»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
Foto 1: Das Freiburger Münster |
Auf meinen Reisen im In- und Ausland begegneten mir immer wieder religiöse Darstellungen in Kapellen, Kirchen und Kathedralen. Oft zierten sie den Eingangsbereich von Gotteshäusern aus alten Zeiten. Immer wieder bekam ich zu hören: »Diese Bildwerke waren für Menschen gedacht, die des Lesens unkundig waren. Ihnen sollte auf dem Weg der bildlichen Darstellung der christliche Glaube vermittelt werden!«
Diese Erklärungen leuchten natürlich ein. Freilich erschließt sich die Bedeutung steinerner Reliefs oder hölzerner Schnitzwerke nicht ohne weiteres von selbst. Man muss die Geschichten kennen, die dargestellt werden. Dann – und nur dann – weiß man zum Beispiel mit dem Tympanon über dem Haupteingang zum Münster von Freiburg etwas anzufangen.
Wenn da Ochs und Esel im Stall zu sehen sind, wie sie andächtig Heu fressen, während eine Frau auf einer Bettstatt liegend ein Baby liebkost, dann verstehen wir, worum es da geht: Um die Geburt Jesu im Stall von Bethlehem. Wir erkennen das künstlerisch schön gestaltete Szenario in seiner Bedeutung, weil wir die Weihnachtsgeschichte von Bethlehem kennen. Wäre sie uns unbekannt, so könnten wir mit der Bildergeschichte nichts anfangen. Mit Fantasie könnten wir sogar ganz unterschiedliche Aussagen hineininterpretieren.
Foto 2: Ochs' und Esel im Tympanon |
In Cuzco zeigte mir ein Geistlicher den »Nebenraum« einer alten Kirche. Da verstaubte ein Ölgemälde von bemerkenswerten Ausmaßen vor sich hin. Zwei mal drei Meter mag es gemessen haben. Große Teile des Bildes waren unter einer Schmutzschicht nicht einmal mehr zu erahnen. Andere Partien hatte man »gereinigt«, so dass wieder einiges zu erkennen war. In der Mitte stand eine Art Kreuz. Zur linken Seite des »Kreuzes« hingen Menschen aufgehängt an den Ästen eines weit ausladenden Baumes. Zur rechten Seite hingegen hatte sich eine ganz andere Schar Menschen versammelt. Im Gegensatz zu ihren Artgenossen auf der anderen Seite, die in Lumpen gehüllt waren, trugen sie sehr saubere, ordentliche Kleidung und sprachen fast wie im »Schlaraffenland« allen möglichen Speisen zu.
Foto 3: Unterwegs in Cuzco |
Was mir das Gespräch mit dem Geistlichen von Cuzco verdeutlichte? Bilder ohne Worte können oft nicht nur auf eine Weise interpretiert werden. Ein Maler mag eine ganz bestimmte Aussage im Sinn gehabt haben, als er sein Werk schuf. Wer das Bild aber betrachtet, ist auf seine Fantasie angewiesen. Er erkennt, was er zu kennen meint.
Foto 4: Der Engel mit der Waage |
Foto 5: Blick auf das Tympanon |
»In der Mitte des Streifens ist der Erzengel Michael bei der Seelenwägung zu sehen (Foto 4). In einer Waagschale sieht man ein Menschlein, während zwei Teufelchen die andere Schale herabzusenken versuchen. Daneben steht der ob seiner zusammengelegten Hände fälschlich so genannte ›betende Teufel‹. Tatsächlich betet er nicht, er ringt die Hände, da er sieht, dass die Waagschale sich zum Guten neigt und ihm diese Seele wohl entkommen wird.«
Die Turmvorhalle des Freiburger Münsters bietet im Tympanon eine Folge von Szenen in mehreren Etagen, wobei wir die Bedeutung der meisten Bilder zu kennen meinen. Aber liegen wir mit unserer Voreingenommenheit richtig? Oder interpretieren wir in die Darstellungen hinein, was wie für richtig halten? Könnte es sein, dass die Künstler der Gotik da und dort ganz andere Vorstellungen hatten? Weil die einzelnen Teilszenen oftmals förmlich ineinander übergehen und zudem auch nicht chronologisch geordnet sind, können wir uns durchaus auch täuschen!
