Teil 227 der Serie
»Monstermauern, Mumien und
Mysterien«
von Walter-Jörg
Langbein
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Das Paradiestor. Heilige unter'm Netz. Foto W-J.Langbein |
Von der schlichten Bartholomäus-Kapelle gehe ich die wenigen Schritte
zum Dom, die steinerne Treppe hinauf. Ich stehe vor dem »Roten Tor«. Der Name
soll an die Gerichtsbarkeit erinnern. Vor dem Tor sollen Urteile gesprochen
worden sein. Offenbar erfuhr hier so mancher armer Sünder, dass er dem
Folterknecht oder Henker übergeben werde.
Ich gehe durch das »Rote Tor« hindurch, durchquere das Gotteshaus,
durch eine hohe Holztür gelange ich in das sogenannte »Paradies«. Ich stehe
jetzt in einer eingewölbten Vorhalle. Hier versammelten sich einst die Pilger,
die den langen Weg nach Santiago de Compostella im Nordwesten Spaniens antreten
wollten. Diese Reise war alles andere als ungefährlich. Räuberbanden hatten
sich darauf spezialisiert, Pilgerkarawanen zu überfallen und zu berauben.
Mancher Pilger wurde ermordet, andere wurden in die Sklaverei verschleppt oder
entführt, um Lösegeld zu erpressen. 1859 wurde die Vorhalle auf die Hälfte
verkürzt. Die Türen nach Süden hin wurden entfernt, so dass der einst
geschlossene Raum jetzt nach vorne offen ist.
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Das blutrote Tor. Foto W-J.Langbein |
Ich durchschreite die Vorhalle und gehe in Richtung Markt, der etwas
höher liegt. Einige Treppenstufen höher wende ich mich um und sehe die Südseite
des Doms zu Paderborn. Was für eine Enttäuschung: die Statuen von Salomo und
der Königin von Saba sind nicht auszumachen, sie werden durch ein Baugerüst am
Dom verdeckt. Wie so viele alte Kirchen wird auch am Dom seit Jahrhunderten
gewerkelt.
Ich blicke zum Paradiesportal. Margarete Niggemeyer fasst in ihrem
Führer »Der Hohe Dom zu Paderborn« zusammen (1): »Ein im ersten Drittel des
dreizehnten Jahrhunderts entstandenes, gestuftes Säulenportal mit Figuren und
reichem Bildprogramm führt in den Dom. So begrüßen seit dem Mittelalter die
Patrone des Domes dessen Besucher: Vor dem Mittelpfosten steht Maria (als
Himmelskönigin), die das Jesus-Kind auf dem Arm trägt und liebkost. Bei dieser
frühgotischen Vollplastik aus Sandstein handelt es sich um eine der frühesten
stehenden Madonnen in Deutschland.
An den Portaltüren stehen die spätromanischen Holzplastiken des
Heiligen Kilian und des Heiligen Liborius. Das von zwei Engeln flankierte
schlichte Holzkreuz symbolisiert Christus, den Heiland und Erlöser. Er ist das
Ziel aller Pilgerschaft und Fundament der Kirche als Gemeinschaft der Heiligen.«
Margarete Niggemeyer geht dann ausführlich auf die großen
Apostelfiguren ein, um ihre Beschreibung des Paradiesportals wie folgt
abzuschließen (2): »Unterhalb der Heiligen schmückt das Portal ein reicher
Figurenfries; die beiden Türöffnungen umläuft ein Fries mit Greifen.«
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Greife am Paradiestor. Foto W-J.Langbein |
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Greife wurden erstmals vermutlich in der persischen Mythologie
beschrieben. In Ägypten tauchen sie Ende des vierten Jahrtausends vor Christus
auf. Der Greif war nach altägyptischer Mythologie ein himmlisches Wesen. Die
Greifen vom Paderborner Paradiestor marschieren auf der einen Seite gen Himmel,
auf der anderen Seite kommen sie wieder zurück nach unten. Unzählige dieser
Fabelwesen bilden scheinbar eine endlose Kette, jeder Greif, mit kräftigen
Beinen ausgestattet, packt seinen vor ihm schreitenden Artgenossen mit
mächtigem Schnabel am Vogel(?)schwanz.
Greifvögel treten in unzähligen Varianten, sprich Tiermischungen auf.
Sehr häufig ist die Kombination Vogel-Löwe, zum Beispiel Löwenleib, Kopf eines
Greifvogels mit Vogelflügeln. Was aber hat die bildliche Darstellung einer
Vogelgreif-Prozession empor zum Himmel und wieder zurück am Paradiestor des
Doms zu Paderborn zu suchen? Im Mittelalter galt der Greif als reales Wesen,
nicht als Mythos oder Fantasieprodukt. In enzyklopädischen Sammelwerken hatte
er einen festen Platz. Im Christentum wurde dem Greif positive Bedeutung
zugemessen. Man sah im Greif die Summierung der herausragenden positiven
Eigenschaften Jesu.
Mischwesen wie die Greife waren auch die Sphingen. In Ägypten kannte
man vor allem die Kombination Löwenleib mit Menschenkopf. Es gab aber auch
Sphingen, die an Greife erinnern, Mischungen aus Löwenleib und Greifvogelkopf.
Margarete Niggemeyer verweist in ihrem Domführer, wie zitiert, kurz auf die
Greife hin: » Die beiden Türöffnungen umläuft ein Fries (Foto links zeigt einen Ausschnitt!) mit Greifen.« Ansonsten
aber spricht sie lediglich von einem reichen »Figurenfries«. Leider geht sie
mit keinem Wort auf eine Vielzahl von Sphingen ein, die das Paradiesportal am
Dom schmücken.
