Sonntag, 31. Mai 2015

280 »Die Lichterscheinungen von Lügde und anderswo«

Teil 280 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                        
von Walter-Jörg Langbein


»Leuchtende« Kilianskirche bei Nacht.

»An der Stelle, wo sich heute die St. Kilianskirche erhebt, soll in ganz, ganz alter Zeit bei den Heiden einst ein Heiligtum, das ›Ewige Licht‹ geheißen, gewesen sein. Hier soll immer ein Licht gebrannt haben und eine Heilquelle aus der Erde gesprungen sein. Aus allen Landen kamen die Heiden hierher. Es mag sich um ein wichtiges Heiligtum gehandelt haben. Die christlichen Missionare haben dieses Heiligtum dann verschüttet und an dieser Stelle eine Kirche errichtet, dem Heiligen Kilian geweiht. Die verschüttete Quelle versank 898 Meter tief und wartet noch heute auf ihre Wiederentdeckung. Es soll eine Salzquelle sein, die überaus heilsam wirken könne.«  So schreibt Heimatforscher Manfred Willeke in der von ihm herausgegebenen »Lügder Sagen-Sammlung«.


Ermordung St. Kilians

Interessant ist die Herkunft des Namens »Kilian«. Sie ist wohl keltischen Ursprungs. Aus dem keltischen »Ceallach« wurde wohl Kilian. »Ceallach« ist alles andere als christlich und bedeutet »Krieg, Kampf und Kämpfer«. Kam »St. Kilian« wie vermutet, aus dem keltischen Raum, um auch im Raum Lügde zu missionieren? Oder verbirgt sich etwas Heidnisches hinter der christlichen Fassade? 1972 wurde Ausgrabungen vor Ort durchgeführt, die interessante Spuren zutage förderten. So stießen Archäologen auf ein »prähistorisches Kindergrab« (2), aus der Zeit um Christi Geburt und auf eine »Abfallgrube« aus der gleichen Zeit. 

Die Kelten hinterließen eine Vielzahl von Anlagen, zum Beispiel die »Keltenschanzen« von Holzhausen (Bayern) und der »Herlingsburg« (unweit von Lügde). Innerhalb dieser von Erdwällen umgebenen Stätten gab es sehr häufig recht tiefe Schächte, in denen »organisches Material« entdeckt wurden. Offenbar handelte es sich dabei um Opferschächte, in die Gaben für die Götter geworfen wurden. Was manchmal despektierlich als »Abfallgrube« bezeichnet wird, kann sehr wohl auf heidnische Kulte hinweisen.

Dr. Günther Wieland studierte Vor- und Frühgeschichte. Der promovierte Wissenschaftler darf als einer der führenden Experten in Sachen »Keltenschanzen« gelten. In »Keltische Viereckschanzen« versucht er zusammen mit namhaften Kollegen einem uralten Rätsel auf die Spur zu kommen (3). Dr. Wieland schreibt zur Thematik der »Schächte« (4): »Die mehrfach in Viereckschanzen nachgewiesenen Schächte waren eines der Hauptargumente, alle diese Anlagen kultisch zu deuten und werden immer noch kontrovers diskutiert.«

Als ich in Erlangen evangelische Theologie studierte, hielt ich im Hause des »Martin-Luther-Bundes« einen Vortrag über »heidnische Wurzeln christlicher Stätten«. Meine Hinweise darauf, dass es dort, wo heute christliche Wallfahrten enden, einst schon Heiden ihre Kultfeiern zelebrierten, stießen auf wenig Begeisterung. »Sie interpretieren da zu viel hinein, Bruder Langbein!«, ermahnte mich mit strengem Blick ein Professor der Kirchengeschichte. »Verschwenden Sie doch nicht Ihre Zeit mit derlei Überlegungen! Wenn irgendwo im Erdreich Reste von Tieren ausgegraben werden, muss das mit altem heidnischen Brauchtum nichts zu tun gehabt haben. Vielleicht waren das nur Abfälle, die man vergraben hat! Und Sie geheimnissen da Religiöses hinein!« 

Teil des Walls einer Keltenschanze (Holzhausen)

In Holzhausen, Raum München, wurden in einer »Keltenschanze« drei Schächte ausfindig gemacht. Der älteste war immerhin ursprünglich 35 Meter tief. Dieser 35 Meter tiefe Schacht war teilweise handwerklich geschickt verschalt worden. Archäologen entdeckten am Grunde des verschütteten Schachts ein geschnitztes, scheibenförmiges Holzobjekt, vermutlich ein Kultobjekt aus heidnischen Zeiten. Im sechs Meter tiefen Schacht von Holzhausen stand einst auf dem Boden ein ins Erdreich getriebener Pfahl. Solche Pfähle versinnbildlichten in »primitiven« Zeiten nicht selten Gottheiten. Zu Zeiten des Alten Testaments, als Jahwe schon längst offizieller Gott war, wurden noch Pfähle angebetet, stellvertretend für Göttinnen. So war das Bild der Göttin Aschera alias Astarte ein Pfahl. Aschera alias Astarte war eine der wichtigsten Fruchtbarkeitsgöttinnen.

Vergeblich suchte ich in der Literatur nach archäologischen Auswertungen der »Abfallgrube« von Lügde aus der Zeit um Christi Geburt. So lässt sich die Frage, ob es sich dabei um Spuren ritueller Kulthandlungen und Opferungen vor rund zwei Jahrtausenden gehandelt hat, nicht mehr beantworten. Manfred Willeke hält es für möglich, dass dort, wo heute die altehrwürdige Kilianskirche zu Lügde steht, schon in vorchristlicher Zeit religiöse Feiern abgehalten wurden. So schreibt er(5): »Wenn es sich dabei tatsächlich um ein Heiligtum der Sachsen (Heiden) gehandelt hat, wäre die Errichtung einer Kirche darüber durchaus möglich, wie uns die Fachliteratur berichtet.«

Maria Licht
 Vor Jahren kam ich in der Kilianskirche zu Lügde mit einem Schweizer Ehepaar aus dem Dörfchen Acladira (Kanton Graubünden, in der Nähe von Trun) ins Gespräch. Interessiert lauschten die sympathischen Eidgenossen meinen Hinweisen auf die Lichterscheinung, die nach der alten Sage zum Bau der ersten Kilianskirche führte. »Unser Kirchlein in Acladira heißt Maria Licht!«, erklärte mir der Mann. Auch hier wird von einer geheimnisvollen Lichterscheinung berichtet. In vorgeschichtlichen Zeiten gab es ein prähistorisches Heiligtum. Ein mächtiger Findling überlebte die »Christianisierung«. Angeblich war der Stein noch im 20. Jahrhundert Ziel christlicher Pilger. Ob es schon zu heidnischen Zeiten das seltsame helle Licht gab? Wurde just dort, wo heute zu »Maria Licht« gebetet wird, eine Göttin verehrt? Am Chorbogen wird die Aufmerksamkeit der Besucher auf ein großes Fresko gelenkt. Es zeigt den »Triumphzug Marias«. Maria wird auf einem Wagen von Benediktinern gezogen.

Auf dem Altarbild, so erfuhr ich, sei einst eine »Heimsuchungsszene« zu sehen gewesen. Sollte das Kunstwerk den frommen Christen im 17. Jahrhundert zu anrüchig gewesen sein? Es wurde in den Jahren 1681 bis 1684 »durch eine bekleidete Madonna« (6) ersetzt. Die christliche Weihe erfolgte erst am 4. Juli 1672 durch Bischof Ulrich VI. de Mont zu Ehren der Jungfrau »Maria zum Licht«. Heidnische Weihen dürfte der sakrale Ort schon Jahrtausende früher erhalten haben. Das namensgebende Licht wurde von der christlichen Gemeinde als »göttliche Botschaft« gedeutet. Auch das im 17. Jahrhundert gefertigte Gemälde im Chorhimmel kann als »verchristianisierte« Fassung eines heidnischen Opferrituals gedeutet werden. Da fließen das Blut Jesu und die Milch der Gottesmutter zusammen: in einer Opferschale. Blut und Muttermilch lassen Erinnerungen an einen uralten Kult aus dem Matriarchat aufkommen.

