Sonntag, 28. Dezember 2014

258 »Tod im Turm«

Teil 258 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein

Foto 1: Der Döhrener Turm

»Noch ist Zeit zu fliehen!«, rief der Bärtige mit der blutroten Narbe, die sein Gesicht entstellte. »Wir können die Stellung doch sowieso nicht halten! Und Gnade werden wir bei diesem schrecklichen Heinrich sicherlich nicht finden!« Ein besonnen wirkender junger Mann antwortete: »Wer fliehen möchte, der mag dies jetzt noch tun, eh‘ es zu spät ist! Aber wir haben geschworen, den Döhrener Turm zu verteidigen und zu halten, bis in den Tod!«

Seit Jahrzehnten bereise ich die Welt, besuche geheimnisvolle Orte und recherchiere vor Ort. Im Verlauf dieser Zeit habe ich immer wieder Briefe erhalten, von Menschen, die an die Wiedergeburt glauben. Damals recherchierte ich Berichte von Menschen, die mit der Welt des Unheimlichen und Übersinnlichen Kontakt haben wollen. Nicht wenige Berichte hatten Wiedergeburt zum Thema. Ein junger Mann von Mitte Zwanzig, Sparkassenangestellter in einer kleinen Stadt im Norden Deutschlands, glaubt ein einem früheren Leben im Döherner Turm zu Hannover beim Angriff des Welfenherzogs Heinrich von Wolfenbüttel ums Leben gekommen zu sein. Ich darf aus seinem Text zitieren, den er mir vor Jahren zugeschickt hat:

»Herzog Heinrich I. von Braunschweig-Wolfenbüttel belagerte schon seit einiger Zeit Hannover. Erfolg hatte er keinen. Wacker wehrten sich die Bürger. Im Jahr 1486 versuchte der Heinrich einen Überraschungsangriff. Wie von der Landwehr hielt verzweifelt die Stellung. ›Auf keinen Fall den Turm unseren Feinden überlassen!‹, so lautete unser direkter Befehl. Wir wussten: Wenn die Angreifer unseren Turn einnehmen, hatten sie eine Bresche in die Abwehr von Hannover geschlagen! Anfangs waren wir sogar zuversichtlich. Wir feuerten unsere Schusswaffen auf die Angreifer ab. Es gelang uns, die Attacke aufzuhalten. Wie stolz waren wir! Doch dann ging uns die Munition aus. Wir konnten uns nicht mehr verteidigen.

Foto 2: Idyll mit Turm

Wie harrten im Döhrener Turm aus, vergeblich versuchten die Feinde einzudringen. Es war verhältnismäßig leicht, unsere Stellung zu verteidigen. Wir saßen aber in der Falle. Wir blieben unserem Eid getreu standhaft, auch dann noch, als die verbrecherischen Horden riesige Reißighaufen um unseren Turm anhäuften. Was hatten sie vor? Schließlich steckten sie das größtenteils dürre, trockene Holz in Brand. Hoch loderten die Flammen. Die Hitze im Turm war bald unerträglich. Rauch drang durch die schmalen Fenster ein. Wir konnten bald kaum noch atmen. Rauch brannte uns in Augen und Lunge. Wir husteten uns die Seele aus dem Leib. Keiner von uns hat sich ergeben. Einige versuchten an den schmalen Fensterchen Luft zu schnappen. Aber da war es noch unerträglicher. Rauch erfüllte das Innere des Turms. Nach und nach stürzten wir in großem Schmerz zu Boden, nach und nach starben wir in Pflichterfüllung!

Wir beteten inbrünstig zu Gott. Wir dachten nicht an uns selbst, sondern an das Gemeinwohl. Wir baten nicht um unsere Rettung, sondern wir flehten zu Gott, unsere Leben als Opfergabe anzunehmen. Der Herr im Himmel, so hofften wir, würde dann einen Sieg von Herzog Heinrich I. von Braunschweig-Wolfenbüttel nicht zulassen. Wir fühlten uns als Helden, als Retter unserer Heimatstadt.«

Foto 3: Ein alter Turm hält die Stellung...

