„Monstermauern, Mumien und Mysterien“
von Walter-Jörg Langbein
Bei meinem ersten Besuch des Hamelner „Münster St. Bonifatius“ versuchte ich, das altehrwürdige Gotteshaus zu umrunden. Das gelang mir auch weitestgehend, heckenartiger Baumbewuchs an einer Stelle zum Trotz. Hoch, ja ehrfurchtgebietend ragt das Mauerwerk in den Himmel. Massiv ist die Bauweise, so dass das Münster wacker den Jahrhunderten trotzen konnte. Es wirkt im Vergleich zu modernen Bauten zeitlos.
Fotos 1 und 2: Die „Matrone“ am Hamelner Münster. leicht zu übersehen |
Ich machte zahlreiche Aufnahmen, auch von der Rückseite der alten Kirche. Das Kriegerdenkmal zur Erinnerung an die Toten von beiden Weltkriegen fiel mir natürlich auf, groß genug ist es ja. Schön ist es nicht unbedingt, aber das ist eine Frage des persönlichen Geschmacks. Und über Geschmack, so sagt das alte lateinische Sprichwort, soll man nicht streiten. Im Lateinischen heißt es: „Dē gustibus nōn est disputandum.“ Übersetzt ins Deutsche: „Über Geschmäcker soll man nicht disputieren.“ (1) Mit anderen Worten: Es gibt nicht den „richtigen“ oder den „falschen“ Geschmack. Ich persönlich empfinde das „Kriegerdenkmal“ am Hamelner Münster als unpassend zum altehrwürdigen sakralen Gebäude.
Übersehen habe ich allerdings eine mysteriöse Steinskulptur an der Außenwand des Münsters zu Hameln, die allerdings durch die beiden „Zähne“ des Denkmals abgedeckt wird, so man direkt davor steht. Ich gebe es zu: Hastigen Schritts eilte ich weiter, ich wollte doch genügend Zeit für die Säulenkapitelle mit geheimnisvollen Darstellungen im Inneren haben.
Foto 3: Im gelben Kreis... die „Matrone“ |
Betrachtet man die stark verwitterte Figur an der Außenwand näher, etwa mit Hilfe eines starken Teleobjektivs, so fällt der unverhältnismäßig große Kopf der Gestalt auf. Ich machte eine Reihe von Aufnahmen, zuletzt mit meiner Nikon D800E unter Verwendung eines 300-Millimeter-Teleobjektivs. Je nachdem aus welchem Blickwinkel man die seltsame Statuette betrachtet, werden die Beschädigungen mehr oder weniger erkennbar.
Wie zwei riesige Zähne oder Rippen ragt das Kriegerdenkmal empor und verdeckt, wenn man direkt davor steht, die mysteriöse Statuette an der Außenwand.
Mehrere Jahre habe ich recherchiert. Ich habe Fachliteratur studiert. Nirgendwo findet sich ein Hinweis auf die seltsame Figur, von einer Erklärung ganz zu schweigen. Schon 2014 wandte ich mich an Pastorin Friederike Grote, die meine Anfrage an Herrn B.G. weiterleitete, der in Fragen zum Hamelner Münster sehr bewandert ist. Herrn Gs Antwort fiel für mich, offen gesagt, ernüchternd aus (2): „Ich denke, dass der sehr starke Verwitterungsgrad der Figur eine sichere Deutung nicht mehr zulässt. Joachim Schween (3), den ich auch zu Rate gezogen habe, ist derselben Meinung. Er hält eine Mariendarstellung für möglich. Maria Magdalena, die reuige Sünderin, ist nicht auszuschließen. Zu ihr passen die offen getragenen Haare. In der mir bekannten Literatur zum Münster gibt es keine Hinweise auf die Figur.“
Foto 4: Maria Magdalena von Lübeck |
Tatsächlich gibt es im Dom zu Lübeck eine Maria Magdalena, die eine mit kostbaren Steinen besetzte „Haube“ trägt. Die Lübecker Maria Magdalena hat schulterlanges Haar, das „lockig“ fällt. Die Hamelner Statuette könnte auch ihr langes Haar offen tragen. Sollte sich also an der Rückseite des Hamelner Münsters eine alte Statue der Maria Magdalena befinden?
Der älteste Teil des Münsters, die Krypta, ist wohl bereits kurz nach 800 entstanden. Wechselhaft verlief die Geschichte des Gotteshauses. 1259 brach ein Brand aus, bauliche Erneuerungen wurden erforderlich. Aus welcher Zeit mag nun die Statuette stammen, über die offiziell nichts bekannt ist? Sie weist ganz erhebliche Verwitterungsspuren auf und sieht sehr viel älter als das Mauerwerk aus, in das sie respektvoll eingesetzt wurde.