Maria auf der Mondsichel in Lügdes Marienkirche

Zu den ältesten Gottheiten überhaupt gehören mit dem Mond verbundene Göttinnen. Barbara Walker weiß zu berichten (7): »Die Menschen glaubten schon seit ihren frühesten Kulturen, daß die geheimnisvolle Magie der Schöpfung dem Blut innewohne, das Frauen in offensichtlicher Harmonie mit dem Mond von sich gaben.« In »Harmonie mit dem Mond« wird sehr häufig auch in christlicher Sakralkunst Maria, die Gottesmutter, gezeigt. In zahllosen Darstellungen – zum Beispiel in der Marien-Kirche zu Lügde, steht sie auf einer Mondsichel. Die christliche Muttergottes setzt so eine uralte Tradition fort, die irgendwann in grauer Vorzeit ihren Ursprung nahm.  In Mesopotamien zum Beispiel wurde die Muttergöttin Ninhursag verehrt, die Menschen wie der biblische Gott aus Lehm geschaffen haben soll. Diese Kreationen bekamen das »Blut des Lebens« eingetrichtert…. 

»Ägyptische Pharaonen,« so lesen wir im Lexikon »Das geheime Wissen der Frauen« (8), »wurden göttlich, indem sie ›Blut der Isis‹ zu sich nahmen«. Dürfen wir in diesem Zusammenhang an das »Blut Christi« denken, das beim christlichen Abendmahl rituell verabreicht wird?


Maria Eck

Vom Schweizer Acladira zur Wallfahrtskirche Maria Eck im Traunsteiner Land. Das kleine Kirchlein ist auch heute noch, 882 Meter hoch gelegen, eines der beliebtesten Ziele des Chiemgaus. Vor dem Gnadenbild beten Zigtausende. Ob sie alle wissen, dass am Anfang eine mysteriöse Lichterscheinung den Ort heiligte? Auch die Maria der Wallfahrtskirche »Maria Eck« wird seit alters her in frommer Kunst gern wie eine Mondgöttin, also stehend auf der Mondsichel, gezeigt. 100 000 Pilger besuchen jährlich Maria Eck. Wie viele mögen wissen, dass »ihre« Gottesmutter uralten Mondgöttinnen entspricht?

»Mondgöttin« von Maria Eck

Leider fehlt bis heute eine wissenschaftliche theologische Erforschung der vernachlässigten Zusammenhänge: Welche Marienheiligtümer wurden auf heidnischen Kultstätten gebaut? Wo gab es mysteriöse Lichterscheinungen, die solche Orte der Kraft markierten? Bestätigten Lichterscheinungen die richtige Auswahl von Orten für den Bau von Tempeln oder Kirchen? Oder wurden sakrale Bauwerke dort gebaut, wo geheimnisvolle Lichterscheinungen aufgetreten sind?

Maria Locherboden

Ich fürchte, für viele heilige Orte werden sich diese Fragen nicht mehr beantworten lassen, weil das vorchristliche Erbe über Jahrhunderte hinweg negiert, verdrängt und zerstört wurde. So wissen wir von der Wallfahrtskirche Maria Locherboden über dem Inntal am Mieminger Plateau (Österreich), dass bei der christlichen Weihe anno 1901 Lichterscheinungen aufgetreten sein sollen. Aber wann wurde dieses Phänomen zum ersten Mal beobachtet? Fakt ist: Schon bevor die Kirche gebaut wurde, gab es Wallfahrten und – angeblich – Wunderheilungen. Die Kirche Maria Locherboden wurde ja errichtet. Weil just jene Stelle schon seit Jahrhunderten von christlichen Pilgern besucht wurde.


In den Monaten Mai bis Oktober findet immer am 11. Des Monats eine Lichterprozession statt… in Erinnerung an mysteriöse Lichterscheinungen? Ich fürchte, die Zusammenhänge zwischen heidnischen oder/ und christlichen Kultorten und mysteriösen Lichterscheinungen lassen sich in vielen Fällen nicht mehr erforschen. Wir sollten aber endlich die vorhandenen Quellen – Sagen, zum Beispiel – nutzen und auswerten, die Antworten auf just diese Fragen anbieten. Bislang entsteht aber der deutliche Eindruck, dass eine solche Forschung nicht wirklich erwünscht ist. Warum? Weil jeder Gläubige gern davon ausgeht, dass die eigene Religion allein die Fragen des Lebens beantworten kann.

St. Kilian zu Lügde
Leider gibt es aber bisher nicht einmal einen zusammenfassenden Überblick, wo und seit wann denn überall als göttlich angesehene Leuchterscheinungen aufgetreten sind. Ebenso wenig gibt es einen Überblick über alle »heidnischen« Stätten, die von christlichen abgelöst wurden. Die von mir angeführten Beispiele sind nur eine winzige Auswahl… Wie viele mag es insgesamt geben, im christlichen und darüber hinaus überhaupt im religiösen Bereich? Das sind Fragen, die Theologie, die diesen Namen auch verdient, endlich zu beantworten versuchen sollte!


Fußnoten

(1) Willeke, Manfred: »Lügder Sagen-Sammlung/ Sagen und sagenhafte Geschichten aus der Stadt Lügde«, Lügde 1988, S. 81, Orthographie blieb unverändert
(2) ebenda, S. 82
(3) Wieland, Günther (Hrsg.): Keltische Viereckschanzen/ Einem Rätsel auf der Spur, Stuttgart 1999
(4) ebenda, S. 44
(5) , Manfred: »Lügder Sagen-Sammlung/ Sagen und sagenhafte Geschichten aus der Stadt Lügde«, Lügde 1988, S. 81, Orthographie blieb unverändert.
Anmerkung des Verfassers: Meine Schlussfolgerungen sind »auf eigenem Mist gewachsen« und nicht mit Herrn Willeke abgesprochen. Es soll nicht der Eindruck entstehen, als ob meine Vermutungen von Herrn Willeke geteilt werden.
(6) Wikipedia-Artikel zu »Maria Licht«, Stand 14. April 2015
(7) Walker, Barbara: »Das geheime Wissen der Frauen«, Frankfurt 1993, S. 698
(8) ebenda, S. 700

Zu den Fotos:

»Leuchtende« Kilianskirche bei Nacht: Foto Walter-Jörg Langbein
Ermordung St. Kilians:Archiv Walter-Jörg Langbein
Teil des Walls einer Keltenschanze (Holzhausen): Foto Walter-Jörg Langbein
Maria Licht: wiki commons/ Adrian Michael
Maria auf der Mondsichel in Lügdes Marienkirche: Walter-Jörg Langbein
Maria Eck: wiki commons/ Schizoschaft
»Mondgöttin« von Maria Eck: ca 1850, Archiv Walter-Jörg Langbein
Maria Locherboden:wiki commons/ Kries
St. Kilian zu Lügde: Walter-Jörg Langbein

281 »Die verschwundenen Burgen«
Teil 281 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                        
von Walter-Jörg Langbein,                      
erscheint am 07.06.2015

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Samstag, 30. Mai 2015

Poesie am Samstag

Welche Grenzen
braucht die Freiheit?


