»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
Denkmal für die Stadtmusikanten |
Aufgezeichnet wurde das Märchen von den vier Bremer Stadtmusikanten von den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm. Veröffentlicht wurde es erstmals im Jahr 1819, in der zweiten Auflage der Grimmschen Sammlung der »Kinder- und Hausmärchen«. Als Quellen dienten Erzählungen aus dem Raum Höxter (meiner jetzigen Heimat) und aus dem Raum Kassel.
Zwei Grundthemen sind bekannt. Da wären einmal die Erzählungen von Haustieren auf der Wanderschaft, die mit List und Tücke Räuber aus einem gemütlichen Haus im Wald vertreiben. Und da wäre zum anderen die Erzählung von ausgenutzten Haustieren, die mit dem Schlimmsten rechnend die Flucht ergreifen und beschließen, ihr Glück in Bremen als Stadtmusikanten zu suchen.
»Bremer Stadtmusikanten« hat es tatsächlich gegeben, allerdings waren das keine begabten Tiere, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. So lässt sich ein Bremer Ratstrompeter bereits für das Jahr 1339 nachweisen. Gut ein Jahrhundert später musizierte eine Gruppe von Bremer »pipers«, also von Bremer Bläsern, und das nicht nur in der Stadt Bremen sondern auch im Ausland, nämlich in niederländischen Städten.
Die Band von Bremer Stadtmusikanten bezog ein festes Salär von der Stadt Bremen. Manchmal waren es vier, manchmal fünf, manchmal sogar sechs Bläser, die bei öffentlichen Festlichkeiten auftraten, aber auch ihre Kunst bei privaten Feierlichkeiten zum Besten gaben. Besonders weit waren die Bremer Bläser zu hören, wenn sie von Kirchentürmen herab mit Begeisterung und vollem Lungeneinsatz posaunierten.
Die privilegierten »pipers« wurden von der freiberuflichen Konkurrenz sehr beneidet. Je erfolgreicher die unabhängigen Musikusse den fest angestellten Kollegen die Arbeit streitig machten, desto größer wurde der Unmut der Etablierten. Musikpädagoge Heinz Müller-Beck zum Verfasser (2): »Man kann davon ausgehen, dass die Privilegien die ›Original-Bremer-Stadtmusikanten‹ behäbig werden ließen. Wozu sich anstrengen, wenn man doch ein festes Gehalt bezog. Die Freischaffenden machten vermutlich intensiv Werbung. Sie dürften auch schneller auf die jeweiligen Modetrends reagiert haben, während die ›privilegierten‹ dazu nicht wirklich dringende Veranlassung sahen. Mit anderen Worten: Die freiberuflichen Musikusse boten die neuesten Trends, die privilegierten sicher oft, was schon ihre Väter und Großväter hatten erklingen lassen.«
Die privilegierten pochten immer wieder auf ihre alten, von der Stadt zugesicherten Rechte und beschwerten sich beim Rat der Stadt. Der sah sich immer wieder genötigt, Musikanten ohne Vertrag mit der Stadt auszuweisen. Es mag sein, dass die etablierten Bläser deshalb von der freien Konkurrenz gern mit eigentlich als etwas tumb geltenden Haustieren verglichen wurden.
Wenn wir nach den ältesten Versionen des berühmten Märchens suchen, stoßen wir auf flämische und französische Fassungen, die schon im zwölften Jahrhundert die Runde machten. In diesen frühen Varianten hatten es die Stadtmusikanten allerdings nicht mit Räubern, sondern mit anderen Tieren zu tun. Auch strebten die tierischen Musikusse keineswegs immer nach Bremen, sondern hatten ganz unterschiedliche Ziele.
Der Schweizer Literaturwissenschaftler Max Lüthi (1909-1991), der als einer der großen Märcheninterpreten des 20. Jahrhunderts gilt, zählte die »Bremer Stadtmusikanten« zur Gattung der europäischen Volksmärchen. Der Kern der Geschichte soll allerdings bereits um 100 v.Chr. in Rom bekannt gewesen sein.
