Sonntag, 12. Februar 2017

369 »Auf der Suche nach Alexanders Himmelfahrt«

Teil  369 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein


Fotos 1 und 2: »Schönster Turm« und das Portal

Das »Münster Unserer Lieben Frau« zu Freiburg im Breisgau wurde anno 1827 zur Bischofskirche und somit zur Kathedrale. Die »Kathedra« ist als Bischofsthron Symbol der hohen Stellung des Bischofs. Bereits um 1200 wurde der sakrale Bau begonnen, 1513 wurde er offiziell abgeschlossen. So präsentiert sich das mächtige Gotteshaus im romanischen, aber auch im gotischen Stil. Anno 1869 pries der Kunsthistoriker den 116 Meter hohen Turm als Schönsten auf Erden. Noch älter als das »Freiburger Münster« sind Reste des steinernen Fundaments einer Pfarrkirche, die wohl um 1130 errichtet wurde. Bald aber wurde das Gotteshaus zu klein. Berthold V, er starb im Jahr 1218 ordnete den Bau einer großen Kirche im Stil des Basler Münsters an.

Marktfrauen bieten geschäftstüchtig Gemüse an. Kaufwillige rempeln Fotofreunde an, die einen imposanten Brunnen im Bilde festhalten wollen. Sie bleiben geduldig mitten im Gedränge stehen, hoffen auf einen freien Blick auf den Brunnen. Ob sie für einen Augenblick freie Sicht auf den Brunnen haben können? Doch schon schieben sich wieder Menschen vor die Linsen. Andere Fotografen möchten ein Stück näher an den Brunnen rücken, brave Müßiggänger möchten sich auf den Rand des Brunnens setzen. Und dazwischen drängen sich Marktbesucher, die ihre großen Taschen mit frischem Gemüse füllen wollen.

Foto 3: Bunte Figuren erzählen die Geschichte Jesu

Einige Marktfrauen beäugen uns Fotografen skeptisch bis missmutig, weil wir die potentielle Kundschaft behindern. Die Einkäufer fühlen sich durch uns Fotografen behindert, weil sie den Zugang zu den Buden erschweren. Nicht sonderlich beliebt sind geführte Menschengruppen, weil die nichts kaufen und viel Platz einnehmen. Die meisten Marktfrauen aber sind gut gelaunt, lachen fröhlich und preisen ihre Erzeugnisse an. Unbeliebt macht sich der eine oder der andere »Störenfried« mit Fahrrad.

Endlich sind wir durch das Getümmel hindurch zum Portal vorgedrungen. Wir stehen vor dem Turmportal. Das mächtige Tor ist »taubensicher« gemacht. Ein feinmaschiges Netz verhindert das Eindringen der symbolträchtigen Vögel. Ob der »Heilige Geist« – er wird in zahlreichen Darstellungen gern als Taube gezeigt – trotzdem eingelassen wird? Freilich war die heilige Taube schon das Sinnbild der Liebesgöttin Venus. Und: der »Heilige Geist« war ursprünglich weiblich. Wir betreten die Vorhalle zum Münster im Turmerdgeschoss. Hoch über unseren Köpfen nehmen wir eine Fülle von Figuren wahr, die uns die biblischen Geschichten näherbringen sollen. Zahlreiche bunte, liebevoll detailreich herausgearbeitete Figuren erzählen uns die Geschichte Jesu. Da sehen wir die Hirten auf dem Felde, denen die Geburt des Heilands verkündet wird. Da liegt Maria, die Mutter Jesu, auf einer Liegestatt, die so gar nicht in einen Stall von Bethlehem zu passen scheint.

Foto 4: Hirten auf dem Felde, die Geburt Jesu.

Wir haben uns durch das Menschengetümmel vor dem Münster hindurchgezwängt. Langsam nähern wir uns dem Haupteingang. Säulenheilige fallen kaum auf. Grimmige Blicke ziehen wir uns zu, weil wir uns zwischen Buden auf womöglich verbotenen Wegen dem Gotteshaus nähern. Ich geb’s ja zu: Ich kann es nicht abwarten, endlich die in Stein verewigte Himmelfahrt von Alexander dem Großen zu sehen.

Wir durchschreiten die Vorhalle und betreten das eigentliche Gotteshaus. Wir bleiben kurz stehen, orientieren uns. Aus der Hektik des Markts kommend tut die Stille im Münster gut. Der hektische Alltag ist außen vorgeblieben. Wir sehen, zwischen imposanten Säulen, den Hochaltar. »Wo ist denn hier die Nikolauskapelle?«, frage ich flüsternd. »Gibt’s gar nicht mehr!«, lautet die Antwort einer hageren älteren Frau. »So ein Unsinn!«, widerspricht ein Herr in dunklem Anzug. »Sie müssen in Richtung Hochaltar gehen, immer geradeaus, dann halten Sie sich rechts, gehen in Richtung Sakristei. Wenn Sie kurz vor der Sakristei stehen, dann wenden Sie sich nach links. Dann sehen Sie auch schon den Eingang zur Nikolauskapelle!« Die ältere Frau widerspricht, fast etwas energisch. »Die Nikolauskapelle gibt es doch schon seit ewigen Zeiten nicht mehr!« Mächtiges Orgelgebraus setzt ein, übertönt jedes Gespräch.