Meine Recherchen führten mich nach Hannover. Von Bad Pyrmont aus braucht die S-Bahn, wenn nicht gerade wieder gestreikt wird und auch keine »Störung im Betriebsablauf« vorliegt, 60 Minuten. Ob die »Wiedergeburtsgeschichte« stimmt oder nicht? Letztlich ist das belanglos. Die Fakten sind interessant genug!

Fakt ist, dass es Angriffe auf Hannover durch Herzog Heinrich I. von Braunschweig-Wolfenbüttel auf Hannover gab, nämlich 1486 und 1490. 1486 belagerte er die Stadt mit seinen Truppen, aber vergeblich. Vier Jahre später, am 24. November 1490, hoffte Heinrich I. mit einem Überraschungsangriff schnell zum Erfolg zu kommen, aber vergeblich.

Fakt ist: Der Döhrener Turm stammt aus dem 14. Jahrhundert. Er wurde als Teil der städtischen Verteidigungsanlage gebaut. 1486 wurde er niedergebrannt. Mehrere Verteidiger kamen ums Leben. Wie viele es waren, ist unbekannt. Schon zwei Jahre später wurde ein neuer  Döhrener Turm errichtet, an exakt der gleichen Stelle wie der alte. Noch gegen Mitte des 17. Jahrhunderts hielt ein Wächter im Turm die Wacht.

Dass es einen Angriff auf den Döhrener Turm wirklich gegeben hat und dass er angegriffen und abgefackelt wurde, das ist alles erwiesen. Dass mehrere Verteidiger ums Leben kamen, das ist ebenfalls historische Tatsache. Wie aber entstand die Heldengeschichte von den sieben Männern im Turm?

Fakt ist, dass Wilhelm Blumenhagen um das Jahr 1820, also rund vierhundert Jahre nach den angeblichen Geschehnissen, eine Erzählung verfasste: »Hannovers Spartaner«. Sehr ausführlich schildert der Arzt und Schriftsteller Blumenhagen, wie sieben Männer von der Landwehr den Döhrener Turm verteidigt haben. Sie sollen der Übermacht getrotzt haben und umgekommen sein. Sie wurden, nach Blumenhagen »zu Tode geschmaucht«.

Drastisch schilderte der angeblich Wiedergeborene seine Eindrücke von damals: das Gejohle und hämische Gelächter der Belagerer, das Aussehen seiner sechs Mitkämpfer, ihre Flüche und Gebete, die Glut der Feuer um den Turm, den in den Turm eindringenden Rauch und das Leiden und Sterben der sieben Verteidiger. Aber hat mir der junge Mann wirklich und wahrheitsgemäß geschildert, was er in einem früheren Leben erlebt hat?

Foto 4

 Als weiterer Beleg für Blumenhagens Überlieferung wird der sogenannte »Siebenmännerstein« angeführt. In der unteren Hälfte dieses »steinernen Dokuments« sehen wir – präzise in den Stein gemeißelt – sieben kniende Männer. Diese Sieben beten offensichtlich. Eine Inschrift kann entziffert werden: »Ihr Reichen und Armen, lasst euch diesen Tod erbarmen. 1480«. Aber ist damit tatsächlich der Tod der sieben Verteidiger gemeint. Wohl nicht. Die Angriffe auf Hannover fanden Jahre nach 1480 statt.


Als sicherer Gegenbeweis freilich kann die falsche Jahreszahl – 1480 – nicht angesehen werden. Es ist denkbar, dass sich der Steinmetz lediglich geirrt hat. Beweisen lässt sich das »Wiedergeburtserlebnis« meines Gewährsmanns allerdings nicht. Hat er die ganze Geschichte erfunden? Oder hat er in seiner Kindheit einmal die Sage von den sieben Männern gehört und erinnerte sich lediglich an das Erzählte? Glaubte er wirklich, das Grauen erlebt zu haben?