Was so märchenhaft daherkommt, lässt sich durchaus auch radikal-politisch interpretieren. Da sind vier Tiere, nämlich Esel, Hund, Katze und Hahn. Sie haben für ihre menschlichen Herren geschuftet und sind alt geworden. Sie wurden im wahrsten Sinne des Wortes ausgebeutet und sind nun aus Sicht der »Herren« nur noch nutzlose, überflüssige Esser, die selbst nur noch fressen, aber nichts mehr zu leisten imstande sind. Lassen wir das Märchen selbst zu Wort kommen:
»Es hatte ein Mann einen Esel, der ihm schon lange Jahre treu gedient hatte, dessen Kräfte aber nun zu Ende giengen, so daß er zur Arbeit immer untauglicher ward. Da wollte ihn der Herr aus dem Futter schaffen…« Mi Recht fürchtet das Grautier um sein Leben und macht sich auf die Wanderschaft… nach Bremen, um dort Musikant zu werden. Er begegnet einem Jagdhund, der ebenfalls um sein Leben bangend die Flucht ergriffen hat: »›Ach‹, sagte der Hund, ›weil ich alt bin und jeden Tag schwächer werde, auch auf der Jagd nicht mehr fort kann, hat mich mein Herr wollen todt schlagen, da hab ich Reißaus genommen.‹«
Von ganz ähnlichem Schicksal berichtet schließlich die Katze. Auch sie ist alt geworden. Sie wärmt sich auf ihre alten Tage lieber am Ofen als auf Mausejagd zu gehen. Ihre Herrin, so schwant es dem Stubentiger, will sie ersäufen. Also ergreift auch die Katze noch gerade rechtzeitig die Flucht und schließt sich Esel und Hund an, gemeinsam wollen die Tiere nach Bremen wandern.
Zu guter Letzt schließt sich ihnen noch der Hahn an. Der hat zufällig mitbekommen, dass sein letztes Stündlein geschlagen hat, so er im vormals trauten Heim bleiben sollte. Hat doch die Hausfrau der Köchin den Auftrag gegeben, den Hahn zu schlachten und am Sonntag als Suppenbeilage zu servieren. So wird mit dem Hahn das Quartett komplett.
Unschwer lassen sich die ausgedienten Tiere als Arbeiter deuten, die nach einem Leben des Schuftens keinen Dank, sondern nur den Tod erwarten dürfen. Erst wurden sie nach Strich und Faden ausgebeutet bis sie nichts mehr leisten konnten. Dann sollten sie bösartig abserviert werden. Die alten Ausgedienten aber ergeben sich nicht in ihr Schicksal. Sie verlassen ihre bösartigen »Arbeitgeber«, schließen sich zusammen und beweisen, dass sie noch Mumm in den Knochen haben. So gelingt es ihnen, böse Räuber zu vertreiben und ein neues Leben anzufangen. Ihren Plan, nach Bremen zu marschieren und dort als Musikanten zu arbeiten, haben sie aber aufgegeben. Ohne die ausbeuterische Herrschaft kommen die »Bremer Stadtmusikanten« viel besser zurecht im Leben, frei und selbstbestimmt.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist das »Kindermärchen« von den »Bremer Stadtmusikanten« aktueller denn je. Anders als zu Zeiten der Gebrüder Grimm sind heute immer mehr »Alte« alles andere als »altes Eisen«. Unsere heutigen »Senioren« sind heute oftmals sehr viel rüstiger und agiler als zu Grimms Zeiten. In unseren Breiten streben immer mehr Senioren in die örtlichen Fitness-Studios, wuchten Gewichte, trampeln auf Spinrädern und können ein wirklich aktives »Alter« erleben.
Erst im 20. Jahrhundert entstand eine Fortsetzung zum Märchen der Grimms. Wilhelm Scharrelmann führte die Geschichte von den Bremer Stadtmusikanten fort. Das Sequel zum Original der Gebrüder Grimm freilich ist heute so gut wie unbekannt. Die Bremer Stadtmusikanten sind heute weltberühmt wie der Dom zu Bremen.
Alle Jahre wieder findet am ersten Wochenende im März das Seminar »Phantastische Phänomene« statt. Wirklich besuchenswert sind das Überseemuseum direkt am Hauptbahnhof in Bremen, natürlich der Dom zu Bremen mit den kuriosen »Tieren« am Eingangsportal, der berühmten »Kirchenmaus« und den rätselhaften Kapitellen in der Ostkrypta! Ein paar Schritte vom Dom entfernt… das Denkmal der »Bremer Stadtmusikanten«. Es soll Glück bringen, die Vorderbeine des Esels zu reiben. Das glauben offensichtlich viele Bremen-Besucher, denn die Vorderbeine des Grautiers sind blank geputzt…..
Fußnoten
(1) Schreibweise unverändert übernommen,
nicht der Rechtschreibreform angepasst.
(2) Aufzeichnungen Walter-Jörg Langbein.
Herr Müller-Beck ist vor Jahren
hochbetagt verstorben.
(3) Schreibweise unverändert übernommen,
nicht der Rechtschreibreform angepasst.
Zu den Fotos
1971 gab die Post der D.D.R. schöne
Briefmarken mit Szenen aus dem Märchen
von den »Bremer Stadtmusikanten« heraus.
Diese Motive sind ideale Illustrationen
zum Märchen. Fotos: Archiv
Walter-Jörg Langbein
Denkmal »Bremer Stadtmusikanten«:
Fotos Walter-Jörg Langbein
273 »Erich von Däniken zum 80. Geburtstag«
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 12.04.2015
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