Foto 5: Unterwegs zur Nikolauskapelle.

Gehen wir gemeinsam weiter, und zwar nach rechts, vorbei am Lammportal, weiter in Richtung Hochaltar. Nach meinem Grundriss vom Münster, sind wir auf dem richtigen Weg. Vorbei an der Kanzel. Vorbei an der wunderschönen Madonna mit Mondsichel. Königlich wirkt sie, die »Gottesmutter«, stolz trägt sie ihre Insignien, Krone und Zepter. Auch das kleine Jesuskind hat eine Krone auf dem Haupt. Aber weiter geht es in Richtung Sakristei, zur Nikolauskapelle.

Um das Jahr 1200 wurde die Nikolauskapelle angelegt: im Untergeschoss des »südlichen Hahnenturms«. Anno 1507 freilich wurde die Stirnwand der Kapelle entfernt, aus der Kapelle wurde ein Durchgangsraum zwischen Querhaus des Münsters und dem Umgangschor. Der Kapellencharakter ging so verloren. Somit gibt es die Nikolauskapelle seit einem guten halben Jahrtausend nicht mehr als geschlossenen Raum. Erhalten geblieben ist allerdings das Portal zur einstigen Nikolauskapelle. Und das hat es wirklich in sich! Warum hat man diese mysteriösen Kunstwerke am Portal zur einstigen Nikolauskapelle belassen und nicht entfernt? Die Motive, die wir an den Kapitellen, etwa in Kopfhöhe, sehen, sie sind alles andere als »christlich«. Sie sind wohl die ältesten sakralen Kunstwerke im Münster zu Freiburg. Hat man aus Respekt vor dem Alter nicht gewagt, diese geheimnisvollen Darstellungen zu zerstören? Hat man sie aus einem älteren Bau übernommen?

Foto 6: Schlüssel zu den Geheimnissen
Fotografieren lassen sich die faszinierenden Kunstwerke nicht so ohne weiteres. Blitzlicht darf nicht eingesetzt werden, schärft mir ein aufmerksamer Wächter ein. Ein Großteil des Eingangs in die Nikolauskapelle liegt im Halbdunkel. Eines der Reliefbilder wird von einem kleinen Strahler erleuchtet. Das Licht an der einen Stelle lässt die Dunkelheit an den anderen noch intensiver erscheinen. Ein Reliefbild  liegt vollkommen im Dunkel. Durch das Gittertürchen in die ehemalige Kapelle fällt Licht, wirft Schattenmuster auf die zwei übrigen Reliefs. Sie wirken dadurch noch geheimnisvoller, ja irgendwie magisch. Es kommt mir so vor, als würden wir in eine heidnische Vergangenheit blicken, in eine Zeit vor der Christianisierung. Die Reliefs könnten aus einem uralten Tempel stammen, als Überbleibsel eines religiösen Kults, über den wir überhaupt nichts wissen. Sie wirken wie Momentaufnahmen aus einem Film, der an willkürlich gewählter Stelle gestoppt wurde. Wir sehen die Bilder, verstehen sie aber nicht. Können wir versuchen, sie zu interpretieren?

Theologische Interpreten neigen dazu, auch heidnische Motive in der sakralen Kunst so zu deuten, dass die eigene Lehrmeinung bestätigt wird. Christliche Theologen sehen gern auch in heidnischen Symbolen christliches Gedankengut. Jeder meint, über den richtigen »Schlüssel« zu verfügen, mit dem man die »wahre Bedeutung« sakraler Kunstwerke wie einen Geheimcode dechiffrieren kann. Die Reliefs am Eingang zur ehemaligen Nikolauskapelle freilich haben so gar nichts Christliches zu bieten: ein Familienidyll mit Monstern, die Himmelfahrt Alexander des Großen, kämpfende Mischwesen und einen Wolf, der keine Lust hat, die Kunst des Schreibens zu erlernen. 

Foto 7
Zu den Fotos
Foto 1 Der »schönste Turm der Welt«. Foto wikimedia commons/ Daderot
Foto 2: Das Portal mit dem Tympanon. Foto wikimedia commons Foto Todor Bozhinov
Foto 3: Bunte Figuren erzählen die Geschichte Jesu. Foto wikimedia commons/ dr. avishai teicher
Foto 4: Hirten auf dem Felde, die Geburt Jesu. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 5: Unterwegs zur Nikolauskapelle. Foto Walter-Jörg Langbein.
Foto 6: Wer hat den Schlüssel zu den Geheimnissen? Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 7: Grundriss des Münsters, Weg zur Nikolauskapelle, gelb eingezeichnet. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein (links)

370 »Familienidyll mit Monstern«,
Teil  370 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                       
erscheint am 19.02.2017


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