»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
Dr. Götz Ruempler weist in seinem wichtigen Werk auf Mäuse in einem der schönsten Gotteshäuser überhaupt hin. Sie befinden sich in der Basilika Sainte-Marie-Madeleine. Dr. Götz Ruempler schreibt (12): »An der Basis der linken Säule des Hauptportals der Kathedrale Sainte-Madeleine in Vézelay (Burgund) richten sich Mäuse genauso auf wie die Maus im Bremer Dom.«
Mein Vater Walter Langbein sen. Unterrichtete am »Meranier-Gymansium Lichtenfels« Englisch und Französisch. Er bereiste England, Frankreich und die USA, arbeitete auch in Frankreich und in den USA als Lehrer. Intensiv sind meine Erinnerungen an die Basilika von Vézelay. Der wuchtige Turm beeindruckte mich sehr. Ausführlich erklärte mir mein Vater die kunstvollen Kapitelle, die alle in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstanden sind.
Da gab es eine Mühle zu sehen, in die Moses Getreide schüttet. Ein Mann steht bereit und nimmt das Mehl an. Konnte das Volk vor rund 900 Jahren die Bilder wie ein Buch lesen und verstehen? Angeblich gab es einst eingravierte kurze Erklärungen zu den einzelnen Bildern, die allerdings irgendwann entfernt wurden.
Da gab es eine Mühle zu sehen, in die Moses Getreide schüttet. Ein Mann steht bereit und nimmt das Mehl an. Konnte das Volk vor rund 900 Jahren die Bilder wie ein Buch lesen und verstehen? Angeblich gab es einst eingravierte kurze Erklärungen zu den einzelnen Bildern, die allerdings irgendwann entfernt wurden.
An eine weitere Darstellung kann ich mich erinnern: Da liegt ein bärtiger Mensch auf einem Bett, offenbar auf seinem Totenlager. Auf seinem Leib steht ein furchteinflößendes Wesen mit weit aufgerissenem Maul. Es scheint zu schreien. Oder will es mit seinen mächtigen Zähnen zubeißen? Rechts daneben steht eine weitere Kreatur, die ebenfalls ein kräftiges Gebiss zur Schau stellt. Das linke Monster hat den Arm eines Menschen gepackt, mit beiden Händen zerrte es daran. Will die Kreatur den Menschen fressen? Das Monster rechts piesackt den Menschen mit einem Marterwerkzeug. Laut den Erklärungen eines befragten Priesters ist das Szenario wie folgt zu verstehen: Auf dem Bett liegt ein Toter. Seine Seele hat soeben seinen Leib verlassen und wird von zwei teuflischen Kreaturen in Empfang genommen. So wird der Tote für seine zu Lebzeiten begangenen Sünden bestraft.
Mir hat sich besonders intensiv eine mysteriöse Abbildung auf einem der Kapitelle eingeprägt. Eine Gestalt meinte ich sofort erkennen zu können: Einer weibliche Person, offenbar nackt, wird von einer Schlange angegangen. Das Tier windet sich um die Beine der Frau, klettert empor. Das musste Eva sein. Wer aber war die zweite Person? Die Gestalt aus Stein, ebenso nackt, neigt sich nach hinten. Sie hat den Mund, auch die Augen, weit aufgerissen und stößt offenbar einen lauten Schrei aus. Mit beiden Händen umklammert die Gestalt den Griff eines Schwertes, den sie sich in den Leib rammt. Ein Priester erklärte, dargestellt sei nicht die Eva, sondern die personifizierte Wollust. Der nackte Mann mit dem Schwert versinnbildliche die Verzweiflung. Mir eingeprägt hat sich das schmerzverzerrte Gesicht der »Verzweiflung«.
