»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
Foto 1: Auch Paulus wurde »entrückt«. Illustration aus einer Bibelhandschrift, entstanden um 850 n.Chr., für »Monstermauern, Mumien und Mysterien« künstlerisch umgestaltet. |
Von Paulus, da haben die Theologen keinen Zweifel, weiß das »Neue Testament« zu berichten, dass er »in den dritten Himmel entrückt« wurde. Aber steht dies wirklich so im kurzen Text des »Neuen Testaments«, auf den sich alle Theologen beziehen?
Dogmatiker der religiösen wie der wissenschaftlichen Art tun gern so, als seien sie im Besitz DER Wahrheit. Geistliche der drei großen monotheistischen Religionen verkünden mit demonstrativer Selbstsicherheit DIE Wahrheit. Dabei postuliert die Bibel durchaus manchmal nur mögliche Antworten.
Wissen wir wirklich, dass Paulus »entrückt« wurde? Geht das eindeutig aus dem kurzen Text im 2. Korintherbrief hervor?
Im »Neuen Testament« finden wir insgesamt dreizehn Briefe, die Paulus von Tarsus als Verfasser nennen. Nur sieben davon gelten als echt. Demnach hat Paulus den 1. Thessalonicherbrief, den 1. und 2. Korintherbrief, den Galaterbrief, den Römerbrief, den Philipperbrief und den Philemonbrief selbst geschrieben. Umstritten ist, ob der Kolosserbrief, der Epheserbrief und der 2. Thessalonicherbrief von Paulus selbst oder von einem seiner Schüler stammen.
Entstanden sind die Paulusbriefe in den Jahren 48 bis 61 n.Chr. Den 2. Korintherbrief hat Paulus gemeinsam mit seinem Schüler Timotheus im Jahr 56 n.Chr. geschrieben. Lesen wir im 2. Korintherbrief den kurzen Passus über die »Entrückung« (1):
Foto 2: Auch Paulus wurde »entrückt«. Illustration aus einer Bibelhandschrift, entstanden um 850 n.Chr., für »Monstermauern, Mumien und Mysterien« künstlerisch umgestaltet. |
»Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren – ist er im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? Ich weiß es nicht; Gott weiß es –, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel. Und ich kenne denselben Menschen – ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es –, der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann.«
Etwas zeitgemäßeres Deutsch bietet die »Elberfelder Bibel«: »Ich kenne einen Menschen, der mit Christus eng verbunden ist. Vor vierzehn Jahren wurde er in den dritten Himmel entrückt. Gott allein weiß, ob dieser Mensch leibhaftig oder mit seinem Geist dort war. Und wenn ich auch nicht verstehe, ob er sich dabei in seinem Körper befand oder außerhalb davon – das weiß allein Gott –, er wurde ins Paradies versetzt und hat dort Worte gehört, die für Menschen unaussprechlich sind.«
Foto 3: Auch Paulus wurde »entrückt«. Illustration aus einer Bibelhandschrift, entstanden um 850 n.Chr., für »Monstermauern, Mumien und Mysterien« künstlerisch umgestaltet. |
Paulus berichtet von einem Menschen, den er angeblich kennt, aber nicht benennt. Dieser Mensch wurde, so Paulus, »vor vierzehn Jahren« entrückt, also wohl im Jahr 42 n.Chr. Wer aber war der Mensch, der da »entrückt« wurde? Die Passage über die »Entrückung« wirkt fast wie ein Fremdkörper im Text. Warum schildert er das Erlebnis eines namenlosen Fremden? Während Paulus sonst immer in der Ich-Form schreibt, formuliert er hier in der dritten Person. Warum? Vielleicht aus Bescheidenheit? Will er sich nicht selbst des Erlebnisses der Entrückung rühmen und schreibt es deshalb einem Dritten zu? So kann man den Vers verstehen, den Paulus der Entrückungsstory voranstellt (2): »Gerühmt muss werden; wenn es auch nichts nützt, so will ich doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn.«
Epiphanios von Salamis (* um 315; †403), Bischof von Konstantia (Salamis) auf Zypern, stellte eine Liste von 80 Lehren zusammen, die seiner Meinung nach im Widerspruch zu kirchlich-religiösen Glaubensgrundsätzen stehen. Er veröffentlichte das Ergebnis seines theologischen Sammlerfleißes als »Hausapotheke gegen die Schlangenbisse der Häresie«.