Ich kann jedem Besucher des Doms zu Paderborn nur empfehlen, sich
ausreichend Zeit für das Paradies-Portal zu nehmen. Bewunderung verdienen die
großen Heiligen-Statuen ganz ohne Zweifel. Übersehen Sie aber bitte nicht die
mysteriösen Darstellungen von sphinxartigen Mischwesen zu Füßen der Statuen,
und zwar direkt unterhalb der unteren Kante des Schutznetzes…
Mehrfach treten »Sphingen« paarweise auf. Da gibt es beispielsweise
zwei anmutig wirkende weibliche Sphingen. (Abbildung: Siehe oben links!)
Anmutig neigen sie ihre Köpfe. Eine greift nach ihrem spitz zulaufenden
Flügel. Ihr menschlicher Oberkörper
sitzt, ähnlich wie bei einem Zentauren, auf einem Pferdeleib. Die Kollegin hat
einen ganz anderen Tierkörper. Es könnte der eines Skorpions sein. Das
Hinterteil jedenfalls ist, wie bei einem Skorpion, aufgerichtet.
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4 mal Sphingen vom Paradiestor. Fotos W-J.Langbein |
Andere Sphingen haben einen eher weniger intelligenten
Gesichtsausdruck. (Abbildung oben rechts!) Einer trägt eine Art Halsband, hat
dazu Schlappohren wie ein Esel, Menschengesicht und Vogelkörper. Sein Kollege
hingegen, mit ähnlichem Leib ausgestattet, hat so etwas wie eine spitze Mütze
auf dem Kopf.
Bei einem dritten Pärchen (Abbildung unten links) fällt eine Sphinx mit
Löwenleib auf. Typisch für den König der Wüste ist die Quaste am Schwanz.
Auffälliger ist, dass diese besonders kuriose Mischung ursprünglich zwei Hälse
mit zwei Häuptern hatte. Einer der Köpfe wurde mutwillig abgeschlagen.
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Von Anfang an kopflos geplant ...
mysteriöse Sphinx. Foto W-J.Langbein |
Eine andere »Sphinx« (Abbildung oben) wurde offensichtlich von
Anfang an kopflos konzipiert. Dieses aus alten Mythen entsprungene Wesen wurde
nicht nachträglich enthauptet. Es liegt auch kein Kriegsschaden vor. Vielmehr
sieht es so aus, als zeige die mysteriöse kleine Steinplastik ein Mischwesen,
dem man den Kopf abgeschnitten hat. Und in diesem Zustand hat der Steinmetz es
abgebildet? Warum? Soll darauf hingewiesen werden, dass diese Monster besiegt,
getötet werden können? Unterhalb der kopflosen Sphinx liegt etwas, was man als
mit Präzision abgeschnittenen Kopf sehen mag. Die Darstellungen vom Paradiestor soll man wohl wie ein Buch lesen
können, wie ein Bilderbuch ohne ein einziges Wort. Im dreizehnten Jahrhundert
gab es im Volk sehr wenige Menschen, die lesen konnten. Analphabetismus war der
Normalzustand. Für diese Mehrheit der Dombesucher waren die präzise
ausgearbeiteten Darstellungen gedacht. Was sollten sie mitteilen? Welche
Botschaft sollten sie überbringen.
Nehmen Sie sich viel Zeit, wenn Sie das Paradiesportal des Doms zu
Paderborn studieren. Achten Sie besonders auf die mannigfaltigen Sphingen. Da
wäre zum Beispiel eine Kreatur auf vier Beinen. Die mächtigen Pranken deuten
auf ein löwenartiges Tier hin. Der Kopf stammt offenbar eher von einem Pferd.
Bei näherem, genauerem Betrachten fällt auf, dass über dem »Pferdekopf« ein
zweiter Kopf sitzt. Er ist kleiner, schmaler… wie der eines Hasen. Beide
Häupter teilen sich zwei Ohren…
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Monster-Sphingen.. Fabelwesen. Foto W-J.Langbein |
Ein weiteres Beispiel: Da fressen zwei Sphingen vergnügt große Blätter.
Die Füße sind nicht die eines Huftiers, eher einer Großkatze. Die Ohren
wiederum sind lang und spitz, wie die eines Pferdes oder Esels. Direkt daneben
machen wir eine weitere Sphinx aus, die leider stark beschädigt oder verwittert
ist. Es ist wiederum ein Vierbeiner, aber nicht mit Pranken eines Löwen,
sondern mit Hufen. Wenn wir genau hinschauen, erkennen wir, dass der Kopf wohl
der eines Stiers war. Teile der Hörner sind noch vorhanden.
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Wer oder was knabbert da an Blättern?
Rechts: Sphinx mit Kalbskopf?
Foto Walter-Jörg Langbein |
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Das Paradiestor lockt tagtäglich unzählige Menschen zum Dom. Bestaunt
werden die Heiligenfiguren, die kleinen – viel interessanteren – Reliefs von
unterschiedlichsten Sphingen aber werden nicht beachtet. Fragen über Fragen
ergeben sich! Was haben diese mythischen Mischwesen an einem bedeutenden
christlichen Gebäude zu suchen? Über welches Wissen verfügten die Steinmetze?
Stammten sie aus dem Orient und kannten sie jahrtausendealte Bildnisse von
Sphingen und Greifen?
Fußnoten
1) Niggemeyer, Margarete: »Der hohe Dom zu Paderborn«, Paderborn, 3.
Auflage 2012, S. 15, linke Spalte.
2) ebenda, rechte Spalte
» Das Paradiestor und seine Sphingen
Teil 3«,
Teil 228 der Serie
»Monstermauern, Mumien und
Mysterien«
von Walter-Jörg
Langbein,
erscheint am 01.06.2014
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