Wie viele Mausdarstellungen mag es in christlichen Kirchen geben, die bis heute nur einem kleinen, eingeweihten Kreis bekannt sind? Ob alle diese Mäuse die »christianisierte« Form jener Artgenossen sind, die in heidnischen Zeiten Göttern wie Cernunnos zugeordnet wurden? Für mich ist Cernunnos ein »alter Bekannter«. Zum ersten Mal sah ihn schon vor Jahrzehnten bei meinem ersten Besuch im norditalienischen Val Camonica. Dort wurde die Gottheit als riesenhafte Göttergestalt in den Stein geritzt. Daneben sehen wir ein kleines Menschlein mit erhobenen Händen. Ober zu Cernunnos betet? Der Gott selbst hat auch die Arme gen Himmel gereckt. Vielleicht begrüßen sich Mensch und Gott? Die vergleichsweise hünenhafte Gottheit trägt ein Geweih. Deutlich auszumachen ist eine Schlange am Arm.
Auch auf dem berühmten keltischen Kessel von Gundestrup wurde Cernunnos mit Geweih und Schlange verewigt. Anno 1891 fand man das silberne Kultobjekt im Fuchsmoor bei Gundestrup im dänischen Himmerland. Datiert wird er auf das fünfte bis erste Jahrhundert vor Christi Geburt. Ich sprach mit einem Kurator des »Dänischen Nationalmuseum Kopenhagen«. Nach Überzeugung des Wissenschaftlers wurde der Kessel vor gut zwei Jahrtausenden bewusst zerstört und zerteilt. Die Teilstücke wurden im Moor abgelegt. »Von wem?«, wollte ich wissen. Mein Gesprächspartner vom Museum meinte, mehrere Antworten seien denkbar. Er selbst favorisiere zwei Erklärungen, die sich seiner Meinung nach anböten.
These 1: Nachdem man sich vom »heidnischen« Glauben abgewandt hatte, sollte das alte Kultobjekt beseitigt werden. Aus Respekt vor dem einst sakralen Kessel zerlegte man ihn in seine Einzelteile – dreizehn Platten aus Silber – und bestattete sie im damals schon ausgetrockneten Moor.
These 2: Der Kultkessel sollte davor bewahrt werden, Feinden in die Hände zu fallen. Deshalb versuchte man ihn, in Sicherheit zu bringen, zu verstecken… und hat ihn zerlegt. Auf diese Weise verlor er – vorübergehend – seine magische Macht. Jederzeit konnte er wieder ausgegraben und zusammengesetzt werden.
Cernunnos im Val Camonica |
Auch das (bei Cernunnos göttliche) Attribut Schlange findet sich – wie zum Beispiel die Taube – im christlichen Glauben wieder, allerdings als teuflisch-böses Tier. Aus der Taube der Göttin Venus und anderer weiblicher Gottheiten wurde die Heilige Geistin, die wiederum zum männlichen Heiligen Geist gewandelt wurde. Immer wieder zeigt es sich, dass positive göttliche Attribute im Christentum im wahrsten Sinne des Wortes verteufelt wurden: aus der positiv besetzten Schlange wurde der Teufel, aus dem einst göttlichen Drachen wurde ein Monster.
Wer kennt sie nicht, die Darstellungen vom Heiligen Drachentöter hoch zu Ross. Der Drache zu Urschalling am Chiemsee ist als Wandmalerei nur noch zum Teil erhalten. Man erkennt allerdings, dass das sterbende »Monster« im Vergleich zum Pferd des Heiligen Georg klein war.
In Marienmünster erfährt der Drache eine Verwandlung… zum Teufel in Menschengestalt, mit »Drachenflügeln« am Kopf. Vergessen wir nicht, dass in vorbiblischen Zeiten der Drache eine Urgöttin der Meere war, die hoch angesehen und angebetet wurde. In Marienmünster jedenfalls sollte auf möglichst anschauliche Weise verdeutlicht werden, was da nach christlicher Theologie geschah! Da kämpfte kein irdischer Heros gegen einen bemitleidenswerten Drachen in Dackelgröße, da waren himmlische Kräfte am Wirken... gegen den Teufel selbst.
