Sonntag, 3. Oktober 2010

37 »Mit der Bahn in die Vergangenheit«

Teil 37 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein


Ein kleiner Teil der Monstermauer
von Cusco/ Sacsayhuaman
In unserer schnelllebigen Zeit werden auch die großen Rätsel der Vergangenheit gern im Sauseschritt absolviert. Nach einer Bustour durch Cuzco wird ein Abstecher zur Monstermauer von Sacsayhuaman gewagt. Oft spulen gelangweilte Guides ihr einstudiertes Informationsprogramm ab. Rasch werden einige Fotos gemacht.. und schon geht es weiter.

Gewaltige Schätze fielen im 16. Jahrhundert den raubenden und plündernden Spaniern in die Hände. Unvorstellbare Mengen an Gold wurden als Lösegeld für den letzten Inka Túpac Amarú gefordert. Aus dem gesamten Inkareich setzten sich schwer beladene Karawanen in Bewegung. Gewaltige Reichtümer wurden nach Cuzco geschafft. Allen Versprechungen zum Trotz wurde aber der Inka-Herrscher dann doch nach einem absurden Schauprozess zum Tode verurteilt und ermordet.

Die Spanier, Vertreter des »zivilisierten Abendlandes«, hatten keinen Sinn für die Goldschmiedearbeiten der Inka. Sie schmolzen herrlichste Kunstwerke ein, gossen sie in Barren. Nicht unerhebliche Schätze konnten aber vor den spanischen Barbaren gerettet werden. Sie wurden, so lautet die Überlieferung, in entfernte und kaum zugängliche Bergregionen geschafft. In den legendären Orten Huilcabamba und Vilacabamba sollen sie versteckt worden sein. Vergeblich suchten die Spanier danach. Sie folterten zahllose Inka grausam zu Tode, erfuhren aber nicht, wo sich die geheimen Schatzverstecke befanden. Auch Hiram Bingham suchte vergeblich. Auch wenn er den bis heute vermissten Inkaschatz nicht fand, soll er dennoch Kostbarkeiten von erheblichem Wert außer Landes geschafft haben.

Unterwegs nach Machu Picchu
Von Cusco aus geht es im Morgengrauen mit der Eisenbahn nach Machu Picchu. Wenn man Glück hat, kann man die ganze Strecke im Zug zurücklegen. Manchmal muss man die erste Etappe mit dem Bus fahren.

Zunächst passiert man die Elendsviertel von Cusco. Zum Skelett abgemagerte Hunde wanken durch die Slums. Erwachsene, Kinder und Jugendliche schuften. Selbst Kleinkinder schleppen schwere Lasten. Thilo Sarrazin hat Recht: Im Vergleich zu den Armen von Cusco sind die »Armen« in Deutschland steinreich. Doch während manche »Arme« in Deutschland ihr unerträgliches Los bejammern.... scheinen die materiell wirklich Armen von Cusco stolz auf ihrer Hände harte Arbeit zu sein.

Der Zug quält sich durch grandiose Landschaft in die Höhe. Was für ein krasser Gegensatz bietet sich dem Reisenden: zwischen dem schlammigen Grau von Cusco und dem üppigen Grün der subtropischen Gefilde. Wir nähern uns den Ausläufern des Amazonasgebietes.

Unterwegs legt der Zug eine kurze Pause ein. Die kleine »Station« markiert den höchsten Punkt der Zugstrecke: 4319 Meter über dem Meer! Weiter geht’s: über den Urubamba. Wir erreichen Ollantaytambo. Hier enden alle Straßen. Von hier an ist der Zug das einzige Verkehrsmittel. Nach etwa vierstündiger Fahrt kommen wir in »Aqua Calientes« an. Der Name des Dorfes weist auf die heißen Quellen hin.

