Sonntag, 17. März 2019

478 »In der Menschenfresserhöhle«

Teil 478 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein



Foto 1: Mysterium Osterinsel. Collage
»An vielen Orten ist es möglich, im Lichte großer Monumente die Vergangenheit zu rekonstruieren.«, schrieb die große Pionierin der Osterinselforschung Katherine Maria Routledge (*1866; †1935) in ihrem Buch »The Mystery of  Easter Island« (1). Ihr Buch über das Mysterium der Osterinsel erschien 1919. Es wurde rasch zum Bestseller. Katherine Maria Routledge, britische Ethnologin und Historikerin, ließ als erste archäologische Ausgrabungen durchführen und mündlich überlieferte Sagen der Osterinsulaner aufzeichnen.

Was Katherine Routledge offenbar erkannte: Auf der Osterinsel gibt es mehr zu erahnen als zu sehen, mehr zu erspüren als man fotografieren kann. Oft weiß die nachdenkliche Fantasie mehr als die strenge Wissenschaft. Natürlich ist solide Wissenschaft unglaublich wichtig. Ihr verdanken wir so viele Erkenntnisse über die mysteriöse Osterinsel und ihre Geheimnisse. Es gibt aber auch auf dem Südseeeiland mehr als man messen und wiegen kann.

Heute kann die Osterinsel von Deutschland aus in weniger als 24 Stunden erreichen. Die rund 14.000 Flugkilometer absolviert man im Direktflug mit Lan Chile Airlines via Santiago de Chile (je nach Startflughafen) in 17 bis 18 Stunden. Vor einem Jahrhundert war eine Reise zur Osterinsel ein gefährliches Abenteuer. Katherine Maria Routledge (*1866; †1935) und ihr Ehemann William Scoresby Routledge (*1859; †1939) hatten es  viel schwerer als heutige Reisende. Für ihre Expedition zur einsamsten Insel der Welt arbeiteten sie bis ins Detail die Baupläne für ihr Schiff aus. Erfahrene Schiffbauer setzten alle Wünsche der Eheleute millimetergenau um. Es entstand ein 27 Meter langer Schoner. Die Routledges ließen ihn auf den Namen »Mana« (zu Deutsch: magische Kraft) taufen und stachen am 25. März 1913 in See und erreichten die Osterinsel nach einer strapaziösen echten Weltreise am 29. März 1914. Am 18. August 1915 traten die begeisterten Forscher die Rückreise an. Über Pitcairn und San Francisco ging es wieder zurück in die Heimat. Katherine Routledge hat nicht nur gegraben und analysiert, sie hat nicht nur geforscht, sie hat auch gefühlt. So schreibt sie (2):

Foto 2: Zeichnung Grete C Söcker
»Auf der Osterinsel ist die Vergangenheit gegenwärtig, es ist unmöglich, ihr zu entkommen. Die Bewohner von heute sind weniger wirklich als die Menschen die längst gegangen sind. Die Schatten er dahingegangenen Erbauer besitzen heute immer noch das Land.«

So manches Mal habe ich es vor Ort erlebt, dass »Besucher« der Osterinsel in Bild und Film beweisen wollen, dass sie tatsächlich die Statuen der Osterinsel besucht haben. Es war ihnen nicht so wichtig vor Ort zu sein. Wichtiger war es ihnen jenen, die zuhause geblieben waren, zu beweisen, dass sie tatsächlich vor Ort echte Osterinselriesen gesehen hatten.

Im Sauseschritt wird möglichst viel in möglichst kurzer Zeit absolviert. Der Steinbruch, der die Statuen »gebar«, bis zum Hals im Erdreich »versunkene« Statuen, Statuen auf Podesten, das Zeremonialdorf an der Steilen Klippe und Felsgravuren, und wenn die Zeit noch reicht, auch der Steinbruch der roten »Steinhüte« und vielleicht gar das örtliche Museum … All‘ das wird pflichtschuldigst abgehakt und schon ist das Osterinselprogramm erledigt. Am Hotelpool wird dann noch ein Packen Ansichtskarten abgearbeitet und schon freut man sich auf den Rückflug nach Santiago de Chile. Man hat ja alles gesehen. Hat man?

Wer heute den einstigen Steinbruch für die Kolossalfiguren besucht und einfach nur dort ist, der fühlt sich in eine weit zurückliegende Zeit versetzt. Es ist, als hätten die Steinmetze gerade eben ihre Arbeit unterbrochen, ihre Werkzeuge fallen gelassen. Nur: Wer hat sie weggeräumt? Da warten fast fertige Kolosse darauf, endlich vollendet zu werden. Sie liegen wie eigenartig geformte Schiffe im Steinbruch, wie mit einem schmalen steinernen Schiffsbug noch noch mit dem Fels verwachsen. Kundige Künstler haben sie fast vollständig aus dem Tuff des Vulkans geschlagen. Es sieht so aus, als habe man sie mit spielerischer Leichtigkeit aus dem Leib des Vulkans geschabt, nicht gemeißelt.