Was mit »dese dot« gemeint war, macht der »Siebenmännerstein« deutlich, ohne dass ein Text etwas erklären müsste. In der oberen Hälfte steht nämlich ein Kreuz. Mit »diesem Tod« ist also doch wohl Jesu Tod am Kreuz gemeint. Rechts und links vom Kreuz stehen zwei Gestalten, bei denen es sich um Jesu Mutter Maria und Maria Magdalena handeln könnte. Die sieben knienden Männer jedenfalls blicken zum Gekreuzigten. Es liegt also die Vermutung nahe, dass das steinerne Denkmal mit dem Heldentod der sieben Männer im Döhrener Turm nichts zu tun hat.

Zwischen der Kreuzigungsszene und den sieben Betenden hat der unbekannte Steinmetz das Emblem der Stadt Hannover verewigt, ein Kleeblatt.

Unbekannt ist, wann der Stein gefertigt wurde und wo er ursprünglich stand. Einst stand eine Marienkapelle vor dem Aegidientor zu Hannover. Als die Stadtmauer von Hannover massiv erweitert wurde, brach man die Kapelle ab, rettete aber den Siebenmännerstein und schaffte ihn in die Stadt. Schließlich gelangte er an die Außenmauer der Ägidienkirche. Das Original allerdings befindet sich heute im »Historischen Museum Hannover«. An der Kirche wurde eine Kopie angebracht.

Hannover mag nicht unbedingt eine »spannende« Stadt sein, hat aber auch sehr Interessantes zu bieten: den Döhrener Turm, die Ruine der Aegidienkirche und die Marktkirche, um drei lohnende Ziele zu nennen. Es lohnt sich in der mysteriösen Ruine der Aegidienkirche zu verweilen und den herrlichen Altar der Marktkirche zu studieren.

Foto 5: Die Ruine der Aegidienkirche

Fotos

Foto 1: Der Döhrener Turm/ creative commons Magnus Manske
Foto 2: Idyll mit Turm/ 1800 (etwa) entstanden, gemeinfrei/ Archiv Langbein
Foto 3: Ein alter Turm hält die Stellung.../ 1820 (etwa) entstanden gemeinfrei/
     Archiv Langbein
Foto 4: Siebenmännerstein/ wiki dpublic domain Magnus Manske

Foto 5: Die Ruine der Aegidienkriche. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 6: Mauerwerk der Aegidienkirche. Foto Walter-Jörg Langbein

Foto 6: Mauerwerk der Aegidienruine
Literatur:

Blumenhagen, Wilhelm: »Hannovers Spartaner/ Eine geschichtliche Erzählung«, Hannover 1926

Zankl, Franz Rudolf: »Der Sieben-Männer-Stein als Museumsstück«, erschienen in der Zeitschrift   »Heimatland/ Zeitschrift für Heimatschutz, Naturkunde, Kulturpflege« Heimatbund Niedersachsen, Jahrgang 1986, S. 114-116

Zur Klarstellung: Ich halte die »Wiedergeburstgeschichte« für kurios. Sie ist, ob glaubhaft oder nicht, als Einleitung der heutigen Blogfolge geeignet. Ich habe den Eindruck, dass der vermeintlich Wiedergeborene selbst an seine Geschichte geglaubt hat. Ich selbst bin eher skeptisch.

259 »Zwei Kirchen und die Hölle des Krieges«
Teil 259 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                       
erscheint am 04.01.2015


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3 Kommentare:

  1. Den Döhrener Turm kenne ich seit meiner Kindheit. Denn im Stadtteil Döhren bin ich aufgewachsen. Interessante Geschichte!

    Beste Grüße
    Peter Hoeft

    AntwortenLöschen
  2. Danke für das Lob! Vielleicht finden wir eine Gelegenheit, gemeinsam den Turm "zu besichtigen"?

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Das wäre super! Wenn es denn die Möglichkeit gibt.

      Löschen

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