Wie bereits im Oktober des letzten Jahres zur Frankfurter Buchmesse möchte ich heute auf „Ein Buch lesen“ meine Eindrücke von der Leipziger Buchmesse 2011 kurz schildern. Seit einigen Tagen fällt mir das Schreiben etwas schwer, weil meine Gedanken immerfort abschweifen und bei den Menschen in Japan sind, auch jetzt, während ich schreibe, bete ich ständig: lieber Gott erspare ihnen das Schlimmste.
Mit dem ICE fuhr ich frühmorgens von Frankfurt nach Leipzig. Die Menschen, alle noch nicht wirklich wach, hatten nur Japan als Thema. Der Mann, der mir gegenüber saß, las eine Zeitung, in der auf der Titelseite in großen Lettern „Die Hölle“ zu lesen war. Schräg gegenüber von mir saß eine Kolumbianerin, mit der ich ein Gespräch über lateinamerikanische Schriftsteller begann. Wir legten den Schwerpunkt auf chilenische und argentinische Autoren. Die Zeit im Zug verging sehr rasch, später las ich einen Briefwechsel von Hannah Arendt und Joachim Fest. Das Buch trägt den Titel „Eichmann war von empörender Dummheit". Dieser Naziverbrecher hatte sich, wie man der Einleitung entnehmen kann, gegen die Wirklichkeit abgedichtet, in dem er für jede Erfahrung ein Klischee bzw. eine Sprachschablone bereithielt. Er sagte, Amtssprache sei seine Sprache. Dieser Mann dachte nicht, war nicht bereit, sich die Konsequenzen seines Tuns vorzustellen. Arendt erkennt, dass die schiere „Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in einem mehr Unheil anrichten können, als alle die dem Menschen vielleicht innewohnenden bösen Triebe“. Dieser Satz haftet, noch immer nicht verhallt, in meinem Kopf, weil er auch auf all die Naturwissenschaftler, Techniker, Betriebswirte und Politiker passt, die willfährig mit der Atomenergie umgehen, auch sie sind von empörender Dummheit.
In Leipzig angekommen, hielt ich mich zunächst eine Weile im Bahnhof auf, trank dort einen Kaffee und versuchte mir einen Überblick über das mich beeindruckende Konzept, mit all den schönen einladenden Geschäften und Restaurants, zu verschaffen. Überall blühten unzählige Orchideen in Kübeln. Der Bahnhof sah wie ein edles Kaufhaus aus, ein Ort gepflegter Begegnungen. Welch einen Visitenkarte für eine Stadt! Wirklich sehenswert. Der Kaffee schmeckte außerordentlich gut.
Überall vernahm ich den liebevollen sächsischen Dialekt, den ich sehr mag, weil er erkennen lässt, dass der Mentalität der Menschen hier etwas Mildes, Tolerantes innewohnt.
Eine halbe Stunde benötigte die Straßenbahn bis zur Messe, dort angekommen verschaffte ich mir zunächst mittels einer Karte einen Überblick, in welchen Hallen sich einzelne Verlage befanden. Die Verlage, die mich interessierten, steuerte ich allerdings nicht gezielt an, sondern ließ alles zunächst auf mich wirken, die schöne gläserne Halle, deren Architektur mich beeindruckte, der Treppenaufgang dort, die Stände einzelner Kultursender, wie "Arte" und "3 Sat", an denen Autoren interviewt wurden. Ich las, dass Niedecken eine ¾ Stunde nach meiner Ankunft bei "3 Sat" mit Scobel im Gespräch sein würde und entschied, im "3 Sat"- Zelt Platz zu nehmen und auf das Ereignis zu warten. In der ersten Reihe nahm ich Platz, weil ich Bilder machen wollte, aber hauptsächlich, um mir Niedecken ganz aus der Nähe ansehen zu können.