Foto 3: Autor Langbein im Steinbruch

Hat man erst die Silhouette einer Figur in den Tuff geritzt, sozusagen vorgezeichnet? Hat man dann zunächst oberhalb der auf diese Weise nach und nach entstehenden Figur den Stein herausgeschnitten, dann die Rückseite vom Fels getrennt und schließlich unter der Figur den Stein heraus gemeißelt? Nun scheint sie fast zu schweben. Sie ist nur noch mit einem schmalen »Schiffsbug« aus Stein mit dem Vulkangestein verbunden. Man muss die Figur »nur noch« am Rumpf abschlagen, schon ist sie fertig.

Bleiben wir noch einen Moment beim gewaltigen Steinbruch im »Ranu Raraku«-Krater. Katherine Routledge hat recht! Bei meinen Aufenthalten im Steinbruch fühlte ich mich von den längst verschwundenen Inselbewohnern geduldet. Hier scheint die Zeit seit Ewigkeiten stehen geblieben zu sein. War nicht eben noch das Schlagen und Hämmern der Steinmetze zu hören. Haben die Baumeister nicht eben auf ein Zeichen hin die Arbeit unterbrochen? Sitzen sie jetzt irgendwo und nehmen eine kräftige Mahlzeit zu sich? Essen sie schweigend oder beim Gesang uralter Lieder, die die Sagen von Make Make, Priester Hau Maka und König Hotu Matua erzählen?

Foto 4: Ein Riese und zwei »Zwerge«

Nicht nur die Riesenhaftigkeit der Steinkolosse lässt staunen, auch ihre Vielzahl verblüfft. In Zahlen: In unmittelbarer Nähe der »Statuenfabrik« warten seit Jahrhunderten 395 steinerne Kolosse, in allen Entwicklungsstadien. Da gibt es eben angefangene Figuren, andere sind fast fertig und wieder andere sind vollendet. Es sieht so aus, als habe hier ein kleines Heer an Handwerkern und Künstlern in Serie die rätselhaften Steindenkmäler fabriziert. Die fertigen Riesen haben alle den gleichen, leicht arrogant-blasierten Gesichtsausdruck. Sie scheinen sich köstlich darüber zu amüsieren, dass sie uns immer noch rätselhaft erscheinen.

Weite Flächen der Osterinsel sind förmlich übersät mit schwarzen Brocken. Viele sind nur faustgroß, andere ähneln vom Format Fußbällen und wieder andere sind wesentlich größer. Es handelt sich um Lavabrocken, die von Vulkanen wie Rano Kao (im Südwesten gelegen), Maunga Puakatiki (im Osten) und Maunga Terevaka (im Norden) ausgespuckt wurden. Die Osterinsel ist nicht ein kleines Stück Land mit Vulkanen. Sie ist in ihrer Gesamtheit vulkanisch. Sie verdankt ihre Existenz unterseeischen Vulkanausbrüchen in etwa dreitausend Metern Tiefe.

Foto 5: In der Menschenfresserhöhle
Als Kind habe ich begeistert Jule Vernes‘ »Die Reise zum Mittelpunkt der Erde« gelesen. Wie sehr ich doch Vernes Hauptfigur Otto Lidenbrock beneidete. Wie der Hamburger Professor wollte ich auch in die unterirdischen Abgründe der Erde steigen und gewaltige Tunnelsystem erforschen. Vernes Roman erschien erstmals anno 1864 unter dem Titel » Voyage au centre de la terre« in Frankreich, eine erste Übersetzung ins Deutsche folgte 1873.

Bei meiner ersten Osterinselreise erlebte ich ein wenig Höhlenkriecherei kennen, wenngleich es natürlich auf der Osterinsel keinen Einstieg in die Unterwelt gibt. Eine »Reise zum Mittelpunkt der Erde« ist schon gar nicht möglich. Und die bei Verne tief unter der Erdoberfläche hausenden Saurier habe ich natürlich gar nicht erwartet.

Einige der von mir besuchten Osterinsel-Höhlen machten ein schlangenartiges Kriechen erforderlich, andere wiederum waren recht geräumig, wie etwa die berüchtigte Menschenfresserhöhle. Die größeren unterirdischen Höhlen erinnerten mich noch am ehesten an Vernes‘ Roman. Da gab es seltsame Felsmalereien, zum Beispiel vom Fabelwesen aus dem Vogelmensch-Kult. Als ich allein vor Ort war, da legte ich mich auf den felsigen Boden der Menschenfresserhöhle und ließ das ganz besondere »Ambiente« auf mich wirken. An keiner anderen Stelle des mythenumrankten Eilands erschienen mir die vor vielen Jahrhunderten verstorbenen Erbauer der Osterinselkolosse so präsent wie hier.