Die Welt ist schwarz, die Welt ist weiß,
dreht sich um sie herum im Kreis.
So schnell, dass alles Grau in Grau
erscheint der jungen Frau.

Der Tag ist hell, die Nacht so blind;
verzweifelt sucht das große Kind
nach einem Halt im Karussell.
Vergeblich – es dreht sich zu schnell.

Wo bin ich und wo zieht’s mich hin?
Wo liegt denn nur der tiefe Sinn?
Kaum dass es glaubt, ‚jetzt wird es klar‘,
erkennt es, dass es dort schon war.

„Die Mutter“ sagt es, die ist Schuld
an seiner wachsend‘ Ungeduld.
Hat es als Kind nicht eingegrenzt,
gab zuviel Raum im jungen Lenz.

Kind! Halt ein! Besinne Dich,
den Augenblick begrenzt Du nicht.
Der Raum zu groß, das Kind verloren,
wurd‘ es in freien Raum geboren.

Nach Grenzen sucht es voller Pein
und schafft sich neue nur zum Schein.
Und schließt die Augen vor den Wänden,
die es erschuf mit eig‘nen Händen.

Gebiert in engen Grenzen selber Leben,
will für die Kinder Halt erstreben.
Und ahnt nicht, dass mit aller Kraft,
das neue Leben ihre Grenzen rafft.

Mit aller Macht wird dieses Leben
nach Räumen ohne Grenzen streben.

Nicht jeder kann befreit dort sein
und mauert sich schnell wieder ein.

g.c.roth 2008

Text aus: Fluffige und andere Zeiten: Heitere und besinnliche Kurzgeschichten, Fabeln und Gedichte
von g.c.roth





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Sonntag, 24. Mai 2015

279 »Die Marienwunder von Lügde«

Teil 279 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein


Die Marienkirche von Lügde.

Wie alle Jahre rollten auch am Ostersonntag 2015, am Abend des 5. April, sechs brennende »Osterräder« von einer Anhöhe ins Tal. Sie kamen gut voran, was nach altem Volksglauben auf reiche Ernte für die Landwirtschaft hinweist. Heimatforscher Manfred Willeke berichtet (1):


»Wie alt dieser Brauch ist, und woher er ursprünglich stammt, ist weithin unbekannt. Die alten Lügder berichten lediglich davon, daß zwei Jungen einmal einige ausgediente Wagenräder mit Stroh hätten laufen lassen, was den Leuten sehr gut gefallen hätte und schließlich zur Tradition geworden wäre.«

Ein brennendes Rad rollt ins Tal, Ostersonntag in Lügde

Mir erscheint diese Erklärung wenig plausibel zu sein. Ich halte es für nicht glaubwürdig, dass »zwei Jungen« aus einer spielerischen Laune heraus zentnerschwere Wagenräder auf einen Berg geschafft haben und ins Tal haben rollen lassen. Es ist alles andere als wahrscheinlich, dass sich aus einem kindlichen Spiel ein bis in unsere Tage zelebrierter Brauch entwickelt hat. Eine ebenfalls von Manfred Willeke publizierte Lügder Sage datiert den Ursprung der Feuerräder in vorchristliche Zeiten zurück (2):

»Vor vielen hundert Jahren wurden die Osterräder zu Lügde verboten, da sie der Kirche in dieser Zeit nicht mehr genehm waren und auch nicht in die Zeit gepasst hätten… Die Lügder aber hingen sehr an diesem Brauchtum und suchten den Kontakt zur Kirche. Nach langen zähen Verhandlungen einigte man sich schließlich darauf, die Räder weiterhin unter christlicher Vorstellung zu Ehren des auferstandenen Herrn Jesus Christus laufen zu lassen. Zu diesem Zweck wurden die Räder mit den vielen Speichen abgeschafft und nur noch zwei Speichen in die Räder gesetzt, welche wie ein Kreuz aussahen. So war die Kirche und auch das Volk zu seinem Recht gekommen und der Lauf der Osterräder gesichert.« Wurde also ein uralter heidnischer Brauch (»Feuerräder«) christianisiert (»Osterräder«), so dass die Kirche die Fortführung der österlichen Zeremonie dulden konnte?

Feuerräderlauf zu Lügde... Ostersonntag
Dass die »gute alte Zeit« so wirklich gut nicht immer war, beweist auch die Geschichte meiner neuen »Heimatstadt« Lügde (3). In den Jahren 1447, 1548 und 1797 kam es zu katastrophalen Stadtbränden, bei denen fast nur die Befestigungsanlagen und die Kilianskirche erhalten blieben. Große Überschwemmungen suchten Lügde 1539, 1775 und zuletzt 1946 heim. Zu Kriegsschäden kam es besonders im 17. Jahrhundert (4). 1632 standen die Schweden vor der Stadtmauer Lügdes. Die feindliche Übernahme stand unmittelbar bevor. Den Lügdern grauste es vor einem möglichen blutigen Ende. Hatten sie die »Magdeburger Hochzeit« vor Augen? 1631 war Magdeburg von 26.800 kaiserlichen Soldaten belagert wurden. Am 10. Mai 1631 wurde Magdeburg förmlich überrannt. Es kam zu Plünderungen, Morden und Vergewaltigungen. Kinder wie Greise, Frauen wie Männer, Zivilisten wie Soldaten wurden in einem fürchterlichen Gemetzel förmlich abgeschlachtet. Rund 20.000 Tote waren zu beklagen, ein Großteil der gesamten Bevölkerung. Überlebt haben reiche Magdeburger, die sich freikaufen konnten. Überlebt haben zweitausend, vielleicht sogar viertausend Menschen, die im Dom Zuflucht gesucht hatten. Sie wurden vom Heerführer Johann Graf von Tilly verschont. Würde den Lügdern wenige Monate nach dem grausamen Gemetzel von Magdeburg ein ähnlich schlimmes Schicksal widerfahren?

1632 drohte die Stadt Lügde von einem übermächtigen Truppenkontingent der Schweden eingenommen zu werden. In einer alten Lügder Sage wird das Marienwunder beschrieben (5):

Marienkirche zu Lügde
» Als im Jahre 1632 die Schweden die Stadt Lügde angriffen, geschah ein großes Wunder. Machtlos standen die Bewohner Lügdes der angreifenden Übermacht der Schweden gegenüber. Als sie keinen Ausweg mehr wußten, fingen sie in dieser allerhöchsten Not an zu beten und riefen die Hilfe der Stadtschutzpatronin, der Muttergottes, an.

Der Beschuß der Schweden wurde aber immer heftiger und schon flogen die ersten Kanonenkugeln über die Stadtmauer. Immer wilder tobte der Kampf um Lügde. Da erschien an der Stelle, wo heute die Muttergottes in den Stadtmauer steht, eine ›weiße Frau‹ auf der Mauer und blickte den Schweden mutig ins Auge. Sie verschwand trotz des starken Beschusses nicht von der Mauer und schaute furchtlos zu den Schweden. …

Da wichen die Schweden entsetzt zurück und ergriffen die Flucht vor dieser ›weißen Frau‹. Erleichtert sanken die Lügder auf die Knie und stimmten ein Loblied zu Ehren der Muttergottes an, die ihnen doch einen rettenden Engel geschickt – oder ihnen selbst geholfen hatte ????« (Ende des Zitats)

Reste der Stadtmauer von Lügde

Nach meinem intensiven Quellenstudium bin ich zur Überzeugung gelangt, dass bereits rund ein halbes Jahrtausend vor der Belagerung durch die Schweden eine Muttergottes-Figur in einer Nische der Stadtmauer von Lügde verehrt wurde. Nach der wundersamen Rettung durch die »Weiße Frau« nahm die Marienverehrung in Lügde noch zu. Mit großem Eifer dankte man Maria. Wie? Angeblich war es fromme Sitte, zu Ehren der »Heiligen Jungfrau« Kerzen anzuzünden. Die Lügder, als Lipper ansonsten nicht gerade für Verschwendungssucht bekannt, sollen allen Geiz vergessen und voller religiöser Inbrunst zahllose Kerzen in unmittelbarer Nähe der Statue abgebrannt haben. Über die Jahrhunderte sei die »Muttergottes« schwarz geworden. Kleine Kinder sollen sich gar vor der verehrten Statue gefürchtet haben. Also wurde beschlossen, die alte, schwarze Statuette gegen eine neue, ansehnlichere auszutauschen. Das soll Ende des 19. Oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschehen sein.