In Kapitel 38 attackiert Epiphanios von Salamis die Sekte der Kainiten, die Brudermörder Kain als ihren »Messias« ansehen. In diesem Kapitel erwähnt er ein (3) »kurzes Werk im Namen des Apostels Paulus, voll unaussprechlicher Gräuel, das die sogenannten Gnostiker verwenden und eine ›Himmelfahrt des Paulus‹ nennen.« In diesem Werk, so lesen wir weiter sei die Aussage des Apostels Paulus zu finden, »er sei in den Himmel aufgestiegen und habe unbeschreibliche Worte vernommen, die der Mensch vielleicht nie spricht.« Epiphanios von Salamis verurteilt »Himmelfahrt des Paulus« als Häresie, als Irrlehre.
Nach dem Kreuzestod Jesu entwickelte sich aus der Anhängerschaft des Mannes aus Nazareth eine kleine jüdisch-christliche Sekte, die sich zur christlichen Glaubensgemeinschaft mauserte. Es entstanden Texte über den jungen Glauben und man stritt heftig, was dem »wahren Glauben« entsprach und was als »böse Ketzerei« anzusehen war. Die Werke der »Ketzer« wurden wohl gezielt vernichtet oder verschwanden irgendwie spurlos. Über viele Jahrhunderte gab es so gut wie keine »ketzerischen« Texte mehr. Nur in den Angriffen auf Denken und Schreiben der »Ketzer« tauchten da und dort, wie im »Panarion des Epiphanius (Epiphanios)«, Zitate auf.
Aber dann fanden Bauern im Dezember 1945 in der Nähe des kleinen ägyptischen Ortes Nag Hammadi dreizehn in Leder gebundenen Papyrus-Kodizes. Die 53 Manuskripte wurden auf die erste Hälfte des 4. nachchristlichen Jahrhunderts datiert, ursprünglich verfasst wurden sie aber bereits im 1. und 2. Jahrhundert n.Chr. Wir wissen bis heute nicht, wer diese Bibliothek zusammengetragen hat. Waren es Anhänger einer jungen Gemeinschaft von Gnostikern? Oder sollten sie den Gegnern der frühen »Ketzer« als Anschauungsmaterial dienen, welche Lehren als Irrlehren zu gelten hatten?
Vermutlich wussten damals viele Anhänger der jungen christlichen Kirche nicht wirklich, wer nun ein Rechtgläubiger und wer einer ketzerischen Sekte angehörte. Eine deutsche Gesamtübersetzung der Texte von Nag Hammadi liegt inzwischen in einem dickleibigen Band vor (5).
2020 n. Chr. gibt es offensichtlich unterschiedliche Ansichten, wie wahrer christlicher Glaube auszusehen hat. Kardinal Reinhard Marx (*1953) erregte mit seinem Bestseller »Freiheit« (4) in einer immer säkularer werden Welt Aufsehen. Kardinal Marx, bis 2020 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, moniert, dass die Kirche im Laufe ihrer Geschichte nicht immer auf der Seite der Freiheit gestanden habe. Er will »Ballast über Bord werfen«. Für viele Zeitgenossen ist er ein Erneuerer der katholischen Kirche, für viele andere indes zerstört er den »wahren Glauben«.
Während sich Kardinal Marx sicher als getreuer Vertreter des wahren Katholizismus sieht, predigt er für andere eine Abkehr vom Evangelium, ja von Gott. Es wird die Befürchtung laut, dass mit dem Abwurf vermeintlichen »Ballasts« zentrale Lehren der katholischen Kirche aufgegeben werden. Die einen fordern angeblich längst überfällige Neuerungen wie die Abschaffung des Zölibats und die Zulassung der Priesterweihe für Frauen, für die anderen wäre das aber ein populistischer Verzicht auf zentrale Glaubensinhalte und Abkehr vom wahren katholischen Glauben. Meiner Meinung nach wird eine »Erneuerung« aus modisch-populistischen Gründen Kirche keineswegs attraktiver, sondern unglaubwürdiger machen.
