»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
Foto 1: Mittelalterliches Weltbild. Holzschnitt, um 1530. Partiell nachträglich koloriert. |
In unserer realen Welt gibt es Monstermauern aus massivem Stein, die seit Ewigkeiten dem Zahn der Zeit trotzen. In unseren Köpfen freilich gibt es eine Monstermauer, die mindestens genauso durabel ist wie jene aus Stein. Sie grenzt aus. Sie verhindert, dass wir in jene Bereiche der Realität vordringen, die es für einen »vernünftigen« Menschen gar nicht geben kann, weil es sie nach dem Zeitgeist des »rationalen Denkens nicht geben darf.
Eine Monstermauer, die es nur in unseren Köpfen gibt, kann sehr viel schwieriger zu überwinden sein als eine aus Stein. Der »vernünftige« Mensch redet sich gar ein, dass er diese Mauer weder einreißen, ja nicht einmal überwinden möchte.
Er ist davon überzeugt, in der Welt der Vernunft zu leben. Vernunft ist das oberste Gebot in dieser seiner »Wirklichkeit«. Auf der anderen Seite der Mauer in seinem Kopf herrscht das Chaos der Unvernunft in einer natürlich nur imaginären Welt, die es seiner festen Überzeugung nach gar nicht wirklich gibt. Theologieprofessor Dr. Hermann Gunkel unterscheidet zwischen Sage und Märchen. Er schreibt (1): »Im Unterschied von den Sagen ist für die Märchen eigenthümlich, daß sie nicht wie diese an bestimmten geschichtlichen Zeiten und Personen und im allgemeinen auch nicht an gegebenen Orten haften, sondern, soweit sie überhaupt Namen nennen, erdichtete Personen an erfundenen Orten auftreten lassen.«
Dr. Gunkel katalogisiert also, er etikettiert. Sagen bringt er in Verbindung mit »geschichtlichen Zeiten und Orten«, in Märchen agieren nach seiner Definition fiktive Personen an fiktiven Orten. Aber wie wissenschaftlich ist das? Versucht er wissenschaftlich zu ergründen, welche altehrwürdigen Texte Realität wiederspiegeln und welche nicht? Oder glaubt er zu wissen, was wahr ist und was nicht, um dann nach eigenem Gutdünken zu »Märchen« oder »Sage« zu erklären?
Foto 2: Der Heilige Brendan. Variationen eines Porträts. Farblich stark verändert (Collage). |
Prof. Gunkel meint, ein besonderes Kennzeichen des Märchens erkannt zu haben (2): »Besonders bezeichnend ist für das Märchen seine eigentümliche phantastische Art.« Fällt damit die Überlieferung vom Mönch Brendanus, der mit mehreren Brüdern in einem winzigen Boot den Atlantik besiegte in die Kategorie des Märchens? Neun Jahre soll er unterwegs gewesen sein. Märchenhaft mutet so manche seiner angeblichen Entdeckungen an. So soll er auf fernem Eiland auf eine mysteriöse Quelle gestoßen sein, die tagelangen Schlaf schenkte (3):
»Zu Beginn der Fastenzeit erblicken sie eine Insel, auf der sie eine klare Quelle finden. Brandan warnt seine Mitbrüder, nicht zu viel von dem Wasser der Quelle zutrinken, was einige der Mönche fehldeuten und dadurch verschieden lang in Schlaf verfallen. Nachdem sie sich noch mit dem Nötigsten für die Weiterfahrt versorgt haben, fliehen sie von dort.«
Für die weitere Reise nahmen sie einen Vorrat von dem einschläfernden Quellwasser mit. Freilich tranken sie nur etwas davon, um den schlimmsten Durst zu löschen. Schließlich wollten sie ja nicht auf ihrer gefährlichen Expedition auf hoher See wie narkotisiert das Bewusstsein verlieren. Diese Episode klingt reichlich märchenhaft, kann aber sehr wohl auf eine wirkliche Begebenheit während der Atlantikfahrt der Mönche hinweisen.
Foto 3: St. Brendanus und seine Glaubensbrüder im Bötchen (Buchcover) |
Auf der Azoren Insel Sao Miguel gibt es nämlich die heißen »Quellen von Furnas« (4). Sie speisen den »Ribeira Quente«, den »warmen Fluss«. Das Wasser aus dieser Quelle soll tatsächlich besinnungslos machen. Hat also der Heilige Brendanus auf seiner großen Seereise auch die Azoren besucht?
Tatsächlich haben die Azoren eine sehr alte Geschichte aufzuweisen. Seefahrer, die auf dem Rückweg von Amerika waren, legten gern auf den Azoren eine Pause ein und nahmen Trinkwasser an Bord.
1749 wurden auf der Azoren-Insel Corvo Münzen aus dem 4. oder 3. Jahrhundert v. Chr. entdeckt, die darauf hinweisen, dass das Eiland bereits in vorchristlicher Zeit von den Phöniziern besucht wurden. Demnach gab es lange vor Kolumbus und vor St. Brendanus transatlantische Kontakte. Offensichtlich wurde Amerika lange vor Kolumbus entdeckt. Und offensichtlich können noch so märchenhaft anmutende Texte Tatsachen beinhalten. Das ist es, was die alten Überlieferungen so spannend macht: Sie öffnen uns Fenster in eine Vergangenheit, die fantastischer gewesen sein kann als unsere Fantasien.
Foto 4: Der Wal spuckt Jona wieder aus. Bibelillustration, 12. Jahrhundert |
Ich bin, offen gesagt, skeptisch ob der Vielzahl von biblischen Texten, die Dr. Hermann Gunkel in der großen Schublade »Märchen« ablegt. Er beruft sich in seinem Werk »Das Märchen im Alten Testament« auf konkrete Bibelstellen, er interpretiert aber manchmal recht frei, um biblische Texte als Märchen definieren zu können.