Die neue Statuette von Jesu Mutter sollte an die Stelle der alten treten. Die alte sollte verschwinden. Ausgediente Heiligenfiguren wurden auf besondere Weise »entsorgt«. So wurde die schwarze Madonna von Lügde einem »Heiligenfeuer« anvertraut….(7) »Doch die Muttergottes verbrannte nicht, sondern strahlte ein viel helleres Licht als das des Feuers aus. Da nahmen sie die Kinder wieder an sich und brachten sie zum Vater. Dieser war zornig und schimpfte die Kinder aus, daß sie das alte Ding nun doch wieder mitgebracht hätten. In seinem Zorn packte er sich die Figur und lief damit zur nahen ›Kleinen Emmer‹, in die er sie hineinwarf. Wenn er nun aber gedacht hatte die Lösung des Problems gefunden zu haben, so hatte er sich geirrt, denn die Muttergottes bewegte sich nicht von der Stelle, ja ging auch nicht unter. Da ergriff ihn ein Gefühl tiefer Ehrfurcht und er fischte die Muttergottesstatue wieder aus der ›Kleinen Emmer‹. Zuhause angekommen reinigte er sie gründlich und räumte ihr einen besonderen Ehrenplatz in der sogenannten Wohnstube ein. Nach vielen Jahren hörte Pfarrer Vogel (1922-40) davon und er bekam die Muttergottesstatue für die Kirche, wo sie noch heute steht.«

Wundersame Statue, Marienkirche, Lügde

Drei Marienwunder werden seit alten Zeiten in Lügde überliefert: Maria verteidigt die Stadt Lügde im Dreißigjährigen Krieg gegen eine überwältigende Überlegenheit der schwedischen Belagerer, die Lügder Muttergottesstatue übersteht auf wundersame Weise die Flammen eines Heiligenfeuers und auf nicht minder wundersame Weise versinkt sie nicht in den Fluten der »Kleinen Emmer«.

Wir finden die wundersame Statue der Muttergottes heute am rechten Pfeiler gegenüber der Kanzel in der Lügder Marienkirche. Es fällt auf, dass sie ein großes Zepter in der rechten Hand hält, von Aussehen und Größe mit dem von Karl dem Großen. Das »Jesuskind« scheint – bei genauerem Hinsehen – gar nicht von der Mutter gehalten zu werden. Es ist, als ob der Miniaturerwachsene mit ernster Miene vor der linken Seite seiner Mutter schwebt. Der Erwachsene in Kindergröße hat auch keine babytypische Haltung. Seine Beine sind angewinkelt, so als ob er auf einem Thron sitzt. In seiner Hand hält er die Weltkugel, als Zeichen dafür, dass Jesus Christus nach christlichem Glauben Herr der Welt ist. Seine rechte Hand ist zum Segensgruß erhoben.

Das »Jesuskind« von Lügde
Übrigens: So wie in Lügde sorgte im gleichen Jahre – anno 1632 – ein Marienbild in Mengen nach altem Volksglauben, dass schwedische Truppen trotz militärischer Überlegenheit auf den siegreichen Angriff verzichteten und abzogen. Derlei sagenhafte Überlieferungen sind, speziell bei älteren Menschen, auch heute noch fest im Volksglauben verankert. Ich sprach im Laufe der letzten fünfunddreißig Jahre wiederholt mit alten Einwohnern Lügdes, die fest an die Wunder »ihrer« Maria glauben. Für diese Katholiken ist der Glaube an Maria Gewissheit und gibt ihnen Sicherheit und. Sie fühlen sich beschützt, so wie wahrscheinlich schon vor Jahrzehntausenden Menschen, deren Muttergöttinen nur einen anderen Namen trugen. Maria, die Muttergottes, übernimmt mehr und mehr die Rolle der schon vor Jahrtausenden im Zentrum des Glaubens stehende Muttergöttin.

Der vermeintlich aufgeklärte Mensch mag zu Beginn des 21. Jahrhunderts altehrwürdige Überlieferungen wie jene von den Marienwundern von Lügde als »Aberglauben« belächeln und ablehnen. In einer aufgeklärten Zeit sollte aber in religiösen Fragen Toleranz herrschen. Jeder sollte den Glauben seines Nachbarn tolerieren und achten. Und niemand sollte versuchen, seinem Nachbarn den eigenen Glauben aufzudrängen, schon gar nicht mit Gewalt. Wer meint, mit Gewalt seinen Glauben durchsetzen oder auch nur »schützen« zu müssen, der beweist nicht die Richtigkeit seines Glaubens. Vielmehr verdeutlicht so ein Mensch nur, wie schwach in Wirklichkeit sein eigener Glaube ist.

Fußnoten

Blick in die Marienkirche
(1) Willeke, Manfred: »Lügder Sagen-Sammlung/ Sagen und sagenhafte Geschichten aus der Stadt Lügde«, Lügde 1988, S. 103, Orthographie blieb unverändert
(2) ebenda, S. 102, das Zitat wurde wortwörtlich übernommen, blieb – Orthographie – unverändert!
(3) Geboren wurde ich 1954 im oberfränkischen Michelau. Anno 1979 zog es mich nach Lügde ins Exil, der Liebe wegen … zu meiner Frau!
(4) Und zwar in den Jahren 1621 folgende, 1632 folgende und 1638 folgende!
(5) Willeke, Manfred: »Lügder Sagen-Sammlung/ Sagen und sagenhafte Geschichten aus der Stadt Lügde«, Lügde 1988, S. 26, Orthographie blieb unverändert
(6) Horstmann, Heinrich von: »Lügde, Stadt der Osterfeuerräder - Entstehung, Werden und Sein einer alten westfälischen Stadt«,  Bad Pyrmont 1970, S. 17 und 18
(7) Willeke, Manfred: »Lügder Sagen-Sammlung/ Sagen und sagenhafte Geschichten aus der Stadt Lügde«, Lügde 1988, S. 28, Orthographie blieb unverändert

Literaturempfehlungen

(8) Linsbauer, Helga Marie: »Marienlegenden/ Zeugnisse der Marienverehrung aus vielen Jahrhunderten«/ Titel innen: »Marienlegenden/ Erzählungen von den Wundertaten der Gottesmutter aus 13 Jahrhunderten«, Augsburg 1989


Jubiläumsschrift zum 100. Geburtstag von St. Marien
(9) Hierzenberger, Gottfried und Nedomansky, Otto: »Erscheinungen und
Botschaften der Gottesmutter Maria/ Vollständige Dokumentation durch zwei Jahrtausende«, Augsburg 1993

(10) Kurte, Andreas (Hrsg.): » St. Marien Lügde 1895 – 1995«, Lügde 1995

Zu den Fotos:

Jubiläumsschrift zum 100. Geburtstag von St. Marien (links): Archiv Walter-Jörg Langbein.