Foto 4: Ein Textteilstück aus der Bibliothek von Nag Hammadi. |
In der gnostischen »Bibliothek« von Nag Hammadi fand sich »Die Apokalypse des Paulus« (6). Heute gilt für viele Paulus als der wahre »Vater« des Christentums, Tertullian war da ganz anderer Ansicht. Quintus Septimius Florens Tertullianus, kurz Tertullian (* nach 150; † nach 220), gilt als der erste lateinische Kirchenschriftsteller. In seiner Streitschrift »Adversus Marcionem« teilt er tüchtig gegen Marcion aus. Marcion, geboren im späten 1. Jahrhundert nach Christus, verstorben um 160 n.Chr., war noch im zweiten Jahrhundert ein einflussreicher Theologe, der die Entwicklung des Christentums als Kirche stark hätte beeinflussen können. Doch Marcions Lehren wurden schließlich als ketzerisch und irreführend verworfen. In (7) »Adversus Marcionem« bezeichnet Tertullian Paulus als »haereticoum apostulos«, also als »Apostel der Haeretiker«, als »Apostel der Ketzer« (8).
Ob es sich bei der »Apokalypse des Paulus« von Nag Hammadi um die von Epiphanios von Salamis als häretisch bezeichnete gnostische Schrift »Himmelfahrt des Paulus« handelt? Das mag, muss aber nicht so sein. Gerd Lüdemann und Martina Janßen (9): »Es ist prinzipiell davon auszugehen, daß mehrere verschiedene Paulusapokalypsen im Umlauf gewesen sind.« Ich glaube nicht, dass die »Apokalypse des Paulus« von Nag Hammadi identisch ist mit dem Text »Himmelfahrt des Paulus«, den Epiphanios von Salamis erwähnt. Nach Epiphanios fuhr Paulus hoch in den dritten Himmel, in der Paulusapokalypse die kosmische Reise im dritten Himmel erst richtig in Fahrt kommt und Paulus bis in den zehnten Himmel gelangt.
Im 2. Korintherbrief heißt es, dass ein Mensch (Paulus oder ein anderer) bis in den dritten Himmel entrückt worden sei. Paulus nennt nicht den Namen dieses Entführten und er gibt sich nicht als der Mensch zu erkennen, der »vor vierzehn Jahren« bis in den dritten Himmel geschafft wurde. Dort habe sich das Paradies befunden. Auch in der »Apokalypse des Paulus« geht es zunächst auch bis in den dritten Himmel, dann aber wird die kosmische Reise fortgesetzt (10): »Darauf entrückte der heilige Geist, der mit ihm gesprochen hatte, ihn nach oben bis in den dritten Himmel, und er schritt hindurch zu dem vierten Himmel.«
Fußnoten
(1) 2. Korintherbrief Kapitel 12, Verse 2-4 (»Luther Bibel 2017«)
(2) Ebenda, Vers 1
(3) Williams, Frank: »The Panarion of Epiphanius of Salamis/ Band 1 Sections 1-46«, 2., überarbeitete und erweiterte Ausgabe, Leiden und Boston, Dezember 2009, Seite 270, 38, 2,5
»The Panarion of Epiphanius of Salamis A Treatise Against Eighty Sects in Three Books«, Buch 1, Sekten 1-46, basierend auf den Übersetzungen ins Englische von Frank Williams 1987-2009
https://think-and-discern.com/2015/02/27/panarion-of-epiphanius-of-salamis-book-1/
(Stand 30.05.2020)
(4) Marx, Reinhard: »Freiheit«, München 2020
(5) Lüdemann, Gerd und Janßen, Martina: »Bibel der Häretiker/ Die gnostischen Schriften aus Nag Hammadi«, Stuttgart 1997
(6) Ebenda, Seiten 281-287
(7) »Tertullian adversus Marcionem« 3,5,4
(8) Literaturempfehlung! Harnack, Adolf von: »Marcion. Das Evangelium vom Fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche. Neue Studien zu Marcion«, Nachdruck, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1985, Ersterscheinung Leipzig 1924
(9) Lüdemann, Gerd und Janßen, Martina: »Bibel der Häretiker/ Die gnostischen Schriften aus Nag Hammadi«, Stuttgart 1997, Seite 281, 20.+21. Zeile von oben. Die Rechtschreibung wurde unverändert übernommen und nicht nach der Rechtschreibeform verschlimmbessert.
(10) Ebenda, Seite 284, 9.-7. Zeile von unten
Zu den Fotos
Fotos 1-3: Auch Paulus wurde »entrückt«. Illustration aus einer Bibelhandschrift, entstanden um 850 n.Chr., für »Monstermauern, Mumien und Mysterien« künstlerisch umgestaltet. Fotos Archiv Walter-Jörg Langbein
Foto 4: Ein Textteilstück aus der Bibliothek von Nag Hammadi. Foto wiki commons gemeinfrei.
554. »… und ich sah ein großes Licht bis in den sechsten Himmel hinunterscheinen.«,
Teil 554 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 30. August 2020
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