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Sonntag, 8. November 2020

564. »Abraham, der ›Herr des Alls‹ und die Chromosomen«

Teil 564 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein



»Als Abraham, unser Vater, (es) verstand, bildete, kombinierte, und forschte er, und da er (alles) bedacht hatte, da gelang es ihm. Da offenbarte sich ihm der Herr der Welt.« So endet eine wichtige kürzere Fassung des »Sefer Jesirah«, »Sa’adjanische Rezension« (1) genannt. Die Übersetzung stammt von Dr. phil. Klaus Hermann (*1957), seit 1994 als akademischer Rat am »Institut für Judaistik« an der »Freien Universität Berlin«.

Foto 1: Abraham (12. Jahrhundert) soll der Urheber des »Sefer Jesira« sein.

Lazarus Goldschmidt konsultierte und übersetzte etwas ausführlichere Manuskripte zu Abrahams Kontakt mit dem »Herrn des Alls« (2): »Und als gekommen war Abraham unser Vater, Friede sei mit ihm, da er schaute, betrachtete, forschte und verstand dies; er hieb und zeichnete bis er es erlangt hatte, dann offenbarte sich ihm der Herr des Alls, gebenedeit sei sein Name, er setzte ihn auf seinen Schoss und küsste ihn auf das Haupt, und nannte ihn Abraham seinen Freund; er schloss ein mit ihm und seinen Kindern. …«

Was in der kurzen wie in der längeren Fassung des »Sefer Jesira« geschaffen wurde, das ist Leben. Nach starker jüdischer Tradition schufen Gott, der »Herr des Alls« und Abraham, »Golems«. Schon Adam soll so ein »Golem« gewesen sein, so wie auch Abraham Golems geschaffen haben soll.

Umfangreiche magische Literatur gibt präzise an, wie so ein Golem kreiert werden kann. Doch die Fülle an sehr präzisen Rezepturen belegt nur, dass man wohl an die Möglichkeit glaubte, einen Golem zu schaffen. Wie das aber konkret geschehen soll? Realistische Vorstellungen gab es keine.

Frank Cebulla verdeutlichte die Problematik recht anschaulich (3): »Um einen Golem zu erschaffen, soll man den alten Überlieferungen zufolge in festgesetzter, streng ritueller Art und Weise vorgehen. Der Magier arbeitet nicht allein, sondern holt sich mindestens zwei weitere ›Kollegen‹ zur Unterstützung. Die angehenden Golemschöpfer reinigen sich vor Beginn der Arbeit sowohl physisch als auch spirituell (durch das Sprechen von Psalmen und Gebeten) und legen weiße Gewänder an. Gearbeitet wird nachts, vorzugsweise in der vierten Stunde, ›wo das Dunkel am dichtesten ist und an die Zeit vor der Erschaffung der Welt erinnert.‹

Foto 2: Der »Golem« als Motiv in der Kunst. Unbekannter Künstler.

Der Golem wird aus ›jungfräulichem‹ Lehm geknetet, Erde von einem Ort also, wo kein anderer Mensch vorher gegraben hat und der daher unberührt ist. Für das Kneten verwendet man außerdem reines (Frühlings-) Wasser direkt aus der Erde; in einem Gefäß transportiertes Wasser ist wertlos. Nach dem fertigen Formen der Golem-Gestalt kann man  mit dessen Belebung durch magische Formeln beginnen. Spätestens an dieser Stelle sehen wir uns einem hoffnungslosen Durcheinander von Verfahren gegenüber, die es einem schwer machen, eine wirklich nachvollziehbare oder gar praktikable Variante herauszufiltern.«

Frank Cebulla untertreibt: die »Golem-Rezepte« lassen sich so gut wie gar nicht korrekt umsetzen. »Unser Verstand brütet Hirngespinste aus, wenn wir etwas nicht glauben wollen.« ,sagt »Will Graham« in der Fernsehserie »Hannibal« (4). Der vermeintlich denkende Mensch glaubt nicht, dass es eine ans Wundersame grenzende Möglichkeit, Leben künstlich zu schaffen, gibt. Also erfindet er merkwürdige Geheimrezepte, die nicht funktionieren können, weil sie das gar nicht sollen. Der Schlüssel zur wahren »Golemformel« zeigt einen Weg auf, der heute noch extrem fantastisch anmutet. Wir halten es deshalb lieber für ausgeschlossen, dass unsere Vorfahren vor vielen Jahrhunderten von diesem Weg wussten, auch wenn sie ihn nicht verstehen und schon gar nicht praktizieren konnten!

Foto 3: Zwei »Golems« als Objekte der Kunst. 
Unbekannter Künstler.