Alle übrigen Fotos: Walter-Jörg Langbein



280 »Die Lichterscheinungen von Lügde und anderswo«
Teil 280 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                       
erscheint am 31.05.2015







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Sonntag, 17. Mai 2015

278 »Karl der Große, Feuerräder und Gebetsuhren«

Teil 278 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein


Karl der Große, Kilianskirche Lügde
Im achten Jahrhundert entschied sich das Schicksal Europas. Würde das Christentum vom Islam abgelöst werden? Weite Gebiete um das Mittelmeer waren damals Bestandteil eines wachsenden vom Islam bestimmten Imperiums. War das »Imperium Romanum« von christlichen Herrschern »übernommen« worden, so war jetzt die arabische Macht auf militärische Eroberung bedacht. Missionierung erfolgte weniger mit der Kraft des Wortes, sondern mit der Gewalt des Schwertes. Missionierung hatte auch weniger rein religiöse Intentionen, diente vielmehr knallharter Machtpolitik.

Der Islam breitete sich damals mit Vehemenz aus. Wir könnten, müssten heute in einem muslimisch dominierten Europa leben, mit der Scharia als Gerichtsinstanz, wenn die Geschichte damals zufällig (?) anders verlaufen wäre. Doch 732 unterlagen Araber und Mauren dem fränkisch-christlichen Heer Karl Martells. Unter Karl Martells Sohn »Pippin« wuchs wieder der Einfluss des Christentums. Karl der Große setzte – wie seine Gegner aus der islamischen Welt – auf‘s Militär… und das mit Erfolg. Gefahr drohte aus Sicht Karls des Großen auch von den »heidnischen« Wikingern. 800 fand die feierliche Krönung Karls des Großen durch Papst Leo III. zum »Kaiser des römischen Reiches« statt.

Karl der Große war nicht nur ein geschickter Krieger, er soll auch hochgebildet gewesen sein. Angeblich sprach er, der Analphabet, fließend Latein. Karl, der kaum seinen eigenen Namen kritzeln konnte, lud zahlreiche Gelehrte an seinen Hof. Seine Bibliothek wuchs, Karl der Große selbst ließ sich gern aus den Büchern seiner kostbaren Sammlung vorlesen. Großen Wert legte er auf Bildung, die nicht mehr nur einer kleinen Elite vor allem in Rom vermittelt wurde. Der Analphabet förderte die Wissenschaften für das eigene Volk im riesigen Reich der Franken. Mathematik und Astronomie wurden gefördert.

Karl der Große, Dom zu Bremen
Ob er wirklich ein überzeugter Christ war, ist zumindest fraglich. Als Machtmensch setzte der Regent auf das Christentum als die Staatsreligion. In seinem Imperium sollte es nur eine konkurrenzlose Religion geben. Konkurrenz – etwa das Heidentum – wurde bekämpft. Ein Volk mit einer Staatsreligion ließ sich leichter regieren als ein Reich mit konkurrierenden Glaubensrichtungen. 782, davon ging die Wissenschaft lange aus, ließ Karl der Große in Verden an der Aller das ominöse »Blutgericht« anrichten. 4500 Sachsen, die sich weigerten, zum Christentum überzutreten, sollen auf Befehl Karls enthauptet worden sein. Ihr Blut habe die Aller rot gefärbt. Allerdings ist schon seit Jahrzehnten umstritten, ob es die Massenhinrichtung überhaupt gegeben hat.

Karl Bauer, Theologe und Kirchenhistoriker, veröffentlichte schon 1937 in Münster »Die Quellen für das sogenannte Blutbad von Verden«. Nach Bauer wurden die 4500 Sachsen gar nicht enthauptet, sondern umgesiedelt. Ein Abschreibfehler habe aus den »delocati« (»umgesiedelt«) »decollati« (»enthauptet«) gemacht. Die meisten Historiker folgen heute Karl Bauer und sehen Karl den Großen rehabilitiert. Ernst Schubert hält an der alten Lesart fest. In seinem »Lexikon des Mittelalters« (1) beharrt er auf der Richtigkeit der Schreibweise und geht weiter vom blutigen Gemetzel in Verden an der Aller aus. Andere Historiker wiederum wollen die Zahl der Enthaupteten reduziert wissen. Da ist von »wenigen Dutzend« bis zu »vier- oder fünfhundert Opfern« die Rede.

Anno 784, so steht es in den »Fränkischen Reichsannalen«, zelebrierte Karl der Große hier das Weihnachtsfest in der »Villa Liuhidi« unweit der von Heiden gegründeten Wallanlage der Skidrioburg (heute: »Herlingsburg«). Weshalb Karl der Große gerade das unbedeutende Städtchen Lügde für die christliche Feier wählte? Sollte es damals schon einen heidnischen Feuerzauber in Lügde gegeben haben? Heute strömen Jahr für Jahr Zigtausende zur Osterzeit nach Lügde, um am Ostersonntag zu nächtlicher Stunde zu erleben, wie sechs mit Stroh ausgestopfte Eichenholzräder brennend ins Tal rollen.

Feuerräder rollen ins Tal... Ostersonntag in Lügde

Auf der Internetseite der »Stadt der Feuerräder« Lügde lesen wir: »Wie alt dieses Brauchtum ist, lässt sich nicht exakt feststellen. Möglicherweise hat der ›Osterräderlauf‹ seinen Ursprung im heidnisch-germanischen ›Sonnenkult‹. Vor rund 2000 Jahren fühlten sich unsere Vorfahren vom Feuer angezogen. Das Feuer war ihnen geheimnisvoll. Das Feuerrad, als Sinnbild der Sonnenscheibe, weckte Erwartungen auf den kommenden Frühling. Die brennenden Räder symbolisieren das Licht. Das Licht, das über die Dunkelheit des scheidenden Winters triumphiert.

Geschichtlich kann der Räderlauf auch dem sogenannten ›Feuerkult« zugeordnet werden. Bereits Historiker des Altertums berichten über Feuerbräuche. Die Zahl der Feuerrituale war riesig. Alle Feuerrituale aufzuzählen und einzuordnen ist fast unmöglich. Der Lügder Osterräderlauf lässt sich möglicherweise auf das Ritual des Feuerrades zurückführen.«

Hat Karl der Große (links in einer mittelalterlichen Darstellung) versucht, den uralten Brauch des »Feuerräderlaufs« zu verbieten? Unbestreitbar ist die Existenz eines heidnischen »Feuerräderlaufs« schon vor mehr als eineinhalb Jahrtausenden im Raum Agen, Frankreich, wo einst heidnische Gallier einen uralten Brauch zelebrierten. Aus einem hoch gelegenen Tempel, so ist es in einer Lebensbeschreibung des Heiligen Vincent von Agen (4. Jahrhundert) überliefert, soll bei der Zeremonie ein »Flammenrad« aufgetaucht sein, das gen Tal rollte. 

Jenes Rad soll dann auf magische Weise wieder in den Tempel zurückgekehrt und dann erneut brennend ins Tal gesaust sein. Es ist zu vermuten, dass dem staunenden Volk damals nicht ein, sondern mehrere Feuerräder geboten wurden. Gab es damals – oder schon früher – einen ähnlichen Brauch auch in Lügde? Musste Karl der Große erkennen, dass der alte Kult zu stark im Volksglauben verwurzelt war? Ließ sich die Feuerräderfeier nicht verbieten und überlebte sie bis heute in »christlicher« Form?

Wann der »heidnische Brauch« der Osterräder erstmals verboten wurde, lässt sich nicht nachweisen. Erhalten ist ein Verbot aus dem Jahr 1743. Das Dokument befindet sich heute im Archiv des Paderborner Generalvikariats (Band XIVa, Blatt 255).

