Ursula Prem |
Wenn existenzielles Leiden lange zurückliegt, man es vielleicht sogar nicht aus eigener Anschauung, sondern bloß aus Erzählungen der Eltern, Großeltern oder gar nur aus familieninternen Reportagen aus dem Leben der Ahnen kennt, dann sollte man der eigenen Wahrnehmung misstrauen. Nicht grundsätzlich, aber doch dann, wenn es um Grundsätzliches geht. Oder, um es mit Deutschlands (durch überdrüssige Kulturrelativisten allzu oft relativierten) größtem Dichter zu sagen:
Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächten
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.
Ihr führt ins Leben uns hinein,
Ihr lasst den Armen schuldig werden,
Dann überlasst ihr ihn der Pein,
Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.
Wer sich nun fragt, welcher Dichter das wohl war (zur Auflösung: Goethe natürlich), sollte der eigenen Wahrnehmung noch mehr misstrauen: Die schon besagten Kulturrelativisten (heute auch Gutmenschen genannt) haben an ihm besonders eindrucksvolle Arbeit geleistet. Künftig also wird er eine Wagner-Oper mit einer Wagner-Pizza verwechseln und das noch für ein Verdienst halten.
Relativieren lässt sich tatsächlich grundsätzlich alles. Da werden die eigenen Wurzeln plötzlich satyrhaft zur ominösen »Leitkultur« mit faschistoidem Touch umetikettiert und sogleich misstrauisch beäugt. Klar: Der Fisch erkennt die Existenz des Meeres erst dann, wenn er von einer vorlauten Welle an Land geworfen wird und nach Luft japst. Geschieht dies aufgrund eines günstigen Schicksals über lange Zeit oder gar Generationen lang nicht, ist ihm das Vorhandensein des Wassers so selbstverständlich, dass er es gar nicht wahrnimmt. Tatsächlich dürfte kaum ein Wesen weniger Bewusstsein für das nasse Element haben wie der Fisch, obgleich er aufgrund reiner Gewohnheit gelernt hat, sich virtuos darin zu bewegen.
Heute nimmt es nicht wunder, dass es gerade die ehemaligen Ostblockstaaten sind, die sich noch am ehesten der Existenz ihres Lebenselixiers erinnern: ihres Heimatlandes. Im Verhältnis ist es nicht lange her, dass dessen Herauslösung aus dem ebenso künstlichen wie gewaltsamen Gebilde des drögen Ostblocks gelang und sie sich wieder freier entfalten durften. Ist es da ein Wunder, dass die inneren Seismografen der meisten Bewohner gerade ehemaliger Ostblockländer noch wacher sind als die der ebenso verfetteten wie schläfrigen Einwohner des Westens, deren größte Sorge sogar noch vor wenigen Wochen die gendergerechte Verwendung des Ampelmännchens war, während die Bewohner des ehemaligen Ostblocks noch kaum in diese soziologischen Luxuswelten vorgedrungen sind?
Die Bewohner des Westens, in zweiter und dritter Generation von KindergärtnerInnen mit verbriefter Sozialkompetenz und verbeamteten LehrerInnen mit 13. Monatsgehalt plus Zulagen zu Arglosigkeit und antiquierter Rechtschreibung erzogen, werden natürlich mit völliger Hilflosigkeit reagieren, wenn sie sich plötzlich mit einer existenziellen Bedrohung konfrontiert sehen. Für derart unglücklich Sozialisierte reduziert sich eine fundamentale Menschheitskatastrophe schnell zur gigantischen Facebookparty mit Potenzial zur expliziten Herausstellung des eigenen Gutmenschentums. In diesem Zusammenhang stellt man sich gerne gegenüber dem noch »unterentwickelten« Teil der Menschheit als überlegen dar. Klar: Haben Ostblockländer wie Ungarn oder Polen nicht wesentlich weniger Demokratieerfahrung, weshalb sie sich ruhig an der Hand nehmen und belehren lassen sollten, am besten von deutschen Theologinnen mit Doppelnamen und übergroßer Tränendrüse?
Permanente Rechtsbrüche
Für Mätzchen dieser Art habe ich in normalen Zeiten durchaus Sinn und Humor. Doch inzwischen haben wir eine völlig andere Situation, in der bizarre Unterhaltsamkeit zur Sekundärtugend absinkt. Wer bisher noch unsicher ist: Nein, es ist eben nicht selbstverständlich und auch nicht alternativlos, dass die Bewohner eines Landes fremde Menschen in einer unbekannten Zahl, die im Jahre 2015 irgendwo zwischen 800.000 und 1,5 Mio. liegt (niemand weiß es genau) mit infantiler Naivität herzlich willkommen heißen, ohne nach den Folgen zu fragen. Auch dann nicht, wenn dies den Anforderungen der noch aktuellen Regierung entspricht, deren Souverän das Volk angeblich sein soll. Und nein, es ist auch nicht selbstverständlich oder alternativlos, die permanenten Rechtsbrüche der Regierung gutmütig abzunicken. Und es ist durchaus legitim, die Wir-schaffen-das-Kanzlerin zu fragen: »Wer genau ist eigentlich wir?« Ein Phantom, das beschworen werden soll, wenn es übergeordneten Zwecken dienlich ist, das sich seiner selbst aber trotzdem nicht bewusst sein darf, weil es eigentlich des Teufels ist?
