Sonntag, 3. Januar 2016

311 »Das Ghetto«


Foto 1
Teil 311 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein

  
Foto 2
»Rapa Nui«, die Osterinsel, erscheint heute jedem Besucher als ein Idyll, fern der Hektik des nervenauftreibenden Alltags unserer »Zivilisation«. Nirgendwo auf der Welt habe ich mich so wohl gefühlt wie auf Isla la Pascua. Nirgendwo sonst auf der Welt ist der nächtliche Sternenhimmel so klar wie über dem kleinen Vulkaninselchen Rapa Nui. Nirgendwo sonst ist die Stille so greifbar wie im Reich der Riesenstatuen. Und wie an so vielen Orten unserer Welt spürt man nicht das Leid, das den Menschen zugefügt wurde. Man erahnt nicht die schmerzhaften Qualen, die hier viel zu lange erduldet wurden.

Was ich aber lange verdrängt habe: Eine Chronik der neueren Geschichte der Osterinsel ist von Gewalt geprägt. Die Brutalität ging nie von den sogenannten »Wilden«, sondern stets von der sogenannten »zivilisierten Welt« aus. Immer wieder erweisen sich Europäer und Amerikaner als die wahren Barbaren.

Foto 3: Tyrann Dutroux-Bornier
1868. Jean Baptiste Dutroux-Bornier (1), französischer Ex-Artillerie-Offizier, in Peru zum Tode verurteilt, »kauft« nach und nach den Ureinwohnern ihre Landrechte ab. 1869 heiratet Dutroux-Bornier (1834-1876) Koreto, eine Rapa-Nui-Frau, und ernennt sich selbst zum König der Osterinsel. Zunächst hat er durchaus Sympathien in der Bevölkerung, vor allem weil er verspricht, dass auf der Osterinsel wieder der alte „Rapa Nui«-Glaube ausgeübt werden darf. Dutroux-Bornier herrscht brutal als Despot. 

247 »Rapa Nui« werden mit Gewalt nach Tahiti »umgesiedelt«, wo sie auf Plantagen schuften müssen. Immer wieder fliehen Osterinsulaner von ihrer Heimatinsel: aus Angst vor dem Terror der Sklavenjäger.

Die beiden Missionare Theodore Escolan und Hippolyte Roussel stellen sich auf die Seite der Einheimischen. Das Leid der Menschen wächst. Schließlich beschließen die beiden Missionare, die Osterinsel per Schiff zu verlassen. Ziel: die Gambier-Islands. Dutroux-Bornier verhindert, den Exodus. Er bedrängt den Kapitän, 175 der Flüchtlinge wieder zurück auf die Insel zu schicken.

Dutroux-Bornier macht die kleine Stadt Hanga Roa zum Ghetto. Auf engstem Raum leben die Osterinsulaner hinter Stacheldrahtzaun. Sie dürfen das Ghetto nicht verlassen. Zuwiderhandelnde werden auf brutalste Weise bestraft. Unklar ist, wie viele Menschen ermordet werden. Eingesperrt im Ghetto, abgeschnitten von ihren Feldern, fristen die Menschen ein erbärmliches Dasein. Die Osterinsel ist zu einer riesigen Schaffarm geworden, die Einheimischen hausen im Ghetto.

Foto 4
Dutroux-Borniers Macht basiert auf Gewehren, einer Kanone und einer brutalen Bande von Handlangern, die ohne mit der Wimper zu zucken zuschlagen. Sie brennen die armseligen Hütten von aufbegehrenden Insulanern nieder. 1876 endet die Gewaltherrschaft des Jean Baptiste Dutroux-Bornier. Der Diktator kommt ums Leben. Ob er von einigen Einheimischen nach einem Streit erschlagen wurde, oder ob er einen Unfall mit tödlichem Ausgang hatte, ist nicht geklärt. (2)

Mit dem Tod des verhassten Tyrannen endet freilich nicht das Leid der Osterinsulaner. Das Ghetto wird fortgeführt…

Am 2. Januar 1888 erwirbt die chilenische Regierung die Schaffarm von einem Nachfolger des unseligen Dutroux-Bornier.  Am 9. September 1888 nimmt Policarpo Toro (1851-1921) die Osterinsel für Chile in Besitz. Der »feierliche Akt«  ist das Resultat von zähen Verhandlungen. Recht »überzeugend« war allerdings, was Policarpo Toro – chilenischer Marineoffizier –  in der Hinterhand hatte: das Kriegsschiff Angamos. Bis heute ist dieser Vertrag bei den Osterinsulanern sehr umstritten. Viele Osterinsulaner, wie Vertragsunterzeichner Häuptling Atamu Teneka, hofften damals, dass Chile sie nun vor Angriffen schützen würde.