Wo genau Karl der Große anno 784 Weihnachten feierte, wir wissen es nicht. Die Kilianskirche jedenfalls gab es damals noch nicht in ihrer heutigen Form, wahrscheinlich aber einen höchst bescheidenen »Vorgängerbau« aus Holz. Erst um 1100 gab es einen steinernen Bau, wahrscheinlich als erweiterte Version eines karolingischen Saals. Um 1100 wurde ein steinerner Kirchturm angefügt, der um 1200 aufgestockt wurde. Der Kirchturm überstand die Jahrhunderte bis heute.

Die Kilianskirche zu Lügde

Der massive Steinbau der Kilians-Kirche hatte einen großen Nachteil! Er stand zu weit entfernt vom Stadtzentrum. So konnte die altehrwürdige Kirche auch nicht von der mächtigen Stadtmauer geschützt werden. Die Gottesdienstbesucher fühlten sich in der Kilianskirche auch alles andere als sicher vor militärischen Truppen und anderen Räuberbanden. Es musste eine »richtige« Stadtkirche her, im Zentrum der Stadt! Bis ins 13. Jahrhundert hinein war die Kilianskirche die Stadtkirche. Im 14. Jahrhundert wurde die Marien- oder Stadtkirche gebaut. Eine in den Stein gemeißelte Inschrift an der rechten Seite des Turmeingangs lässt vermuten, dass sie anno 1353 »gefertigt« oder »bereitet« wurde.

Am 13. September 1797 wütete ein großer Stadtbrand in Lügde. Fast die gesamte Stadt wurde ein Opfer der Katastrophe, fast alle Gebäude wurden ein Raub der Flammen oder unbewohnbar. Die Marienkirche wurde stark beschädigt. Der Kirchturm brannte im oberen Teil vollständig ab. Durch die Höllenglut schmolzen die Glocken. 1798 wurde das Gotteshaus notdürftig repariert. 

Anno 1845 bat der Kirchenvorstand , die alte Stadtkirche weitestgehend abreißen und eine neue Stadtkirche errichten lassen zu dürfen. Die Stadt aber war nicht dazu bereit, die Kosten zu tragen. Erst anno 1894 wurde die Marienkirche abgebrochen, bis auf den Turm. 1895 wurde der »Neubau« eingeweiht. Einschließlich der Aufstockung des altehrwürdigen Turms entstanden Kosten in Höhe von 164 288 Reichsmark.

Obere Gebetsuhr am Turm
Ich muss gestehen, dass mich die Marienkirche zu Lügde lange Zeit überhaupt nicht interessiert hat. Bis ich den Hinweis erhielt, zwei alte Sonnenuhren seien am Gotteshaus zu finden. Begonnen hat meine Recherche mit dem Hinweis auf zwei Sonnenuhren an der Marienkirche, eine im Pfarrgarten und eine im Lügder Heimatmuseum. Eine Anfrage beim Pfarramt blieb ohne Ergebnis. Ein sonst kundiger Heimatforscher wusste überhaupt nichts von Sonnenuhren in Lügde. Ein langjähriger Ex-Mitarbeiter der Kirche erklärte mir: 

Untere Gebetsuhr am Turm
»An der Marienkirche gibt es keine Sonnenuhren. Es handelt sich um Gebetsuhren! Eine dritte Gebetsuhr wurde nach dem Abriss der alten Kirche in den Pfarrgarten geschafft. Dort geriet sie in Vergessenheit. Als man das Heimatmuseum einrichtete, erinnerte man sich an die dritte Uhr und holte sie aus dem Pfarrgarten, brachte sie ins Museum.«

Die Gebetsuhren am Kirchturm der Lügder Marienkirche gehören zum erhaltenen Teil des Gotteshauses von 1353. Einen noch älteren Vorgängerbau hat es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht gegeben. Beide Gebetsuhren zeigten einst den Gläubigen an, wann es wieder Zeit zum Beten war. Heute sind sie auch in Lügde kaum noch bekannt und fristen ein eher  trauriges Dasein. Beiden fehlt die Polstange, die einst den Schatten auf das steinerne Zifferblatt warf.

Im Pfarrgarten soll sich tatsächlich eine echte Sonnenuhr befunden haben, die ebenfalls vom alten Kirchengebäude stammte. Ich besuchte sie im kleinen Heimatmuseum. Wenige Schritte davon entfernt hängt eine weitere Sonnenuhr, über deren Herkunft nichts bekannt ist. Vage ist eine Jahreszahl zu erkennen, eingeritzt in den Stein: 1690. (Siehe Foto, gelbes Oval!) Man meint auch römische Ziffern ausmachen zu können. (Siehe Foto, blaue Pfeile!) Klar zu erkennen ist, wo einst der Polstab befestigt war.

Es ist schade, dass die Lügder Gebetsuhren – immerhin 662 Jahre alt – selbst in Lügde so gut wie unbekannt sind. Ein Hinweistäfelchen sollten sie der Stadt schon wert sein… oder der Kirche.

Muttergottesbild von Lügde
Noch älter als die Gebetsuhren ist ein Muttergottesbild. Laut Prof. Alois Fuchs, Paderborn, entstand es im 13. Oder 14. Jahrhundert, ist also 700 bis 800 Jahre alt (2). 

Dargestellt ist die Mutter Gottes als Himmelskönigin. Sie trägt eine goldene Krone auf dem Haupt. Ein großes Zepter – in ihrer rechten Hand –  verdeutlicht ihre Autorität. Auf ihrer linken Seite thront das »Jesus-Kind« in rotem Gewand. Der kleine Jesus hat aber nicht das Aussehen eines Babys, sondern eines Erwachsenen. Jesus hat die rechte Hand segnend erhoben. Seine Mine wirkt alles andere als kindlich.

Dieses Muttergottes-Bild soll einst ein Wunder bewirkt haben... in einem blutigen Krieg.

Fußnoten

(1) Schubert, Ernst: »Lexikon des Mittelalters«,
Artikel »Verden, Blutbad v.«, Band 8, Sp. 1500
und folg., München 1997

(2) Kurte, Andreas (Hrsg.): » St. Marien Lügde
1895 – 1995«, Lügde 1995, S. 30

Fotos:

Karl der Große in mittelalterlicher Darstellung: Archiv Walter-Jörg Langbein.
Alle übrigen Fotos: Walter-Jörg Langbein.

279 »Die Marienwunder von Lügde«
Teil 279 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                       
erscheint am 24.05.2015

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Samstag, 16. Mai 2015

Workshop mit Gärtnermeister Berthold Picker: Es wird durchgeblüht

Auch Dauerregen konnte die Gartenliebhaber nicht abhalten: Berthold Picker lud am heutigen Samstag zum Workshop in den Staudengarten ein. 

Die Teilnehmer erhielten Hintergrundwissen über Bodenvorbereitung, Pflanzenauswahl, Pflanzenabstände und Pflegehinweise für eine durchblühende Beetbepflanzung. Wertvolle Tipps gab Berthold Picker z.B. zur Bepflanzung nahe Hintergrundhecken und unter Bäumen. Die Wurzeln stehen in Konkurrenz zueinander. Da sich die Wurzeln von Bäumen im Herbst früh in den Winterschlaf begeben, Stauden aber zu diesem Zeitpunkt noch schön durchwurzeln gibt es Sinn, eine solche Gartengestaltung im Herbst vorzunehmen. 