Neben mir saß eine ältere Dame, die aus Leipzig kam. Mit ihr unterhielt ich mich während der 3/4 Stunde Wartedauer sehr angeregt. Die nette Leipzigerin kam eigentlich aus Schlesien, verbrachte ihre Kindheit in Görlitz, einem Ort, den sie mir zu besuchen empfahl. Sie studierte in den 1960ern in Leipzig Anglistik und Germanistik. Die Lieder Niedeckens hatte sie erst nach der Wende kennengelernt, mochte dessen Texte aber ähnlich wie ich diese schätze, sofort. Sie berichtete mir von der liebevollen Art der Ur-Leipziger, die sie dazu bewogen hat, seit ihrem Studium die Stadt nicht zu verlassen, außer um zu reisen. Diese Frau war viel gereist nach der Wende, um nachzuholen, was ihr in der Jugend vorenthalten worden ist. Was verbindet die Leipziger mit den Kölnern fragte ich mich? Es ist wohl ein ähnlich toleranter, warmherziger Wesenszug, der in der jeweiligen Mundart sich durch die vielen Diminutive ausdrückt.
Niedecken sprach über seine Biographie “Für`n Moment“, erzählte wie das Konzept entstand, sprach über Kunst, über seine Malerei, berichtete, dass Liebeskummer ihn einst veranlasste, seinen ersten Song zu verfassen, schweifte ab, dachte an Japan, ließ Scobel reden, führte keinen Monolog, war nicht selbstdarstellerisch, sondern jeden Moment reflektiert und darauf hinweisend, dass alles, was er unternimmt, stets auch mit anderen Menschen zusammenhängt, denen er, man spürte es, wenn seine Augen leuchteten, sobald er von diesen Menschen sprach, dankbar ist für die Zusammenarbeit.
In den Hallen dann stellte ich fest, dass viele Verlage aus dem Osten ihre Bücher vorstellten, Verlage, die ich bislang nicht kannte. Das Buchprogramm der großen Verlage für dieses Frühjahr kannte ich bereits und las deshalb nur vereinzelt in neue Bücher rein. Auf Buchmessen interessieren mich vorrangig Einblicke in Kunstbände und hier kam ich durchaus auf meine Kosten. Antiquarische Bücher gab es im Rahmen der „Leipziger Antiquariatsmesse“. Dieser Teil der Messe war erstaunlich gut besucht. Ich selbst besitze nur eine Handvoll alter Bücher und habe zu solchen Büchern nur einen bedingten Zugang, weil ich immer spüre, dass der oder die vorhergehenden Besitzer etwas Unsichtbares hinterlassen haben, was mir den unbefangenen gedanklichen Austausch mit dem Autoren erschwert. In einer eigenartigen Form hat sich die Liebe oder Ablehnung des vorhergehenden Lesers im Buch eingegraben und verhindert unvoreingenommen an den Text heranzugehen. Es ist sonderbar.
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Den Top 3 Rezensenten Thorsten Wiedau traf ich kurz danach. Wir haben bereits einige Male miteinander Telefonkontakt gehabt und es war spannend, sich nun persönlich kennenzulernen. Viel Zeit zum Plaudern hatten wir nicht, doch die Zeit, in der wir Gedanken austauschten, war kurzweilig und harmonisch. Wiedau ist ein sehr höflicher Mensch, von dem nichts Aggressives, sondern zurückhaltende, unaufdringliche Freundlichkeit ausgeht. Das hat mir gefallen.
Nach dem Gespräch mit Wiedau hielt ich mich sehr lange in der Halle auf, in der Künstler und Handwerker ihre Objekte ausstellten. Entdeckt habe ich dort den Stand eines Tischlers, der Lesestühle anfertigt. Die Art des Stuhls kam mir bekannt vor. Ich habe einen ähnlichen Stuhl in Goethes Gartenhaus in Weimar gesehen und berichtete dies dem Tischler. Es war für ihn nichts Neues. Er wusste von diesem Lesestuhl. Man sitzt rittlings auf dem Stuhl und hat eine hervorragende Ablage für ein Buch oder einen Laptop, es ist auch noch genügend Platz, um eine Kaffeetasse abzustellen. Ich habe mir für interessierte Leser die Adresse der Homepage aufnotiert www.tischlerei-salau.de und den Stuhl auch abgelichtet. Zum Lesen scheint mir dieser Stuhl tatsächlich ideal zu sein. Goethe wusste, weshalb er dort den Text von Thomas Morus las und nicht ausgestreckt auf einem Diwan. Man kann sich besser konzentrieren, wenn man Texte dieser Art liest. Ein Liebesroman allerdings scheint mir eher Lektüre für die Couch zu sein.