Chile allerdings hatte nur strategische Interessen an dem einsamen Eiland. Die Insel soll ein weit vorgelagerter Außenposten Chiles in den Weiten des Pazifiks sein. Die dort lebenden Menschen interessieren niemanden. Der Versuch, Isla la Pascua zu kolonisieren, scheitert. 1895 schließlich verpachtet Chile die Osterinsel an Enrique Merlet… zur Nutzung als Schafsfarm. Enrique Merlet duldet keinen Widerspruch. Ariki Riroroko, der letzte König der Osterinsel, wird auf Befehl des brutalen Farmers ermordet. Langsam, sehr langsam, formiert sich im Untergrund Widerstand. 1914 schließlich leitet die »Priesterin« Maria Angata Pakomio einen Aufstand gegen die Schaffarmer.

Foto 5
Meine Gesprächspartnerin, die mich um Anonymität gebeten hat, bewundert die mutige Frau, die letztlich keine Chancen hatte. In mehreren Gesprächen mit Einheimischen konnte ich feststellen, dass die »Priesterin« heute wieder zusehends an Popularität gewinnt. »Sie war eine warmherzige Königin!«, meinen die einen. »Sie hatte es faustdick hinter den Ohren!« die anderen. 

Unklar bleibt, ob sich Maria Angata Pakomio wirklich als »Prophetin« sah. Oder kreierte sie so etwas wie einen religiösen Kult, um ihrem Volk einen Aufstand als sehr aussichtsreich erscheinen zu lassen?

Auch im Jahre 1914 war die Osterinsel kein selbständiges Land, sondern nur ein Fleck im schier endlosen Meer. Und dieses Fleckchen gehörte Chile. Chile wiederum hatte das Land verpachtet. Herrscher war Gouverneur und Verwalter Henry Parcival Edmonds.

Am 30. Juni, der Termin wurde mir in verschiedenen Gesprächen genannt, erscheint Maria Angata Pakomio, begleitet von zwei Männern, bei der »Inselobrigkeit« (3).  Sie erklärt, dass von nun an Enrique Merlet nichts mehr auf dem Eiland zu vermelden habe.

Die selbsternannte Prophetin erklärt in einfachen Worten die Osterinsel wieder zum Besitz der Osterinsulaner. Auch die Schafe und Rinder seien nicht mehr Besitz der weißen Fremden, sondern der »Kanaken«, wie damals mehr oder minder alle Südseebewohner von den zivilisierten Europäern genannt wurden. Gott selbst habe ihr diese neue Wahrheit kundgetan. Im Traum habe ihr Gott enthüllt: »Mr. Merlet ist nicht mehr! Die Insel gehört den Kanaken. Wir werden uns morgen Vieh holen und ein großes Fest feiern!« (4)

Foto 6: Die »Prophetin«

Die Prophezeiungen der Maria Angata Pakomio muten fantastisch an. Ob sie alle richtig überliefert wurden. Angeblich glaubten die Anhänger der »Prophetin«, die Apokalypse sei über die gesamte Welt hereingebrochen. Die Welt sei untergegangen, überdauert habe das Ende nur Rapa Nui. Nun könnten die Rapa Nui ohne Angst ihre Heimat wieder in Besitz nehmen. Gewiss, da gab es noch bewaffnete Fremde. Aber die Kugeln ihrer Gewehre seien wirkungslos. Sie würden die „Rapa Nui« nicht verletzen, geschweige denn töten.

Die Welt aber war nicht untergegangen. Und die Waffen der weißen Unterdrücker waren nach wie vor sehr wirkungsvoll. Sie töten nach wie vor. So werden die Anführer des Aufstands in Ketten gelegt. Die »Prophetin« Maria Angata Pakomio allerdings bleibt unangetastet. Man hat wohl Angst vor ihrer Autorität. In Chile befürchtet man wohl einen blutigen Aufstand, sollte man die Seherin festnehmen. Sie stirbt ein halbes Jahr nach der Rebellion der Osterinsulaner. Die Welt steht 1914 tatsächlich am Abgrund einer Apokalypse. Ein Weltkrieg tobt, wie es nie zuvor einen gegeben hat.

