»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
Foto 1: Der Tempel der Inschriften von Palenque. |
Ein Schrei irgendwo aus dem undefinierbaren grünen Dickicht lässt mich zusammenzucken. Für Augenblicke wird die kräftige Solostimme von einem kreischenden Chor begleitet. Angst und Wut, scheint mir, kommen zum Ausdruck. Dann verstummen sie wieder, die Brüllaffen von Palenque.
Es ist kein Regen mehr, der vom Himmel kommt. Es kommt mir so vor, als würde sich die Luft langsam in Wasser verwandeln. So gehe ich einige Schritte weiter, weg vom Tempel der Inschriften. Nur wenige Minuten später. Ich stehe unter mächtigen Bäumen, wieder erheben Brüllaffen protestierend ihre Stimmen. Dazu gesellt sich ein sehr viel unangenehmeres Geräusch. Es ist ein leise auf- und abschwellendes Surren, geradezu grell und spitz. Moskitos suchen offenbar Blutspender. Noch höre ich sie nur, noch umschwirren sie mich nicht wie ihre Artgenossinnen in heimischen Gefilden. So mache ich mich auf den Rückweg, bleibe nur noch kurz vor dem Tempel der Inschriften stehen. Morgen werde ich frühmorgens wiederkommen. Ich weiß, dass man von der Rückseite des Tempels fast bis auf die oberste Plattform gelangen kann. Man muss gar nicht die breite Treppe auf der Vorderseite benutzen. Der Kalkstein der Stufen ist weich und unzählige Touristen haben bereits ihre Spuren hinterlassen.
Foto 3: Unmittelbar von Urwald umgeben... |
Die Maya waren geradezu besessen von Astronomie und Astrologie. Astrologen und Astronomen waren vor elf Jahrhunderten in Palenque zuhause. Sie dominierten das Zeremonialzentrum, das sie »Chan Kah« nannten, zu Deutsch »Schlangenort«.
Für die Lacandonen war Palenque der »Nabel der Welt«. Priester, Astronomen und Astrologen wagten den Blick in eine Normalsterblichen verborgene Welt, in der Göttinnen und Göttern lebten. Es heißt, dass die Wissenden noch vor elf Jahrhunderten nicht nur präzise Berechnungen über den Lauf von Planeten und Sternen anstellten. Sie sollen sich Pilze einverleibt haben, die Halluzinationen auslösten. So glaubten sie, heißt es, Wirklichkeiten wahrzunehmen, die ihnen sonst verborgen blieben.
Die Lacandonen – sie nannten sich »wahre, echte Menschen« – lebten bis ins 20. Jahrhundert nach uralten Traditionen. Sie huldigten, allen missionarischen Versuchen zum Trotz, den alten Göttinnen und Göttern ihrer Vorfahren. Zu Beginn des dritten nachchristlichen Jahrtausends scheint es nur noch eine Frage von Jahren oder bestenfalls Jahrzehnten zu sein, bis die alte Kultur ausgestorben sein wird. Schuld daran sind die wenig segensreichen Kontakte mit unserer »zivilisierten Welt«. Heute gehen fast alle Kinder der letzten 700 (?) Lacandonen in staatliche Schulen, wo sie in spanischer Sprache unterrichtet werden. Ihnen wird die Historie der Sieger beigebracht, die eigene Kultur wird gering geschätzt. Als erstrebenswert gilt der Wohlstand der westlichen »Zivilisation«. In Aussicht steht ein Mehr an materiellem Lebensstandard und ein Weniger an wirklicher Kultur.
Foto 4 |
Nach offiziellen Angaben sprechen heute nur noch zwanzig Nachkommen der Lacandonen die Ursprache ihres Volkes. In Wirklichkeit dürften es aber deutlich mehr sein. Dessen ungeachtet ist unbestreitbar, dass die alte Kultur, die selbst die Gemetzel der mörderischen Spanier überdauerte, mittelfristig bis langfristig ausstirbt. Die Stammesmitglieder werden nicht mehr ermordet, sondern huldvoll in die »Zivilisation« aufgenommen, bis sie nicht mehr zu erkennen sind. 1996 starb der geistige Führer der Nord-Lacandonen Chan K’in Viejo im Alter von 104 Jahren. Der altehrwürdige Lehrmeister hatte bis zu seinem Tod versucht, die Kultur seines Volkes am Leben zu halten.