Der kleine Drache von Urschalling |
In Marienmünster erfährt der Drache eine Verwandlung… zum Teufel in Menschengestalt, mit »Drachenflügeln« am Kopf. Vergessen wir nicht, dass in vorbiblischen Zeiten der Drache eine Urgöttin der Meere war, die hoch angesehen und angebetet wurde. In Marienmünster jedenfalls sollte auf möglichst anschauliche Weise verdeutlicht werden, was da nach christlicher Theologie geschah! Da kämpfte kein irdischer Heros gegen einen bemitleidenswerten Drachen in Dackelgröße, da waren himmlische Kräfte am Wirken... gegen den Teufel selbst.
Dr. Ruempler weist auf eine ganz besonders interessante Kombination hin. Auf einer Miserikordie des Chorgestühls im Dom zu Köln entdeckte er Mysteriöses (13): Ein Drache mit weit ausgebreiteten Flügeln hält in seinen Klauen eine Maus. Miserikordien waren Gesäßstützen, auf die man sich zwar nicht wie auf einen Stuhl setzte, die aber doch beim langen Stehen während des Gottesdienstes die Beine entlasteten. Vorbehalten waren derlei Erleichterungen der Geistlichkeit oder hohen Würdenträgern. Auf der Unterseite dieser nach oben und unten klappbaren hölzernen Stützen waren oft Schnitzereien angebracht. Groteske Gestalten wurden da verewigt, auch plastische Darstellungen von Lastern, Sphingen und andere Fabelwesen. Im 14. Jahrhundert stellten Künstler in derlei Schnitzereien oft dar, was ansonsten in Gotteshäusern nicht offen gezeigt werden durfte. Auch wenn diese offenbar oft drastischen Abbildungen vom normalen Gottesdienstbesucher nicht gesehen werden konnten, wurden viele dieser interessanten Kunstwerke im Verlauf der Jahrhunderte aus den Gotteshäusern entfernt.
Dr. Ruempler bietet eine Erklärung an für die kombinierte Darstellung von Maus und Drache und von Maus und Fledermaus (14): »Fledermaus und Drache als Symbol für das Böse, für Hexen und Teufel werden durch ihre Darstellung unwirksam gemacht, gleichsam gebannt, und beide halten die Maus fest im Griff – die Maus als Sinnbild für Hexen. Auch der Nager wird dadurch kraftlos, hilflos. Gier wird also der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben! Das Böse hat – sinnbildlich – seine Macht verloren.«
Wir müssen uns fragen: Was ist der Ursprung von Symbolen wie Drache, Fledermaus und Maus? Sie wurden nicht von christlichen Theologen erfunden. Sie sind sehr viel älter als das Christentum, ja als das »Alte Testament«. Sie stammen – davon bin ich überzeugt – aus älteren Religionen. Aus den Göttinnen von einst wurden Drachen und Meeresungeheuer. In »christlichen« Symbolen leben sehr viel ältere Bilder weiter. Die Taube des »Heiligen Geists« war zum Beispiel ursprünglich die Taube der Göttin Venus und ihrer Kolleginnen!
Ein Riesensymbol von Nazca, Peru |
Es ist an der Zeit, dass alle Darstellungen in christlichen Kirchen, die eventuell einen heidnischen Ursprung haben, gesucht, gesichtet und katalogisiert werden! Ich vermute, dass so manches Kleinod wie die Dom-Maus von Bremen versteckt angebracht wurde.
Mein Vorschlag: Liebe Leserinnen und Leser, besuchen Sie doch Ihre Kirche vor Ort und suchen Sie nach Schlangen-, Drachen- und Mausdarstellungen! Fragen Sie den örtlichen Geistlichen, den Küster und Führer. Oft wissen örtliche Heimatforscher mehr als die »offiziellen« Stellen und freuen sich über Interesse!