Foto 7

Die Welt endete nicht, anno 1914. Es wurde aber, symbolisch ausgedrückt, die letzte Tür zu einem der großen Geheimnisse der Osterinsel zugeschlagen. In jenem denkwürdigen Jahr begegnete die englische Forscherin Katherine Routledge nicht nur der Prophetin Maria Angata Pakomio, sondern auch dem letzten Eingeweihten der Osterinsel, der die Botschaft der »sprechenden Hölzer« vernahm.

Tomenika war der letzte Mensch, der die rätselhaften Schriftzeichen der alten Osterinselkultur zu lesen verstand. Der Greis vegetierte in einer Heilanstalt für Leprakranke dahin. Er weigerte sich aber standhaft, sein geheimes Wissen preiszugeben. Katherine Routledge notierte in ihrem Tagebuch (5): 

»Ich machte noch einen erfolglosen Versuch, verabschiedete mich und ging. Ein ungewöhnlich stiller Tag neigte sich dem Ende zu, alles an diesem abgeschiedenen Ort war vollkommen ruhig. Vorn erstreckte sich wie Glas das Meer und die Sonne neigte sich wie ein Feuerball dem Horizont zu. In der Nähe jedoch lag der langsam sterbende Greis, dessen müdes Hirn die letzten Reste einstmals hochgeschätzten Wissens bewahrte. Zwei Wochen später war er gestorben.«

Foto 8: Alfred Métraux
Erst 1964 gibt es wieder einen Versuch einer Revolution. Alfonso Rapu wird von den Rapa Nui zum Bürgermeister gewählt. Und endlich – nach Jahrzehnten – zeigen die immer wieder vorgebrachten Proteste gegen die menschenunwürdige Behandlung der Osterinsulaner Wirkung! Schon 1935 hat der große Osterinselexperte, der Belgier Alfred Métraux (1902-1963), die Weltöffentlichkeit auf den Skandal Osterinsel aufmerksam gemacht, freilich ohne erkennbaren Erfolg. 1963 erhebt Francis Mazière seine Stimme gegen das Elend der Menschen von Rapa Nui:

»Es herrscht auf der Insel ein derartiges Elend, dass man vom Übergangsstadium in unsere Zivilisation nicht sprechen kann. Die von den Chilenen vernachlässigte oder von den dorthin geschickten Elementen verhängnisvoll beeinflusste Insel ist nicht einfach dem Niedergang preisgegeben, sie ist schlechthin inmitten eines ausweglosen Elends verrottet.«

1966 wird – nach rund einem Jahrhundert – das unsägliche Ghetto der Osterinsel aufgelöst. Die Rapa Nui dürfen sich wieder frei auf der eigenen Insel bewegen. Und heute? Heute ist das »Paradies Osterinsel« vollkommen abhängig von Chile. Eine Selbständigkeit scheint sich nicht mehr verwirklichen zu lassen.

Foto 9


Fußnoten
1) Die Schreibweise des Namens Dutroux-Bornier variiert, gebräuchlich ist auch Dutrou-Bornier
2) Siehe… Routledge, Katherine: »The Mystery of Easter Island«, 1919 erschienen, Nachdruck Kempton, Illinois, USA, 1998, S. 208
3) Gemeint ist der »Manager« der Schafsfarm, wobei die »Schafsfarm« fast identisch ist mit der Insel
4)Siehe hierzu… Routledge, Katherine: »The Mystery of Easter Island«, 1919 erschienen, Nachdruck Kempton, Illinois, USA, 1998, S. 142
5) ebenda, S. 253


Zu den Fotos

Foto 1: privat/ Archiv Langbein 
Foto 2: Walter-Jörg Langbein
Foto 3: Tyrann Dutroux-Bornier, etwa 1876 wikimedia commons public domain
Fotos 4 und 5: Walter-Jörg Langbein
Foto 6: Die »Prophetin« Maria Angata Pakomio, wiki commons/ unbekannter Fotograf, 1914 
(Identität der hockenden Person nicht  absolut gesichert! Vermutlich: Maria Angata Pakomio)
Foto 7: Walter-Jörg Langbein
Foto 8: Alfred Metraux, 1932, wikimedia commons/ Charles Mallison
Foto 9: Walter-Jörg Langbein

312 »Woher, wohin?«
Teil 312 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                       
erscheint am 10.01.2016
 

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