Teichfolienstreifen nahe einer Hecke senkrecht in den Boden verbracht, lässt die angrenzenden Stauden auch nicht in Wurzelwettbewerb treten. Auch können z.B. Hortensien in bodenlose Kübel eingegraben werden. So wird ein verwurzeln verhindert. 
Pflanzplan Sonne/Halbschatten

Am Dienstag den 19. Mai ab 14.30 Uhr findet der nächste Workshop statt: »Learning by Gardening«. 
Während des Rundganges durch den Staudengarten, erklärt und erläutert Berthold Picker die Pflanzen, die Pflege und die Gestaltung mit den Stauden. Dazu gibt es eine Kaffeetafel in der Remise mit Fragestunde! Kosten für den Workshop 15,00 Euro; darin enthalten sind Eintritt, Führung, Kaffee und Kuchen sowie Unterlagen.

Am Donnerstag, 21. Mai 2015, dürfen wir uns auf den ersten Sommerabend freuen. Dann ist der Garten von 9.30 - 12.30 Uhr und von 14.00 - 21.00 geöffnet.


Pünktlich zur Blauregenblüte gibt es auch in diesem Jahr eine Lesung:
… der Duft erscheint mir mörderisch …
Begeben Sie sich vom Quellengrund in Weseke bis zum Garten Picker auf eine literarisch – kriminalistische Spurensuche.
Termin: Freitag, 22. Mai 2015
Beginn um 15.00 Uhr am Heimathaus
Gegen 16.30 Uhr wartet eine Kaffeetafel im Garten Picker auf die Teilnehmer.

In dem Kostenbeitrag von 10 Euro pro Person sind Lesung, Garteneintritt und Kaffeetafel enthalten.

Wer sich für den Krimi »Blauregenmord« interessiert, aber an dem Termin zur Lesung nicht teilnehmen kann, dem stehen »Blauregenmord - Impressionen und kostenlose Leseprobe: Vom Garten Picker zum Quellengrundpark in Borken-Weseke« als e-book zur Verfügung. 

Anmeldungen sind noch möglich unter Tel.: 02862/700041 oder per mail: info@garten-picker.de



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Sonntag, 10. Mai 2015

277 »Maria Magdalena, Heilige und falsche Märtyrer«

277 »Maria Magdalena, Heilige und falsche Märtyrer«
Teil 277 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                        
von Walter-Jörg Langbein


Adam und Eva.. oder nicht?
Vézelay ist mir nicht in erster Linie als Sakralbau in Erinnerung geblieben, sondern als eine mächtige, wehrhafte Burg mit dicken steinernen Mauern und einem wuchtigen Turm. Das Gotteshaus ist Maria Magdalena gewidmet. »Magdalena« kann auf das hebräische »migdal«, zu Deutsch »Turm« zurückgeführt werden. So gesehen passt der massive Turm gut zur Namensgeberin der »Magdalenen-Basilika«.

Faszinierend sind die Reliefdarstellungen auf unzähligen Säulenkapitellen. Was mir bei meinen Recherchen auffällt: Die »offizielle« Erklärung so manches Kunstwerks scheint mir nicht so recht zur Realität des Dargestellten zu passen.

Da gibt es, wie beschrieben, eine sehr schöne Darstellung von Adam und Eva. Eva wird von einer Schlange erklommen, Adam hat eine Narbe aufzuweisen, just dort, wo nach Genesis eine Rippe entnommen wurde. Adam und Eva sind nackt, sie hantieren mit großen Blättern. Wollen sie gleich ihre Blöße bedecken, so wie wir das aus Genesis kennen?

Adam? (Foto links), Adams Narbe (Foto rechts)

Die offizielle Erklärung will aber von Adam und Eva nichts wissen. Dargestellt seien, so notierte mein Vater aus einem vergilbten Kirchenführer, nicht die ersten Menschen. Sondern »Wollust und Verzweiflung«. Tatsächlich hat der vermeintliche (?) Adam das Attribut, das in Vézelay böse Dämonen auszeichnet, stehende, wehende Haare wie züngelnde Flammen. Und wenn man genauer hinsieht, dann erkennt man, dass »Adam« wie alle Dämonen von Vézelay, den Mund zu einem Schrei weit aufgerissen hat. Offensichtlich peinigen ihn große Schmerzen… Und er rammt sich ein Schwert in den Leib. Offensichtlich begeht der Dämon in der Darstellung von Vézelay Selbstmord….

»Eustachius jagt den Hirsch« stand in französischer und deutscher Sprache auf einem Täfelchen am Fuße einer der Säulen. Eustachius ist einer der großen Märtyrer und Nothelfer im Volksglauben des Katholizismus. Der Überlieferung nach soll ein gewissen Placidus, römischer Heermeister unter Kaiser Trajan in Kleinasien, ein wundersames Erlebnis gehabt haben. Placidus war auf der Jagd, als ihm ein Hirsch entgegentrat, dessen Geweih ein leuchtendes Kreuz schmückte. Eine Stimme habe die wundersame Erscheinung erklärt. Jesus selbst, so wird überliefert, habe zum Jäger gesprochen und verkündet: »Ich bin Christus, der Himmel und Erde erschaffen. Ich bin der Herr des Lichts und der Finsternis!«

Placidus jagt den Wunderhirsch.

Placidus fiel, so heißt es, vor Schreck vom Pferd. Mehrfach soll sich das Schauspiel wiederholt haben. Auch Placidus‘ Frau soll die Stimme gehört haben. Schließlich ließ Placidus sich und alle Angehörigen taufen. Von nun an nannte er sich Eustachius. Offenbar waren aber die himmlischen Mächte von Eustachius‘ Bekehrung zum Christentum nicht wirklich überzeugt. So wurden seine Knechte und Mägde krank und starben. Sein Vieh wurde von einer schlimmen Säuche dahingerafft. Blutrünstige Räuber überfielen die Besitzung des Eustachius, der völlig mittellos mit Weib und Kindern fliehen musste. Schließlich sollte es Eustachius ans Leben gehen. Mit seiner Familie wurde er hungrigen Löwen zum Fraß vorgeworfen. Die wilden Bestien aber krümmten Eustachius und seinen Lieben kein Haar. Sie zollten ihnen Respekt und verbeugten sich vor ihnen. Daraufhin wurden Eustachius und Anhang in kochendes Wasser geworfen. Sie starben qualvoll, auch wenn sie  ansonsten unversehrt blieben.


Der Hund des Heiligen...
Die Darstellung von Véseley zeigt Eustachius hoch zu Ross, in ein Horn blasend. An einer Leine führt Eustachius einen Jagdhund.

Die katholische Kirche allerdings anerkennt die fromme Legende heute nicht mehr. Vermutlich ist die Geschichte ebenso das Produkt frommer Fabulierer wie die angebliche Himmelserscheinung, die Konstatin der Große zwei Jahrhunderte später gesehen haben soll. Am Himmel soll Konstatin ein leuchtendes Kreuz gesehen haben, kurz vor der Schlacht gegen seinen Rivalen Maxentius im Jahre 312. Eine Inschrift habe verkündet: »Unter diesem Zeichen wirst Du siegen!« Der Historiker Rolf Bergmeier allerdings geht von einer frommen Erfindung aus.  Anno 312 war das Kreuz noch gar nicht das Symbol des jungen christlichen Glaubens.