Wie schrieb doch Katherine Routledge, ich zitiere erneut (2): »Auf der Osterinsel ist die Vergangenheit gegenwärtig, es ist unmöglich, ihr zu entkommen. Die Bewohner von heute sind weniger wirklich als die Menschen die längst gegangen sind. Die Schatten er dahingegangenen Erbauer besitzen heute immer noch das Land.« In der realen Welt von heute gibt es handfeste Streitigkeiten auf der Osterinsel: Die einen wollen sich ganz unabhängig vom »Mutterland« Chile machen.

Foto 6: In der Höhle der Kanibalen
Die anderen hoffen auf anwachsende Ströme von Touristen, die aufs Eiland kommen. Ihnen soll Folklore à la Weltausstellung geboten werden, in einem eigens für Touristen gebauten »Eingeborenendorf«. Die anderen bangen um die uralte Kultur, die dem Kommerz nicht geopfert werden dürfe. Sie fordern eine strikte Begrenzung der Zahl der Fremden, die auf die Insel kommen dürfen. Anstatt Geld mit kitschiger Pseudo-Folklore zu machen möge man sich der eigenen Wurzeln besinnen, die Rapa-Nui-Sprache und die alten Gesänge pflegen.

In der Menschenfresserhöhle war mir überhaupt nicht unheimlich. Es krochen ja auch keine Monsterwesen umher wie jene, die in einschlägigen Horrorfilmen wie »Descent« (3) Angst und Schrecken verbreiten. Die angenehme Temperatur, die irgendwie anheimelnde Stille, die Geborgenheit, all das ließ mich ein wenig verstehen, dass die Menschen vor Jahrtausenden in der »Unterwelt« der »Mutter Erde« huldigten. Bis heute wurde das Phänomen der weltweit angelegten unterirdischen »Welten« nicht wirklich als ein Ländergrenzen überschreitendes, weltweit auftretendes Rätsel studiert. Es gibt sie, diese uralten unterirdischen Anlagen:  von den Erdställen in unseren Gefilden (4) bis zu den unterirdischen Städten in der Commagene (Türkei) und den unterirdischen Tunneln unter den Tempelanlagen von Chavin de Huantar im Norden Perus.


Foto 7: Unterschrift Katherine Routledge


Fußnoten
(1) Routledge, Katherine: »The Mystery of  Easter Island«,
1919, Nachdruck Kempton 1998, Zitat Seite 165, Zeilen 5
und 6 von oben. Übersetzung aus dem Englischen:
Walter-Jörg Langbein.
(2) ebenda, Zeilen 6-9, Übersetzung aus dem Englischen:
Walter-Jörg Langbein.
(3) https://de.wikipedia.org/wiki/The_Descent_%E2%80%93_Abgrund_des_Grauens (Stand 25.01.2019)
(4) 1. Erdställe
Ahlborn, Dieter: »Geheimnisvolle Unterwelt/ Das Rätsel der Erdställe in  
Bayern«, Aying 2010
Kusch, Heinrich und Ingrid: »Tore zur Unterwelt/ Das Geheimnis der
unterirdischen Gänge aus uralter Zeit«, Graz 2009
Kusch, Heinrich und Ingrid: »Versiegelte Unterwelt/ Das Geheimnis der
Jahrtausende alten Gänge«, Graz 2014
2. Commagene
Demir, Ömer: »Kapadokien/ Wege der Geschichte«, Derinkuyu, 2. Auflage 1986
Demir, Ömer: »Cappadokien: Wiege der Geschichte«, erweiterte 3. Auflage, Ankara 1988
Lamec, Jeofrey: »Göreme«, Istanbul 2010
3. Chavin de Huantar
Burger, Richard L.: »Chavin and the origins of andean civilization«, London 1992
Fux, Peter (Hrsg.): »Chavín: Perus geheimnisvoller Anden-Tempel«,Zürich 2012
Miranda-Luizaga, Jorge: »Das Sonnentor/ Vom Überleben der archaischen Andenkultur«, München 1985

Foto 8: Expeditionsschiff »Mana« der Routledge-Expedition
Zu den Fotos
Foto 1: Mysterium Osterinsel. Ein Osterinselriese. Foto/Spigelung, Collage Walter-Jörg Langbein
Foto 2: Zeichnung Grete C Söcker
Foto 3: Autor Langbein im Steinbruch. Foto Ingeborg Diekmann
Foto 4: Ein Riese und zwei »Zwerge«. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 5: In der Menschenfresserhöhle. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 6: In der Höhle der Kannibalen. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 7: Unterschrift K. Routledge
Foto 8: Expeditionsschiff »Mana« der Routledge-Expedition zur Osterinsel. Foto Archiv Langbein




479 »Statuen, Sterne und Planeten«,
Teil 479 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 24. März 2019


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