Im Zentrum steht das Kreuz. Es ist kaum größer als Jesus, der Gemarterte. Und es ist ganz anders gestaltet als wir das sonst aus Kirchen kennen. Der senkrecht stehende Balken ist nicht zu sehen, wird vom Körper Jesu verdeckt. Der sonst waagrecht angebrachte Querbalken erinnert an eine Irminsul, also an einen Lebensbaum. Es kommt mir so vor, als habe man Jesus an einem Baum gekreuzigt, die Arme an zwei massive Äste genagelt. Ich meine, man sieht zahlreiche Ansätze von kleinen Ästen und Zweigen, die man abgesägt hat. Über dem Haupt Jesu ist etwas auszumachen. Vor Ort in Freiburg hielt ich es für die Dornenkrone Jesu. Beim Betrachten meiner Fotos erkenne ich aber, dass es sich bei dem goldenen Flechtwerk um ein Vogelnest handelt. Ganz klar sind zwei Jungvögel im Nest zu sehen, darüber könnte ein großer Vogel verewigt worden sein.
Foto 7: Jesus und das Nest |
Tatsächlich gibt es mittelalterliche Legenden, die in ihren Aussagen voneinander abweichen. Da heißt es zum Beispiel, dass »Mutter Pelikan« sich die eigene Brust aufriss, um ihre Jungen mit ihrem Blut zu füttern, sobald sie keine Nahrung mehr für die Kleinen finden konnte. Da heißt es aber auch, dass »Mutter Pelikan« mit ihrem Blut ihre toten Jungen zu neuem Leben erwecken konnte. In der christlichen Symbolik wurde Jesus zum Pelikan, der sich opfert, um die Toten aus dem Totenreich ins Leben zu holen.
Foto 8: Der »Pelikan« füttert seine Jungen mit Blut |
So können christliche Symbole und Bilder weit über die Grenzen einer Konfession hinaus gedeutet und verstanden werden. Die Frage ist nur, ob die Vertreter aller Religionen dazu bereit sind, die Gemeinsamkeit mit anderen Religionen zu sehen. Das könnte zu einer Verständigung zwischen den Religionen führen. Aber ist eine solche Verständigung überhaupt erwünscht? Da habe ich meine Zweifel. Gerade in unseren Tagen sieht es ganz so aus, als ob sich – speziell im Islam – radikalere Interpretationen durchsetzen, die die eigene Sichtweise zur allein gültigen erklären.
Fotos 9-11: Der heilige Baum der Mayas - Symbol für die Welt |
Fußnoten
1) Linke, Guido: »Freiburger Münster/ Gotische Skulpturen der Turmvorhalle«,
Freiburg, 1. Auflage 2011, Seite 29, rechte Spalte unten und Seite 30, linke
Spalte oben
2) ebenda, Seite 31, linke Spalte oben
3) Siehe hierzu Schele, Linda und Freidel, David: »Die Unbekannte Welt der Maya/
Das Geheimnis ihrer Kultur entschlüsselt«, Augsburg 1994
Zu den Fotos
Foto 2: Ochs' und Esel im Tympanon. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 3: Unterwegs in Cuzco. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 4 Der Engel mit der Waage. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 5: Blick auf das Tympanon. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 6: Jesus am »Baum-Kreuz«. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 7: Jesus und das Nest. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 8: Der »Pelikan« füttert seine Jungen mit Blut. Foto Walter-Jörg Langbein
Fotos 9-11: Der heilige Baum der Mayas - Symbol für die Welt. Fotos Walter-Jörg Langbein
Foto 12: Der geheimnisvolle »Lichtbringer«. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 12: Der geheimnisvolle »Lichtbringer« |
377 »Der Teufel im Stall von Bethlehem«,
Teil 377 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 09.04.2017
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