Woher stammt die Figur? Befand sie sich bis zum Brand Mitte des 13. Jahrhunderts im Inneren des Münsters und wurde sie nach den Renovierungsmaßnahmen außen am Gotteshaus angebracht? Wollte man Maria Magdalena aus der Kirche verbannen? Ließ man sie aus Respekt vor der Frau, die nach apokryphen Schriften der Gnostiker die Lieblingsjüngerin Jesu war, nicht einfach verschwinden? Sollte die steinerne Figur gar aus der ersten Bauphase des Münsters stammen? Oder ist sie noch älter? Dann könnte sie über ein Jahrtausend alt sein. Derlei Gedanken sind freilich rein spekulativ.
Ich wiederhole meine Überlegung: Ist die Statuette womöglich älter als das Münster? Stammt sie gar aus einem heidnischen Tempel der drei Matronen?
Sophie Lange ist die Autorin des Standardwerks „Wo Göttinnen das Land beschützten“ (4). Zum Jahrtausendwechsel gab es im Propsteimuseum der alten „Römerstadt“ Zülpich eine bemerkenswerte Ausstellung statt. Im Ausstellungskatalog schreibt die profunde Kennerin des Matronenkults (5):
Fotos 5 und 6: Die Statuette am Hamelner Münster |
„Die Mutter Natur war den Urmenschen heilig. Sie war die Lebensspenderin, die Nahrungsgebende und die Schützerin. Aber auch Himmel und Unterwelt gehörten zu ihrem Reich. Neben der Großen Göttin und anderen bedeutenden Gottheiten wurden lokale Göttinnen und Götter verehrt, die für ein bestimmtes Landschaftsgebiet mit seinen Siedlungen zuständig waren. Mensch und Tier, Feld und Flur, Haus und Gut standen unter ihrem besonderen Schutz. Zu diesen lokalen Genien gehören die Matronen. In dem Gebiet zwischen Eifel und Rhein verdrängten sie fast alle anderen Götter. Sie waren die Mächtigsten, die das Land beschützten.“
Die Matronen waren Schutzgöttinnen, die vom ausgehenden ersten bis ins dritte Jahrhundert hinein in der römischen Provinz „Niedergermanien“ verehrt wurden, also in westlich des Rheins gelegenen Teilen der heutigen Niederlande und Deutschlands sowie in Teilen von Belgien.
Foto 7: Sophie Langes Standardwerk |
Im frühen Christentum wurden die alten Kultplätze weiter von den Menschen besucht. So gab Papst Gregor der Große um 600 die Anweisung, die Heidentempel nicht zu zerstören sondern in christliche Kirchen umzuwandeln. So stehen manche Kirchen an den Kraftplätzen der Götter und Göttinnen. Auf dem Land haben Dorfkirchen, Kapellen, Bildstöcke und Wegekreuze die ehemaligen heidnischen Heiligtümer ersetzt, In der Geisterwelt leben die Matronen als drei unnahbare Juffern weiter. Als geheimnisvolle Lichtgestalten spuken sie an den alten Matronenplätzen, an Quellen und Flüssen.“
Foto 8: Sophie Langes Standardwerk. Rückseite. |
1) Wörtliche Übersetzung: „Über Geschmäcker ist ein Nichzudisputierendes.“ Das kann man übersetzen mit „Über Geschmäcker kann/ soll man nicht disputieren/ streiten.“
2) Per Mail an Pastorin Grote Freitag, 19. September 2014 22:17.
3) Joachim Schween ist ein örtlicher Archäologe.
4) Lange, Sophie: „Wo Göttinnen das Land beschützten/ Matronen und ihre Kultplätze zwischen Eifel und Rhein“, 1. Auflage Sonsbeck 1994
5) „Matronis - Visionen zu einem regionalen Göttinnenkult“, 2001
Zu den Fotos
Fotos 1 und 2: Die „Matrone“ am Hamelner Münster ist leicht zu übersehen. Fotos Walter-Jörg Langbein
Foto 3: Die „Matrone“ am Hamelner Münster ist wirklich sehr leicht zu übersehen. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 4: Maria Magdalena von Lübeck. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Fotos 5 und 6: Die Statuette am Hamelner Münster. Fotos Walter-Jörg Langbein
Foto 7: Sophie Langes Standardwerk. Vorderseite.
Foto 8: Sophie Langes Standardwerk. Rückseite.
436 „Zwei Krypten und das Monster am Fluss“
Teil 436 der Serie
„Monstermauern, Mumien und Mysterien“
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 27.05.2018
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