Die fromme Mär von Eustachius und den Löwen ist wohl von »Daniel in der Löwengrube« inspiriert (1). Im Fall Daniel war es Gott selbst, der einen himmlischen Helfer sandte, so dass Daniel den Aufenthalt bei den wilden Löwen unberührt überstehen konnte. Daniel selbst erklärt (2): »Mein Gott hat seinen Engel gesandt, der den Löwen den Rachen zugehalten hat, sodass sie mir kein Leid antun konnten; denn vor ihm bin ich unschuldig, und auch gegen dich, mein König, habe ich nichts Böses getan.«

Darius der Große
Die Künstler, die so emsig die Säulenkapitelle von Vézelay mit Reliefbildern versahen, stellten auch Daniel in der Löwengrube dar. Daniel, mit »Heiligenschein« versehen, gehüllt in einen majestätischen Mantel, trotzt ohne Angst den Löwen. Daniel gerät, so der biblische Bericht, in Lebensgefahr, weil ihm böse Neider nach dem Leben trachten. Sie wenden sich an König Darius (* 549 v. Chr.; † 486 v. Chr.) und fordern die Bestrafung Daniels. Hat er doch dem Verbot zum Trotz weiter zu seinem Gott Jahwe gebetet und nicht zum Gottkönig Darius. Also wird Daniel in die Löwengrube geworfen, überlebt aber auf wundersame Weise, weil Gott die flehentlichen Gebete des Darius erhört und einen Schutzengel schickt. Daniel wird also nicht zum Märtyrer, weil Gott selbst helfend eingreift. Dieses Glück hatten christliche Märtyrer nicht. Auch sie wurden angeklagt, weil sie den falschen Gott anbeteten. Sie wurden oft auf grauenhafte Weise gefoltert und gepeinigt. Zunächst griffen himmlische Mächte zu ihren Gunsten ein, doch am Ende starben sie dann doch.

Die Säulenkapitelle von Vézelay stellen ein Kompendium in Stein dar. Sie wurden geschaffen für Menschen, die nicht lesen können. Sie illustrieren freilich nicht nur Texte des Alten und des Neuen Testaments, sondern auch Tierfabeln, Legenden von Heiligen und alte Mythen der Römer und der Griechen. Allegorische Darstellungen – etwa von Jahreszeiten – gehören auch zum vielseitigen Repertoire der Künstler, die die »steinerne Bibliothek« von Vézelay schufen.

Entstanden sind die Kunstwerke bereits im frühen zwölften Jahrhundert, etwa von 1125 bis 1140. Fast alle sind im Original bestens erhalten und mussten nicht restauriert werden.

»Nur ganz wenige der Darstellungen an den Kapitellen sind keine Originale!«, beklagte fast ein wenig ärgerlich unser mönchischer Führer. »Im 19. Jahrhundert wurden einige wenige Originale entfernt und durch sehr exakte Kopien ersetzt.«

»Manche Darstellungen muten aber doch etwas heidnisch an…«, meinte mein Vater zögernd. »Auch die ›heidnischen‹ Motive erzählen christliche Geschichten!«, protestierte unser Führer. »Was für die einen der Kampf des Odysseus gegen Skylla ist, ist für den anderen der Heilige Michael als Sieger über den Drachen!«

Fakt ist, dass wir heute – rund 900 Jahre später – die Bildnisse an den Kapitellen nicht mehr alle wie ein Buch lesen können. Manche »Comicstrips« sind uns vertraut: Da tötet David Goliath mit einem Stein aus seiner Schleuder, dort klettert der siegreiche David auf Schilfrohr und enthauptet den Giganten. Und dort trägt er als Trophäe  des Riesen Kopf ins Lager der Hebräer. Wir erkennen Moses, der beobachtet, dass ein Ägypter einen seiner Landsleute misshandelt hat. Moses erschlägt den Römer und deckt seine Leiche mit Laub zu. Wer aber soll der Mann sein, der in Gesellschaft von zwei Bären gezeigt wird?

An anderer Stelle wurde jemand – präzise in Stein graviert – aufgehängt. Wir vermuten, dass das Judas, der »Verräter« sein soll. Auf dem nächsten steinernen Bild wird der Tote geschultert und weggetragen. Von wem? Sollte gezeigt werden, dass Jesus auch seinen Verräter – Judas – errettet? So manches der stummen Bildnisse ist offen für Spekulation.

Benedikt bei der Totenauferweckung
Wundersames und Skandalöses erzählen die stummen steinernen Zeugen von Vézelay. Da führt der Heilige Benedikt eine Totenauferweckung durch… von einem Baby oder Kleinkind. Eugenia von Rom (etwa 180 – 260 n.Chr.) trat – so lautet die Überlieferung – als Frau in ein Männerkloster ein: als Mann verkleidet. 

Sie genoss schon bald so hohes Ansehen in ihrer Gemeinschaft, dass sie – der vermeintliche Mann – zum Abt gewählt wurde. Von einer bösartigen Frau wurde sie – als Mann – der Vergewaltigung beschuldigt. Da offenbarte Eugenia ihr Geheimnis. Nur dadurch dass sie sich als Frau offenbart kann sie die Anschuldigung der Vergewaltigung ad absurdum führen.

Die fromme Eugenia endete als Märtyrerin. Sie wurde wegen ihres christlichen Glaubens eingesperrt, zum Tode verurteilt und durch Enthauptung hingerichtet. Märtyrer - Menschen, die wegen ihres Glaubens leiden, gepeinigt, getötet werden – gab es freilich nicht nur in der frühen Geschichte des Christentums. Im 16. Und 17. Jahrhundert bezahlten unzählige Anhänger der christlichen Wiedertäufer ihr offenes Bekenntnis ihres Glaubens mit dem Leben. Bis heute ist dieses dunkle Kapitel der Geschichte des Christentums nicht vollständig erforscht. Die Zahl der Opfer wird bis heute eher zu niedrig geschätzt. Täter waren Katholiken wie Lutheraner.

Daniel zwischen Löwen
Daniel blieb das Los eines Märtyrers erspart. Dank eines Engels überlebte er den Aufenthalt in der Löwengrube. Zu Beginn des dritten Jahrtausends nach Christus gibt es mehr Märtyrer denn je. Das Missionswerk »Open Doors« schätzt, dass weltweit erschreckende 100 Millionen Menschen in über fünfzig Ländern wegen ihres christlichen Glaubens verfolgt werden. Märtyrer unserer Tage sind koptische Christen. Märtyrer leiden wegen ihres Glaubens. Sie fügen Andersgläubigen kein Leid zu. Märtyrer sind immer Opfer, Täter können niemals Märtyrer sein.

Vermutlich befürchteten einst schon die Künstler von Vézelay Missverständnisse und Rätselraten. Sie sollen – einige oder viele – ihrer steinernen Szenarien mit Titeln versehen haben. Diese Inschriften aber sind – wann auch immer – verschwunden. Sollte es gar mit der offiziellen Lehrmeinung der katholischen Kirche unvereinbare Erklärungen gegeben haben?

Die Baumeister von Vézelay müssen wahre Meister ihres Fachs gewesen sein. Sie haben als Bauingenieure viele Details mit Pedanterie und ohne Computer berechnet. Wichtig ist auch das Licht. Je nach Sonnenstand und Uhrzeit  treffen die durch Fenster fallenden Sonnenstrahlen ganz bestimmte Stellen im Gotteshaus. Erstrahlten besonders wichtige Darstellungen zu ganz bestimmten kirchlichen Feiertagen im punktuellen Licht der Sonne? Werden wir je die Geheimnisse von Vézelay wie ein Buch lesen können, neun Jahrhunderte später?

Fußnoten

(1) Buch Daniel Kapitel 6, Verse 1-28
(2) ebenda, Vers 23

Zu den Fotos:

Adam und Eva.. oder nicht?: Foto wiki commons/ Vassil
Adams Narbe?: Foto wiki commons/ Vassil
Adam?: Foto wiki commons/ Vassil
Placidus jagt den Wunderhirsch: Foto wiki commons/ Vassil
Der Hund des Heiligen: Foto wiki commons/ Vassil
Darius der Große/ Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Benedikt bei der Totenauferweckung: Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Daniel zwischen Löwen: Foto wiki commons/ Vassil

278 »Karl der Große, Feuerräder und Gebetsuhren«
Teil 278 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                        
von Walter-Jörg Langbein,                      
erscheint am 17.05.2015

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