Sollten Sie fündig werden, würde ich mich über eine Benachrichtigung sehr freuen! Im Voraus vielen Dank!
Fußnoten
(12): Ruempler, Götz: »Die Bremer Dom-Maus/ Geschichte, Geschichten und
›Mäuse-Latein‹«, Band 3 der Schriftenreihe der Stiftung Bremer Dom
e.V., 2. durchgesehene Auflage, Bremen 2010, S. 48
(13): Ruempler, Götz: »Die Bremer Dom-Maus/ Geschichte, Geschichten und
›Mäuse-Latein‹«, Band 3 der Schriftenreihe der Stiftung Bremer Dom
e.V., 2. durchgesehene Auflage, Bremen 2010, S. 46 und 49
(14): Ruempler, Götz: »Die Bremer Dom-Maus/ Geschichte, Geschichten und
›Mäuse-Latein‹«, Band 3 der Schriftenreihe der Stiftung Bremer Dom
e.V., 2. durchgesehene Auflage, Bremen 2010, S. 46 und 47
Literaturempfehlung
Ruempler, Götz: »Die Bremer Dom-Maus/ Geschichte, Geschichten und ›Mäuse-Latein‹«, Band 3 der Schriftenreihe der Stiftung Bremer Dom e.V., 2. durchgesehene Auflage, Bremen 2010
(Fünf Sterne)
Köstliche Kulturgeschichte … in Sachen Maus im Dom – und mehr!
Götz Ruempler, einer der besten Kenner des Doms zu Bremen, hat mit »Die Bremer Dom-Maus« ein zugleich köstliches wie informatives Büchlein geschrieben. Der Untertitel - »Geschichte, Geschichten und Mäuselatein‹« - verspricht nicht zu viel. Dr. Ruempler nimmt die »Maus im Bremer Dom« zum Anlass, um über eine Vielfalt von Themen zu informieren.
Einige Themenschwerpunkte des erstaunlich tiefschürfenden, durchgehend mit Fotos in Farbe illustrierten Opus seien genannt: »Die Maus in Naturkunde und Medizin bei Hildegard von Bingen«, »Die Maus in der Tierfabel« und »Die Bremer Dom-Maus – keine ›Schnurre‹, sondern ein Hexensymbol«.
Dr. Ruempler, Zoologe und Experte für mittelalterliche Tierdarstellungen, danke ich für wirkliches Lesevergnügen, für kurzweilige und stets fundierte Informationen! Lesen Sie, staunen Sie über die kleine »Bremer Dom-Maus« und ihre Artgenossen in zahlreichen anderen Kirchen! »Die Bremer Dom-Maus« ist für jeden Besucher des Doms zu Bremen ein Muss… und für jeden Zeitgenossen, der sich für »versteckte Geheimnisse« uralter sakraler Kultbauten interessiert.
Dr. Ruempler ist es glänzend gelungen zu beweisen, wie lesenswert, alles andere als langweilig, sondern unterhaltsam ein kulturhistorisches Werk sein kann!
Verfasser: Walter-Jörg Langbein
Fotos
Vézelay.. Erschreckende Kirchenkunst... wiki commons/ Vassil
Da gab es eine Mühle zu sehen... wiki commons/ Vassil
Eva mit Schlange? wiki commons/ Vassil
Mann mit Schwert? wiki commons/ Vassil
Kessel von Gundestrup: wiki commons/ Magnus Manske
Cernunnos von Gundestrup: wiki commons/ Magnus Manske
Cernunnos im Val Camonica: Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Der kleine Drache von Urschalling: Foto Walter-Jörg Langbein
Drachenteufel von Marienmünster: Foto Walter-Jörg Langbein
Ein Riesensymbol von Nazca/ Peru: Foto Walter-Jörg Langbein
Buchcover Ruempler: Verlag/ amazon
271 »Hexen und ein Steinerner Mann,«
Teil 271 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 29.03.2015
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