»Lieber Rausch«, BILD, 25.02.2010
Lieber Franz Josef Wagner,
soeben fand ich im Archiv Ihrer Kolumnen ein poetisches Loblied an den Rausch. Keine Ahnung, warum mir diese Perle der Wortkunst bislang entgangen war. »Ich kenne mich aus mit Räuschen«, lassen Sie den Leser wissen, »der Briefschreiber Wagner wird im Rausch ein Dichter.« Und: »Der Rausch ist die Sehnsucht nach der Sehnsucht nach der Sehnsucht.«
Und wissen Sie was? - Sie haben recht! Auch ich finde es sehr wichtig, an prominenter Stelle in der meist gelesenen Zeitung Deutschlands für einen möglichst hohen Alkoholkonsum zu werben, indem man dessen Vorzüge ins rechte Licht rückt. Wer möchte schließlich nicht gerne ein anderer Mensch werden? Unsere Kinder jedenfalls scheinen die Vorteile des Suffs bereits gerafft zu haben: »Jeder zweite 15-jährige betrinkt sich regelmäßig«, lautet eine der neuesten einschlägigen Nachrichten.
Nun könnte man natürlich auch darangehen, sich öffentlich Gedanken zu machen über all die Strukturen, die unsere Welt für viele so unerträglich machen, dass sie sie nur noch im Vollrausch ertragen. Über all die Lügen und schlecht gezimmerten Psychokrücken, mit denen wir täglich überzogen werden. Denen wir nur schwer entgehen können. Und die so verzweifelt leicht zu durchschauen sind, dass man sie sich nur noch schön trinken kann, wenn man keine echten Strategien gegen sie findet.
Für Kinder und Jugendliche ist unsere Welt besonders tragisch: Vom Kindergarten an werden sie eingeschworen auf »Soziale Kompetenz« und Konfliktvermeidung um jeden Preis (»Hier sind wir alle Freunde! Deshalb darfst Du nicht zurückhauen. Niklas wird sich bei Dir entschuldigen, dass er Dir vors Schienbein getreten hat. - Nicht wahr, Niklas? Es tut Dir doch ehrlich leid, oder?«)
Kommen sie dann in die Schule, werden die stramm auf wehrlos Getrimmten schnell mit der Realität konfrontiert. Alle bunt gemusterten, pädagogisch wertvollen Schulbücher können sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass die dahinter stehende Logik knallhart ist: Funktioniere, oder Du bist draußen. Landest an der »Restschule« und gehörst für die Dauer Deines weiteren Lebens zu den Losern. Lust auf den eigentlichen Lerninhalt kommt da nicht so leicht auf. Eher schon das Dauergefühl der Unzulänglichkeit und Hoffnungslosigkeit, ein Zustand, für den es eine Lösung gibt: Den Alkohol.
Alles, was einer im Rausch »sein« kann, könnte er ohne den Suff auch in der Realität erreichen. Wenn er bloß wüsste, wie. Zeit, viel darüber nachzudenken, hat er nicht mehr. Wenn der Alkohol ihn erst im Griff hat, bleiben nur wenige unverkaterte, klare Stunden übrig. Was für ein Glück also, dass Leute wie Franz Josef Wagner daherkommen und uns bescheinigen, dass wir wenigstens diesmal auf dem richtigen Weg sind. »Im künstlichen Paradies. Sternhagelvoll. Besoffen, aber glücklich.« Durch diese Absolution lässt sich das Leben nun besser ertragen. Also dann: Prost!
Herzlichst,
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