Der Regen verstärkt sich rapide. Es schüttet förmlich vom Himmel, als ich zum Hotel zurückeile. Da stoße ich dabei mit einer jungen Einheimischen zusammen. Der sintflutartige Regen hatte die lange Zigarre in ihrem Mund gelöscht. Bekleidet war sie ein langes, weißes Gewand. Vor der Brust trug sie ein metallenes, silbern glänzendes »Amulett«. Ich meine einen stilisierten Baum zu erkennen, an dem sich eine Schlange empor windet. Ich weiß: Das gerade geschnittene weiße Kleid aus Leinen ist Relikt aus alter Lacandonen-Tradition. Tabak-Rauchen war kein Qualmen als Genuss, sondern wurde einst als heiliger Akt zelebriert. Das Amulett (?) der attraktiven Lacadonin (?) lässt eine alte Symbolik vermutet: Der stilisierte, hoch gewachsene Baum könnte Wacah Chan sein, der Lebensbaum der Mayas. Mayas, aber auch Azteken, Mixteken und Olmeken kannten ihn. Er reichte von der »Unterwelt« bis in den »Himmel«.
In der Mythologie der Maya wird der Ceibabaum als Wacah Chan gesehen, als Weltenbaum, als Achse der Welt. Die Schlange am Wacah Chan als Amulett habe ich nirgendwo in der einschlägigen Literatur finden können. Ein katholischer Priester vor Ort interpretierte die kunstvolle Darstellung so: Die Schlange könnte für einen Verstorbenen (oder dessen Seele?) stehen, unterwegs von irdischen Gefilden in den Himmel, um dort zum Stern zu werden.
Der Mythos vom Weltenbaum schein so etwas wie ein kollektives Erbe der Menschheit zu sein, und das seit Jahrtausenden! Im heutigen Afghanistan huldigte man diesem Baum des Lebens bereits vor rund fünf Jahrtausenden. Im alten Mesopotamien, aber auch im Alten Indien erstreckte sich diese »Achse« von der Unterwelt bis in den Himmel der Göttinnen und Götter. In der heiligen Mythologie Babylons recht Baum Xixum seine Äste weit in den Himmel, während die starken Wurzeln fest in der Unterwelt verankert sind. Auch die nordische Mythologie kennt diesen »Baum« als Abbild des Kosmos, Yggdrasil genannt. Ich bin davon überzeugt, dass die Irminsul nichts anderes darstellt, als eben jene Verbindung zwischen Unterwelt und Himmel, zwischen Tod und Leben.
Was mich mehr als nur verblüfft hat, das war eine erstaunliche Entdeckung: Es gibt eine heidnische Irminsul vor einem der schönsten Gotteshäuser Europas, vor dem altehrwürdigen Dom zu Bremen!
Literatur
Foto 8 |
Weiterführende Werke, auch zur Vertiefung:
(2) Stuart, David und George: »Palenque/ Eternal City of the Maya«, London 2008
(3) Gockel, Wolfgang: »Die Geschichte einer Maya-Dynastie/ Entzifferung
klassischer Maya-Hieroglyphen am Beispiel der Inschriften von Palenque«,
Mainz 1988
(4) Kearsley, Graeme R.: »Pacal’s Portal to Paradise at Palenque/ The Iconography
of India at Palenque and Copan«, London 2002
Hotels in der Nähe der Ruinen von Palenque:
Piedra de Agua Palenque, El Colombre, Hotel Villas Kin Ha, Cabanas Kin Balam, Mayabell
Anmerkungen zu den Fotos
Foto 1: Der Tempel der Inschriften von Palenque. Foto Walter-Jörg Langbein
Fotos 2 und 3: Blick aus dem Urwald auf Ruinen von Palenque. Fotos Walter-Jörg Langbein
Foto 4: Fantasievolle Darstellung von Ygdassil. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Fotos 5a und 5b: Die berühmte Grabplatte von Palenque. Wurde ein Bild der Weltenachse eingearbeitet? Fotos Walter-Jörg Langbein
Foto 6: »Weltenbaum« auf sumerischem Rollsiegel. Foto Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 7: »Weltenbaum« Irminsul an den Externsteinen, geknickt. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 8: Die »Irminsul« vom Dom zu Bremen. Foto Walter-Jörg Langbein
265 »Von der Heiligen Taube zum Schlangenmonster«
Teil 265 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 15.02.2015
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