4319 Meter über dem Meer
In Aqua Calientes kann man höchst preiswerte kleine Hotels finden. Von hier aus sind es nur noch etwa acht Kilometer bis zu den Ruinen von Machu Picchu. Busse schaffen Touristengruppen über eine geradezu lebensgefährlich anmutende Serpentinenstraße zur verlorenen Stadt und wenige Stunden später wieder zurück. Touristenströme drängen sich durch den schmalen Eingang am Kartenhäuschen vorbei und ergießen sich über das Areal von Machu Picchu. Jeder der bis zu 1500 Besucher ärgert sich über die anderen 1499 Touristen, die jedes Foto durch ihre bloße Anwesenheit verderben.

Wer den Zauber von Machu Picchu erleben möchte, hat nur eine Chance: Man nimmt sich ein Zimmer im »Hotel Machu Picchu Ruinas«, das direkt am Eingang der mysteriösen Stadt liegt. Dann kann man schon vor 10 Uhr morgens die rätselhafte Anlage gehen, bevor der erste Bus ankommt. Nach 15 Uhr, wenn der letzte Bus ins Tal gefahren ist, dann wird es wieder still und man ist nahezu alleine.

Im Herbst 1992 war ich mit drei Freunden vor Ort. Insider warnten: Im Sommer waren die Rebellenführer der »Tupac Amaru« und des »Leuchtenden Pfades« Victor Polay Campos und Abimael Guzman verhaftet worden. Am 10. August 1995 wurden sie vor einem Militärgericht zu lebenslanger Haft verurteilt. Drohten nun Anschläge auf beliebte Ziele wie Machu Picchu? Damit müsse gerechnet werden, hieß es. Derartige Meldungen schreckten offenbar viele potentielle Reisende ab. So waren meine drei Freunde und ich die einzigen Gäste im »Hotel Machu Picchu Ruinas«. Gegen Abend fuhren die Angestellten des Hotels ins Tal. Angeblich blieb ein Nachtwächter bei uns. Ich muss zugeben: Etwas mulmig war mir damals schon!
Plötzlich wie ausgestorben...

Immer wieder hat es mich in den vergangenen Jahrzehnten nach Machu Picchu gezogen. Ich erinnere mich noch sehr gut: Vor meinem ersten Besuch habe ich dickleibige Bücher über die verlorene Stadt gelesen und detailreiche Pläne der Anlage studiert. Vor Ort aber verstand ich, dass die meisten der vermeintlich wissenschaftlichen Erkenntnisse reine Fantasiegebilde sind. »Palast der Prinzessin« heißt ein großes Haus, »königlicher Palast« ein anderes. Bezeichnungen wie »Heiliger Platz«, »Sonnenfeld« und »Heiliger Felsen«, »Viertel der Handwerker« und »Palast der Sonnenjungfrauen« täuschen aber nur Wissen vor. In Wirklichkeit liegt über Machu Picchu der Schleier des Rätselhaften. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass wir so gut wie nichts über Machu Picchu wissen.

Die präzise formulierten Bezeichnungen werden von eifrigen Guides mit inbrünstiger Überzeugung vorgetragen. In Wirklichkeit weiß aber niemand, ob zum Beispiel im »Gefängnisviertel« jemals ein einziger Häftling eine Strafe abbüßen musste. Niemand vermag zu sagen, ob es je so etwas wie eine Haftanstalt in Machu Picchu gab.

Imposant ist auch der »Tempel der drei Fenster«. Drei aus gewaltigen Steinquadern kunstvoll gestalteten Fenster sind bis in unsere Tage erhalten geblieben. Bei Sonnenaufgang soll einst das Innere des »Tempels« in geheimnisvolles Licht getaucht worden sein. Heute ist fast nur noch eine massive Steinfassade erhalten. Ob allerdings die drei Fenster je zu einem »Tempel« gehörten, das weiß niemand. Leider gibt es keine schriftlichen Aufzeichnungen der Erbauer und der Bewohner der Stadt.

Tempel der drei Fenster...
wenn es denn ein Tempel war!
Nichtwissen mag Vertretern der Schulwissenschaften ein Gräuel sein. Dennoch: Vergessen wir die zahlreichen Fantasienamen. Begnügen wir uns mit der Gewissheit, dass wir so gut wie nichts wissen. Eingeweiht in die Mysterien von Machu Picchu wareinst die Amauta, ein Gremium aus adeligen Philosophen und Wissenschaftlern der Inka-Zeit. Noch im 16. Jahrhundert lebte deren uraltes Wissen: als eine alte Form der Esoterik. Den Spaniern wurde dieser Schatz niemals offenbart.