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Interessant fand ich die Buchstützen von Bernhard Siller aus Friedberg http://www.buchstuetzen.de/. Ich habe die Buchstütze, die Heine zeigt, abgelichtet. Diese Buchstützen sind nach Zeichnungen des Künstlers als 24 cm hohe Laserdrucke auf 9mm starke Holzplatten kaschiert, mit UV Schutz versiegelt und von Hand gesägt, jeweils auf 300 Stück limitiert, wie ich mir aufnotierte, ferner nummeriert, signiert und auf eine polierte Edelstahlplatte montiert. Die Buchstützen sehen wirklich sehr originell aus. Sie haben mir gut gefallen.
Gefallen haben mir auch die Kreationen von Ulrich Zwick http://www.das-offene-atelier-vom-zwick.de/ aus Offenbach, die ich bislang noch nicht kannte. Interessant fand ich das Künstlerbuch, ein Unikatbuch, das mir Zwick zeigte, auch eines seiner Bilder, das ich abgelichtet habe und den netten Künstler selbst, mit dem es Freude macht, zu plaudern.
Gutenbergs alte Buchdruckmaschine und eine andere Maschine, die man im 15. Jahrhundert zur Vervielfältigung von Kupferstichen nutzte, begutachtete ich, bevor ich gegen 17.00 Uhr den Stand des S. Fischverlages aufsuchte, dort mit einer von mir sehr geschätzten Pressefrau, die ich seit letztem Jahr persönlich kenne und mit dem Autor des Buches „Moral“, Dr. Dr. Rainer Erlinger, das ich derzeit lese, einen Espresso trank. Erlinger ist ein sehr nachdenklicher Mensch, der völlig frei von Selbstdarstellungsallüren ist. Ich freue mich schon jetzt auf das Interview mit ihm, das wir in den nächsten Tagen wohl machen werden.
Die Nachhausefahrt war übrigens ein Glücksfall. Mein Platznachbar war in Dresden schon in den Zug eingestiegen, ein Doktorand der Physik. Wir redeten ohne Punkt und Komma von Dresden bis nach Kelsterbach, natürlich auch über die Vorgänge in Japan. Der junge Mann war sehr kritisch gegenüber dem ignoranten Verhalten älterer Generationen von Naturwissenschaftlern und sah dem, was sich in Japan zusammenbraute, alles andere als gelassen entgegen.
Die Reise nach Leipzig hat sich gelohnt. Ein Vergleich mit der „Frankfurter Buchmesse“ lässt sich nicht anstellen. Mir hat die Kommunikationsbereitschaft der Sachsen sehr gut gefallen und die Art, wie sie in neuen und in alten Büchern lasen. Daraus sprach viel Hochachtung vor Büchern generell.
Mein Blog: www.rezensionen.co
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Liebe Helga, vielen Dank für diesen inspirierenden Bericht. Auf der Leipziger Buchmesse war ich leider noch nie. Werde ich wohl irgendwann mal ändern müssen ...
AntwortenLöschenLG,
Ursula
Liebe Ursula, danke für den netten Kommentar. Komm` Du erst mal bitte nach Frankfurt mit Cosi zur Buchmesse im Herbst. "Ein Buch lesen" sollte sich im Oktober dort treffen. Es wäre an der Zeit ein Damengruppenbild inclusive Walter zu machen. Das könnte ich dann in den nächsten Messebericht einbinden.:-))
AntwortenLöschenLG Helga
Liebe Helga,
AntwortenLöschenauch ich finde Deinen Messebericht äußerst interessant und bin ein bisschen neidisch, auf die vielen Begegnungen die Du dort hast.
Es ist in der Tat an der Zeit eine Messe zu besuchen. Deshalb werde ich mir vornehmen, in Frankfurt dabei zu sein.
Dann können wir uns endlich einmal treffen.
LG.Rita
Danke für Deine Kommentar, liebe Rita.:-)) Schade, dass Du nicht in Leipzig warst. Wir hätten dann beispielsweise ausdiskutieren können, wie man Niedecken am besten ablichtet. Von den vielen Bildern, die ich von ihm machte, habe ich nicht grundlos das Bild gewählt, dass ihn in angeregtem Gespräch mit Scobel zeigt, weil es den Eindruck, den ich zu beschreiben versuchte, am besten wiedergibt.
AntwortenLöschenIch freue mich, wenn wir uns in Frankfurt sehen werden. Wir werden gewiss viel Freude haben.
Liebe Grüße Helga:-))