Wer solche Fragen stellt, macht sich heute schnell verdächtig. Aus unerfindlichen Gründen nämlich hat sich ein großer Teil der Medien darauf verständigt, es als den letzten Schrei humanitären Empfindens zu verstehen, wenn von Krieg und Not geplagte Menschen durch gezielte Kürzung der Lebensmittelrationen in heimatnahen Flüchtlingslagern einerseits und die herzliche Einladung der »mächtigsten Frau der Welt« andererseits gezielt dazu getrieben werden, unmenschlich weite und lebensgefährliche Wege auf sich zu nehmen, um anschließend in einem bayerischen Bierzelt mit Notheizung zu überwintern. Ja. Wenn die Humanität das Wort ergreift, hat der Mensch wohl zu schweigen.
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Liebe Frau Prem,
AntwortenLöschenzu Ihrer berechtigten Kritik an der Hybris und schieren Unkenntnis gegenüber unseren nächsten Nachbarn könnte man bspw. dies ergänzen, was in Polen jedes Schulkind weiß, in Deutschland jedoch kaum jemand: nämlich die Verfassungsgeschichte Polens. - (Die Verfassung vom 3. Mai 1791 [...] gilt als erste moderne Verfassung Europas.)
Das dürfte wohl genügen, um zu verdeutlichen wie deutsche Demokratiebelehrungen dort ankommen. - Wie gesagt: nur beispielhaft.
Lg!
A.B.
PS: Von der Art, wie man Ihren Zwischenruf böswillig/absichtsvoll missverstehen könnte, gar nicht zu reden. (Bezichtigungen laufen derzeit ja um wie Falschgeld. Fast muss man jeder Meinungsäußerung schon so eine Art "Querfront-Disclaimer" anhängen.)
Lieber A.B., vielen Dank für Ihre Ergänzung!
LöschenVor böswilligem Missverstehen habe ich keinerlei Angst. Es ist nur eines von vielen Symptomen der aktuellen Krise, dass die Schweigespirale sich heftig dreht und Kräfte, die eigentlich für die Lösung der Probleme gebraucht würden, durch Denunziation und üble Nachrede gebunden werden. Was wir davon haben, werden wir wahrscheinlich schon bald erfahren.
Liebe Grüße
UP
Sehr geehrte Frau Prem,
AntwortenLöschenSie schreiben: "..., deren Souverän das Volk angeblich sein soll."
Das "angeblich" trifft unseren Zustand und kann mehrmals unterstrichen werden.
In unserem Grundgesetz, das in seiner jetzigen Form seit 1990 besteht, heißt es im letzten Artikel 146:
"Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."
Bis zum heutigen Tage konnten wir, der so genannte Souverän, noch nicht über das Grundgesetz abstimmen. Es gab bisher keine Ratifizierung. Im allgemeinen Sprachgebrauch heißt es zwar Verfassungsgericht, VerfassungsrichterInnen etc., doch wir haben keine Verfassung. Dazu gibt es - neben dem Aufsatz von Hans Vorländer bei "bpb" - einen, wie ich finde, sehr informativen Beitrag im "Der Freitag" von Rainer Kahni.
Am Schluss dieses Beitrags wird die Haltung der Bundeskanzlerin, Frau Dr. Merkel, zum Artikel 146 besonders deutlich und zeigt auch die Position zum angeblichen Souverän.
Und dass der Mann, der das zweithöchste Amt in diesem Staat bekleidet, Herr Prof. Dr. Lammert, im "abgeordnetenwatch" bislang auf die dort an ihn gerichteten Fragen keine einzige Antwort gegeben hat, spricht für mich ebenfalls Bände.
Freundliche Grüße
Hans Dietrich
Noch ein Nachtrag zur angedeuteten Medienthematik.
AntwortenLöschenInformationsalternativen sind m.E. zum Beispiel:
Die "NachDenkSeiten" und der Gabriele-Wolff-Blog.
Wenn eine Politikerin/ ein Politiker sagt, "WIR" müssen dies oder das tun, ist gewöhnlich gemeint, "IHR" müsst dies oder das tun, also wir. Wenn ein Politiker sagt, "unsere" Renten sind sicher, meint er genau das, nämlich dass die Renten der Politiker sicher sind, aber nicht unsere.
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