Man muss in Gunkels Märchenbuch hin und her blättern, um herauszufinden, auf welche Bibelpassagen er sich bezieht.
Man muss in Gunkels Märchenbuch hin und her blättern, um herauszufinden, auf welche Bibelpassagen er sich bezieht.
Die »Glieder des Körpers«, die nach Dr. Gunkel miteinander reden, tauchen freilich gar nicht in einem Märchen auf, sondern in einer der vielen Gleichnisse, die Jesus erzählt haben soll (6). Dämonen sind für Dr. Gunkel offensichtlich Kreaturen aus der Märchenwelt. Im von Dr. Gunkel angeführten Beispiel (7) kämpft allerdings kein Dämon mit einem Menschen, sondern Jakob mit Gott. Wo Dr. Gunkel Dämonen ausmacht, die menschlichen Frauen in brünstiger Liebe nachstellen, da geht es im biblischen Text um die Beschneidung von Knaben (8).
In der Tat: Die biblische Geschichte vom Menschen, der von einem Fisch verschluckt und wieder ausgespuckt wird, klingt sehr märchenhaft (9). Um die mysteriöse Episode noch märchenhafter erscheinen zu lassen, anonymisiert Dr. Gunkel den vom Fisch verschlungenen Jona zu »einem Menschen«. Auch Elia, der auf feurigem Wagen in den Himmel entführt wird (10), wird von Dr. Gunkel in seiner Auflistung anonymisiert: »Ein anderer schwebt auf feurigen Wagen zum Himmel empor.« Diese Anonymität ist für Dr. Gunkel wesentliches Merkmal des Märchens. Der anonyme Hirtenknabe, der es zum König bringt, wird freilich im biblischen Text namentlich genannt (11): Es ist Saul!
In unseren Märchen werden tatsächlich manchmal einfache Mädchen Königin, etwa »Aschenputtel«. Bei dem biblischen »Mädchen von unbekannter Geburt«, das »Königin« wird, könnte es sich in der Tat um ein schönes biblisches Märchen handeln. Freilich geht es im biblischen Text nicht um ein »Mädchen« aus Fleisch und Blut, sondern um Jerusalem (12).
Foto 5: »Der Tag an dem die Erde stillstand I und II« |
Anmerkung und Fußnoten
Anmerkung
Zur Kapitelüberschrift: Ich habe mich von einem SF-Film aus dem Jahr 1951 inspirieren lassen. Der Film, in Schwarzweiß gedreht, gilt heute als Klassiker seines Genres: »Der Tag, an dem die Erde stillstand«. (Originaltitel: »The Day the Earth Stood Still«). 2008/ 2011 folgte eine Fortsetzung: »Der Tag an dem die Erde stillstand 2 – Angriff der Roboter« (Originaltitel: »The Day the Earth Stood Still 2)«. Der 2. Teil ist stark präastronautisch beeinflusst. Die »Götter« schicken 666 riesige Kampfroboter, »Megalithen« genannt. Die Zahl 666 kennen wir aus der Bibel, aus der Apokalypse des Johannes (16): »Hier ist Weisheit! Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tieres; denn es ist die Zahl eines Menschen, und seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig.«
(1) Gunkel, Hermann: »Das Märchen im Alten Testament«, Tübingen 1921, Seite 9, 15.-20. Zeile von oben. (Die Rechtschreibung wurde unverändert übernommen und nicht nach der Rechtschreibreform »modernisiert«.)
(2) Ebenda, Seite 157, 1. Zeile von unten und Seite 158, 1. Zeile von oben
(3) Holtzhauer, Sebastian: »Die Fahrt eines Heiligen durch Zeit und Raum«, Osnabrück 2019, Seite 21, 13.-17. Zeile von oben
(4) Bussmann, Michael: »Reiseführer Azoren«,. 6. Auflage, Erlangen 2016
Martin, Roman: »Azoren – die 77 schönsten Küsten- und Bergwanderungen«, 5. neu bearbeitete Auflage, München 2017
(5) Gunkel, Hermann: »Das Märchen im Alten Testament«, Tübingen 1921, Seite 158, 5.-17. Zeile von oben. (Die Rechtschreibung wurde unverändert übernommen und nicht nach der Rechtschreibreform »modernisiert«.)
(6) 1. Korinther Kapitel 12, Verse 14-26
(7) 1. Mose 32, Verse 23-32
(8) 2. Mose Kapitel 4, Verse 24-26
(9) Jona Kapitel 1 und 2
(10) 2. Könige 2, Vers 11
(11) 1. Samuel Kapitel 10, Vers (Saul wird gesalbt)
(12) Hesekiel 16, Vers 1-14
(13) Josua Kapitel 10, Verse 12 und 13
(14) 2. Mose Kapitel 14, Vers 16
(15) 1. Könige 17, Verse 17-23
(16) Apokalypse des Johannes Kapitel 13, Vers 18
Zu den Fotos
Foto 1: Mittelalterliches Weltbild. Holzschnitt, um 1530. Partiell nachträglich koloriert.
Foto 2: Der Heilige Brendan. Variationen eines Porträts (Collage).
Foto 3: St. Brendanus und seine Glaubensbrüder im Bötchen (Buchcover)
Foto 4: Der Wal spuckt Jona wieder aus. Bibelillustration, 12. Jahrhundert.
Foto 5: »Der Tag an dem die Erde stillstand I und II«
544. »Tore in andere Welten«,
Teil 544 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 21. Juni 2020
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