Der spanische Soldat Miguel Rufino, so überliefert es die Chronik von Don Antonio Altamirano (verstorben im Jahr 1556), befreite die Inkaprinzessin Accla Gualca aus den Klauen seiner christlichen Landsleute. Er befürchtete, und das ohne Zweifel zurecht, dass man sie foltern würde, um ihr die Geheimnisse ihres Volkes zu entlocken. Dabei ging es nicht um esoterisches Wissen, sondern ganz konkret um Schatzverstecke. Die Spanier waren in ihren Methoden alles andere als zimperkich.

Miguel Rufino und Accka Gualca entkamen den spanischen Häschern. Sie schlugen sich auf strapaziösesten Wegen bis nach Machu Picchu durch. Vor der Amauta von Machu Picchu mussten beide schwören, das Geheimnis der heiligen Stadt zu wahren. Miguel Rufino hat die wirkliche Bedeutung von Machu Picchu gekannt. Er war der einzige Spanier, der die Stadt in den Anden besuchen durfte, als dort noch stolze Inka residierten.

Blick auf einen Teil der Geisterstadt
Miguel Rufino hielt seinen Schwur. Angewidert von der Grausamkeit seiner goldgierigen Landsleute kämpfte er für die Inkas. Er wurde waffentechnischer Berater des Inka Manco. Beim Versuch, die Spanier wieder aus der Stadt Cusco zu vertreiben, fiel Miguel Rufino im Gefecht.

Martin Fieber schreibt in seinem bemerkenswerten Buch »Machu Picchu« (1): »Das wahre Machu Picchu sind aber nicht die 200 Gebäude, die vielen Tausend Treppenstufen oder die heiligen Megalithe... Das wahre Machu Picchu, die Seele der Stadt in den Wolken, ist für unsere Augen unsichtbar. Aber nicht für unser Herz.«

Machu Picchu ist eine geheimnisvolle Stadt. Und sie ist ein Symbol: Fern der plündernden Spanier überlebte hoch in den Anden eine friedliche kleine Gemeinde von Inkas. Sie hatten sich in eine »unwirtliche« Region zurückgezogen. Sie trieben keinen Raubbau gegen die Natur, sondern mit ihr. In Machu Picchu wurden überwiegend Mumien von Frauen gefunden. Sollte dies auf eine matriarchalische Religion hinweisen? Angeblich wurde Pachamama - »Mutter Erde« - in Machu Picchu verehrt. Uralte matriarchalische Glaubenssystem verehrten Muttergottheiten häufig in unterirdischen Höhlen.....

In der Nähe des »Heiligen Felsens« haben argentinische Studenten ein unterirdisches Labyrinth entdeckt. Es wurde von Archäologen erkundet und zugemauert. (2) Bei einem meiner Besuche in Machu Picchu kletterte ich unter einer Absperrung hindurch und quetschte mich in einen Felsspalt. Er verlief schräg nach unten, wurde offenbar breiter. Bevor ich aber weiter erkunden wurde, beorderten mich zwei recht unwirsch aussehende Aufpasser zurück....

Trotz intensiver Recherchen über Jahre, auch in Cuzco und Lima, konnte ich keine wissenschaftliche Publikation über die unterirdischen Gänge von Machu Picchu ausfindig machen. Wartet das eigentliche Geheimnis von Machu Picchu... in der Unterwelt?


Walter-Jörg Langbein in Machu Picchu
Foto: Willi Dünnenberger
Fußnoten

(1) Fieber, Martin: »Machu Picchu/ Die Stadt des Friedens«, Bad Salzuflen 2003, Klappentext

(2) Schmidt, Kai Ferreira: »Peru Bolivien«, Markgröningen, 2. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 6/ 2000, S. 271


»Das Geheimnis der Glimmerkammer«,
Teil 38 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 10.10.2010

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