Sonntag, 4. Januar 2015

259 »Zwei Kirchen und die Hölle des Krieges«

Teil 259 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein


Foto 1: Palmblätter in einer Bibliothek. Foto W-J.Langbein

Im November 1995 bereiste ich Indien, auch in Sachen Palmblattbibliotheken. In Jahrtausende alten Texten wird angeblich genau beschrieben, wer im Verlauf der Geschichte die Bibliotheken besuchen würde. Alle diese Menschen würden erfahren, was sie in vergangenen Leben durchgemacht haben, was auf sie in künftigen Leben zukommen wird und wann sie ins Nirwana eingehen dürfen.
 
Foto 2: C. Poosamuthu.
November 1995 besuchte ich mit einer kleinen Reisegruppe die berühmt-berüchtigte Palmblattbibliothek von Poosa Muthu in Vaithisvarankoil (Chidambaram). Ich war, offen gesagt, mehr als enttäuscht… In meinen Augen galt das Interesse von Poosa Muthu in erster Linie den Devisen von uns Touristen aus fernen Landen. Andere Teilnehmer wiederum waren sehr erstaunt über die korrekten Angaben über ihr Leben, was alles angeblich schon vor Jahrtausenden auf Palmblättern verewigt worden sein soll.

Mit Professor  Dr. Kumar Kanjilal, einem der führenden Sanskrit-Gelehrten Indiens, unterhielt ich mich über Indiens Palmblatt-Bibliotheken. Der Gelehrte wies mich auf das zyklische Denken altindischer Wissenschaftler und Theologen hin. »Für uns Westler gibt es einen Anfang und ein Ende. Die Zeitverläuft linear. Für die alten Inder wiederholt sich die Geschichte in Zyklen. Zeit-Epochen wiederholen sich immer und immer wieder. Deshalb hat man immer wieder den Ablauf der geschichtlichen Ereignisse schriftlich fixiert, weil man erwartet hat, dass sich die Geschichte immer wieder wiederholt. Nach diesem Denken weiß man, was sich in Zukunft ereignen wird, wenn man die Vergangenheit kennt.« Von zyklischen Wiederholungen ging offenbar auch der Seher Nostradamus aus.

Die Weltgeschichte kennt ein sich immer wieder ereignendes Geschehen: den Krieg. Wirklich anhaltenden Frieden scheint es nicht zu geben. Unzählige Millionen von Menschen wurden Opfer großer Kriege. Trotz aller Not, in der viele Menschen auch im Wohlstandsland Deutschland leben, haben wir doch geradezu paradiesische Zustände in unserer Heimat: Es herrscht seit 1945 Frieden. Da vergessen viele das Grauen des Krieges. Ein Mahnmal, das uns an die Hölle des Krieges erinnern soll, steht in Hannover, nur wenige Gehminuten von der Marktkirche entfernt. Es ist die traurige Ruine eines uralten Sakralbaus.

Foto 3: Die Aegidienkirche im 19. Jahrhundert.
Vor elf Jahrhunderten wohnte eine kleine Schar Menschen im Dörfchen Tigislege mit einer wohl recht ärmlichen Kapelle. 1163 musste das winzige Gotteshaus einer imposanten, dreischiffigen romanischen Kirche weichen. Und anno 1347 holte man aus dem nahe gelegenen Deister gewaltige Mengen Sandsteins und erbaute eine wiederum dreischiffige gotische Hallenkirche.

Das Dorf Tigislege war nicht mehr zu erkennen. Langsam entwickelte sich die Stadt Hannover. Die Hallenkirche überdauerte die Jahrhunderte, wenn sich ihr Erscheinungsbild auch wandelte. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts erhielt der Kirchturm eine Barockfassade. 1826 bis 1828 wurde das Innere des Gotteshauses umgestaltet. Eiserne Säulen kamen zum Einsatz, von denen heute keine Spur mehr erhalten ist. Auch die Baumaßnahmen des Jahres 1886 im Inneren der Kirche sind wieder ausgelöscht worden. Wann und wie?

Foto 4: Die Aegidienkirche heute.
Im Jahre 1943 wurde die Aegidienkirche bei Luftangriffen auf Hannover weitestgehend durch Bomben zerstört. Bei den massiven Bombenabwürfen ergänzten sich die »Royal Airforce« und die »United States Army Air Forces«, zynisch formuliert, perfekt. 900 000 Brandbomben und 50 000 Phosphorbomben sollten offensichtlich Hannover weitestgehend von der Erdoberfläche löschen. Längst waren nicht mehr nur militärische Ziele, von denen es in Hannover viele gab, in den Fokus der Bombardements gerückt. Am 14. Februar 1942 hatte das britische Luftfahrtministerium die berühmt-berüchtigte »Aera Bombing Directive« erteilt, also den Befehl, weitflächig und nicht mehr gezielt zu zerstören. Neben Industrieanlagen wurden große Teile der Wohnhäuser ausgelöscht. Nur 5% blieben unbeschädigt. Tausende und Abertausende Tote wurden Opfer des Krieges.


Foto 5: Die »Friedensglocke«
In der schrecklichen Nacht vom 9. Oktober 1943 wurden fast alle Kirchen im einstigen Zentrum Hannovers stark beschädigt oder vollkommen zerstört. Von der stolzen Aegidien-Kirche blieben nur die rohen Umfassungsmauern stehen. Der Turm wurde »geköpft« und brannte vollständig aus.

