Bausubstanz zu erhalten. Auch sollten die Tempelanlagen so stabilisiert werden, dass sie noch möglichst viele Jahrhunderte dem Zahn der Zeit trotzen können. Es wurde aber darauf verzichtet, die Fantasie walten zu lassen, wo Lücken in den Reliefs klafften. Man bewies den Mut zur Lücke und verzichtete auf erfundene Ausfüllungen aus Stein.

Mut zur Lücke - Foto: W-J.Langbein
Tausende von Figürchen und Reliefs zieren den Sonnentempel von Konarak, kleine und große. Es ist, als hätten die Künstler vor vielen Jahrhunderten ein Werk hinterlassen, das wir wie ein Buch lesen sollen. Genauer gesagt: Es ist ein riesiges Bildband in Stein. Tausende Darstellungen unterschiedlichster Größen belegen eine simple Wahrheit: die Künstler der »Alten Inder« schufen detailgetreue Abbildungen der Wirklichkeit, fotorealistisch und naturgetreu. Diese Feststellung ist wichtig. Wir können nicht einerseits die präzise, korrekte Darstellung von Menschen und Tieren bewundern ... und andererseits bei fantastisch anmutenden Darstellungen Unfähigkeit der Künstler unterstellen!

Was viele Besucher – vor allem aus dem christlichen Abendland – oftmals übersehen, das sind Horrorkreaturen, die genauso detailgetreu abgebildet wurden wie Menschen und Tiere. Diese Wesen locken nur wenige Betrachter an, ganz im Gegensatz zu den Pärchen, die Sexakrobatik demonstrieren. Ich behaupte: die furchteinflößenden Monsterwesen muss es wirklich gegeben haben, genauso wie die Menschen und Tiere. Sie lassen sich nur keiner bestimmten Gattung zuordnen. Es sind kuriose Mischwesen. Für Fantasiegestalten sind sie alle zu naturalistisch dargestellt!

Mischwesen wurden im Königreich Ur bereits vor rund fünf Jahrtausenden verewigt ... als Stiere mit Menschenköpfen, aber auch als Skorpion-Menschen. 1995 stellte ich diese monströsen Wesen in meinem Buch »Das Sphinx-Syndrom« (2) vor.

Monster von Ur
Foto: Archiv
W-J.Langbein
Solche Monsterwesen hat der Geschichtsschreiber Eusebius (etwa 260 bis 339 n. Chr.) schaudernd und detailgetreu beschrieben (3): »Menschen mit Schenkeln von Ziegen und Hörnern am Kopfe, noch andere, pferdefüßige, und andere von Pferdegestalt an der Hinterseite und Menschengestalt an der Vorderseite. Erzeugt hätten sie (die Götter) auch Stiere, menschenköpfige, und Hunde, vierleibige, deren Schweife nach Art der Fischschwänze rückseits an den Hinterteilen hervorliefen, auch Pferde mit Hundeköpfen ... sowie andere Ungeheuer, pferdeköpfige und menschenleibige und nach Art der Fische beschwänzte, dazu weiter auch allerlei drachenförmige Unwesen und Fische und Reptilien und Schlangen und eine Menge von Wunderwesen, mannigfaltig gearteten und untereinander verschieden geformten.«

Man möchte gern diese Horrorkreationen ins Reich der Märchen verbannen. Man möchte hoffen, dass es sie nie gegeben hat ... doch in fast allen Museen der Erde finden sich Abbildungen, präzise Darstellungen jener Wesen. So finden sich im französischen Louvre Miniaturen, etwa 4.200 Jahre alt, die menschenköpfige Stiere darstellen. Im Eingangsbereich des Ägyptischen Museums von Kairo sah ich in einer Glasvitrine das in Stein gearbeitete Halbrelief fremdartiger Monster. Ihre Leiber erinnern an Pferde, sie haben Löwenfüße. Auf unnatürlich langen Hälsen sitzen verhältnismäßig kleine Köpfe, die an Löwenhäupter erinnern. Angriffslustig stehen die beiden Wesen einander gegenüber, scheinen gleich einander angreifen zu wollen. Noch hindern sie kleine, sehr naturgetreu dargestellte Wesen daran, zerren an Stricken ...

Monster der Osterinsel
in der Kirche
Foto: W-J.Langbein
Monsterschriften wurden auch auf der Osterinsel dargestellt - in Halbreliefs in Stein, halb Vogel, halb Mensch. Emsige Steinmetzen haben mit großer Geduld unzählige dieser Kreaturen in das grobkörnige Vulkangestein gemeißelt. Tausende solcher Kunstwerke mag es gegeben haben. Die meisten sind dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen. Nicht wenige sind nur den Einheimischen bekannt. Und nicht wenige werden interessierten Besuchern gezeigt.

Die mysteriösen Mischwesen der Osterinsel wurden sogar von der christlichen Kunst übernommen. Man findet sie im Schnitzwerk der kleinen christlichen Kirche auf dem mysteriösen Südseeeiland! Da werden Vogel-Mensch-Kreaturen im Sinne der christlichen Religion geduldet: offenbar will die Geistlichkeit den Insulanern mit starkem »heidnischen« Hintergrund entgegenkommen. Und so tauchen alte heidnische Fabelwesen in christlichem Kontext wieder auf. Im Vordergrund steht die Statistik: Im Vordergrund steht die Zahl der Religionsanhänger der eigenen Richtung. Da stört man sich auch nicht daran, dass uraltes fremdes Glaubensgut mehr oder minder heimlich weiter zelebriert wird, auch wenn man es eigentlich als heidnisch ablehnen müsste!

Konaraks Tempelfiguren ... ein riesiges Buch in Stein! Die sexuellen Darstellungen haben, so höre ich immer wieder, einen tieferen, symbolischen Sinn. Es gehe um den göttlichen Zeugungsakt der Weltschöpfung. Wie aber sind die Mischwesen zu verstehen, die einem Horrorkabinett entsprungen zu sein scheinen? Darf man die unheimlichen Darstellungen psychologisierend interpretieren: als Darstellung von Urängsten der Menschen, die so konkretisiert wurden?

Misch- und Fabelwesen 
Oder haben wissenschaftliche Interpreten der Kunst von Konarak und anderer Tempel Angst vor der Vorstellung, dass es einst wirklich furchteinflößende Geschöpfe gegeben hat, die in der Zoologie eigentlich keinen Platz haben dürften?

Fußnoten
1 Steinmetzen und Steinmetze sind Pluralformen von Steinmetz
2 Langbein, Walter-Jörg: »Das Sphinx-Syndrom«, München 1995, Abbildungen 21 und 22
3 Karst, Josef: »Eusebius Werke«, Band 5, »Die Chronik«, Leipzig 1911. Siehe hierzu Däniken, Erich: »Die Augen der Sphinx«, München 1989. S. 68 und 69

»Monsterwesen in Konarak«,
Teil 173 der Serie Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
erscheint am 12.05.2013


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