Nach dem Krieg galt es, wieder neuen Wohnraum für die Menschen zu schaffen, deren Häuser zerstört oder unbewohnbar waren. Die Ruine der Aegidien-Kirche blieb stehen und wurde ein Mahnmal für die Opfer von Kriegen und Gewalt. So erinnert die Aegidienkirche auch heute noch an die Hölle des Krieges. Auch die Marktkirche wurde bei Bombenangriffen weitestgehend zerstört. Schon im Juli 1943 war das Gotteshaus Ziel von Fliegerangriffen.

Offenbar peilten Engländer und Amerikaner die altehrwürdige Kirche immer wieder an. Im Oktober fielen wieder Bomben, die Kirche brannte vollkommen aus, es standen nur noch Außenmauern und Säulen.. und der Dachstuhl blieb weitestgehend erhalten. Im Gegensatz zur Aegidien-Kirche wurde die »Marktkirche St. Georgii et Jacobi« wieder aufgebaut.

Professor  Dr. Kumar Kanjilal, das ergab sich aus unseren Gesprächen, glaubt nicht, dass sich Geschichte zwangsläufig wiederholt. »Man darf nur das Grauen der Kriege nicht vergessen, wenn man den Frieden bewahren möchte.« So eine Erinnerung an den Krieg soll die Ruine der Aegidienkirche sein. 1985 wurde im Turmeingang eine »Friedensglocke« aufgehängt, ein Geschenk der Stadt Hiroshima. Sie wird alljährlich beim Gedenkgottesdienst für die Opfer des Atombombenabwurfs am 6. August angeschlagen, so wie die »Zwillingsglocke« in Hiroshima.

Marktkirche und Aegidienkirche sind wirklich einen Besuch wert, man sollte sich aber ausreichend Zeit nehmen. In Hast und Eile sollte man das alte Gemäuer nicht aufsuchen. Die Ruine der Aegidienkirche ist schwer zu beschreiben. Sie erinnert mich an eine Wunde in einer modernen Stadt, die nicht ausheilen darf, damit nicht neue Wunden gerissen werden, nirgendwo auf dieser Welt.

Foto 6: Die Aegidien-Ruine, Innenansicht, Blick Richtung Turm

Mich beschleicht in den hohen Mauern ein beklemmendes, nicht in Worte zu fassendes Gefühl. Hoch ragen Mauern und Turm in den Himmel, 1943 rußgeschwärzte  Steine mahnen stumm. Es ist eine beredte Sprache, die ohne Worte auskommt. Rund um die Ruine wurden längst alle Spuren des Zweiten Weltkriegs beseitigt, die Aegidienkirche aber erinnert in beeindruckender Weise an das Grauen des Krieges und lässt uns den Frieden schätzen. Man bleibt nachdenklich, wenn man das verstümmelte Gemäuer verlässt und in das Getümmel einer Stadt des Jahres 2015 zurückkehrt…. in eine Zeit, die immer oberflächlicher und kälter zu werden droht.

Foto 7: Die Aegidien-Runine, Blick Richtung Altar.

Der amerikanischen Philosoph, Schriftsteller und Literaturkritiker George Santayana (1863-1952) formulierte zutreffend:  »Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt/verurteilt, sie zu wiederholen!« Hoffen wir, dass das Mahnmal der Aegidien-Kirche dazu beiträgt, dass nicht vergessen wird. Ich bin da allerdings eher skeptisch. Es gibt weltweit unzählige Mahnmale, die an ganz fürchterliche Gemetzel erinnern! Was bewirken sie? Nichts! Denken wir nur an die Pyramiden und Tempel in Zentral- und Südamerika.

Foto 8: Säulen von Chichen Itza. Denkmal einer ausgelöschten Kultur

Die stolzen Überreste uralter Kulturen sind doch Denkmäler der besonderen Art. Sie erinnern an die Baukünste alter Völker, deren Ruinen bis heute erhalten sind. Die Urheber dieser bewundernswerten Stätten wurden vor Jahrhunderten von unseren ach so zivilisierten Vorfahren ausgeraubt, gepeinigt und ermordet. Unsere Vorfahren haben ganze Länder, ja Kontinente erobert und die Einwohner mehr oder minder gezielt dezimiert, ganze Völker ausgerottet. So gesehen sind Tempel, Pyramiden und sonstige Monumente Zentral- und Südamerikas Mahnmale, die an schlimmste Gemetzel vor rund einem halben Jahrtausend erinnern sollten. Wirklich geändert haben wir Menschen uns seither nicht wirklich…

Foto 9: Mauerstück der Aegidien-Ruine.
Wichtige Hinweise
zu den Fotos..

Fotos 1 und 2: Palmblattbibliothek,
Fotos Walter-Jörg Langbein

Foto 3: Außenansicht 1875 gemeinfrei nifoto

Foto 4: Außenansicht, wikicommons Chris 73

Foto 5: Friedensglocke aus Hiroshima, wiki
commons Magnus Manske

Fotos 6: Aegidien-Ruine, Innenansicht,
Blick Richtung Turm, Foto W-J.Langbein

Foto 7: Aegidien-Ruine, Innenansicht, Blick
vom Turm aus Richtung Altar,
Foto Walter-Jörg Langbein

Foto 8: Säulen von Chichen Itza, Mexico,
Foto 10: Weiteres Mauerstück..
Foto Walter-Jörg Langbein

Foto 9:  Innenansicht Aegidien-Ruine,
Mauerstück. Foto Walter-Jörg Langbein

Foto 10: Innenansicht Aegidien-Ruine,
weiteres Mauerstück, Foto Walter-Jörg Langbein

Mit Ausnahme von Fotos 3, 4 und 5 stammen alle
Fotos vom Verfasser. Copyright für die Fotos liegt
dann beim Verfasser.


260 »Honig für die Götter«,
Teil 260 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                       
erscheint am 11.01.2015

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