Eine zentrale Frage lautet: Woher stammt uraltes, mysteriöses Wissen? Zur Erinnerung: Als Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben werden, da ist ihnen schnell klar, welche Konsequenzen sie durch ihre »Verfehlung« ausgelöst haben. Adam beginnt deshalb zu beten, Gott erhört ihn, so die Legende. Gott schickt den Erzengel Raziel zu Adam. Er bringt ihm das mysteriöse »Buch Raziel«. Von Adam zu Noah: Auch Noah erhält zumindest Teile des seltsamen Buches, mit Anweisungen zum Bau der Arche.

Und weiter geht’s: Von Noah gelangt das Buch zum Patriarchen Abraham, der wieder nimmt es mit nach Ägypten. Abraham – im Besitz des himmlischen Buches Raziel, das im Saphirstein verewigt war? Abraham – der Verfasser des Buches »Sefer Jesira«? Heißt das, dass »himmlisches Wissen« im »Sefer Jesira« zu finden ist? Aryeh Kaplan (*1934; †1983) schreibt in der Einleitung zu seinem wichtigen Werk »Sefer Yetzira/the Book of Creation« (5): »Das einleitende Kolophon besagt: ›Dies ist das Buch der Briefe Abrahams, unseres Vaters, das Sefer Yetzirah heißt, und wenn man hineinschaut, gibt es keine Grenzen für seine Weisheit.‹«

Ich habe versucht, im Verlauf von Jahren der Beschäftigung mit der Kabbala, die so weitschweifig und detailreich beschriebene Magie auf ein Prinzip einzukochen. Immer wieder habe ich mich im tiefen, tiefen Wald der Kabbala verlaufen. Statt zu abstrahieren, bin ich doch wieder konkreten Regeln und Vorschriften gefolgt, die Voraussetzung für den Erfolg von Magie sein sollten.  Nicht anders erging es mir, als ich mich mit dem »Sefer Josia« beschäftigte. Je tiefer ich mich in diverse Kommentare vergrub, desto unklarer wurde das Bild.

Foto 4: Der »Herr des Alls« JHWH.
Hebräische Konsonantendes Gottesnamens.

»Jüdisches Leben online« stellt nüchtern fest (6): »Es hat viele Interpretationen des Sefer Jezira gegeben. Die frühesten Kommentatoren versuchten es als eine philosophische Abhandlung zu interpretieren, aber ihre Ausführungen warfen mehr Licht auf ihre eigenen Systeme als auf den Text. Das gleiche gilt für die Bemühungen, es in die Systeme des Sohar oder späterer Kabbalisten zu pressen. Versuche, es als ein Buch über Grammatik oder Phonetik zu betrachten, waren noch erfolgloser.« Schauen wir also in »Sepher Jesira« und hoffen wir auf Erweiterung unserer Weisheit in Sachen »Schöpfung«.

Als mir Anfang der 1980er Jahre unweit des schönen Mauerwerks einer ehemaligen kleinen Synagoge im Fränkischen ein kluger, weiser alter Herr den vielleicht entscheidenden Hinweis gab, da habe ich ihn nicht verstanden. Die »Kabbala-Magie« sei eine Buchstaben-Magie. Es würden einzelne Buchstaben des hebräischen Konsonantenalphabets hin und her geschoben, um »magische Effekte« zu erzielen. Im »Sefer Jesira« gehe es auch um Buchstabenmagie, auch wenn das Werk nicht unbedingt zur Kabbala gehöre. Ich darf noch einmal zitieren: »Ein bedeutender Philosoph des 12. Jahrhunderts äußerte sich dementsprechend, daß es keine Philosophie beinhalte, sondern göttliche Mysterien.«

Foto 5: Buchstabenmagie der Kabbala.
(Symbolbild ohne direkten Bezug zum Text!)
»Je nachdem, wohin Sie einen bestimmten Buchstaben schieben, erhalten Sie einen männlichen oder einen weiblichen Golem.« Er zeigte mir ein stark angeschmutztes Stückchen Pergament. Nach meiner Erinnerung war es etwa vier mal sieben Zentimeter groß und hatte einige wenige Zeilen aufzuweisen. Der sehr kurze Text, so hörte ich, würde beschreiben, wie man vorgehen müsse, um das Geschlecht des auf magische Weise fabrizierten Golems vorherzubestimmen.

Milde lächelnd deutete der freundliche und nachsichtige Mann auf die in braunschwärzlicher Schrift aufgetragenen hebräischen Konsonanten. »Sie müssen nur einen Konsonanten verschieben, und schon entsteht kein weiblicher, sondern ein männlicher Golem!«

Diese Worte sagten mir damals überhaupt nichts. Respektvoll-höflich nickte ich nachdenklich, machte mir einige Notizen und beschloss, mich nicht weiter mit der Kabbala-Magie zu beschäftigen. Mein »Zettelkasten« mit »wichtigen« (?) Zitaten aus Kommentaren zum »Sefer Jesira« quoll über. Wie war es möglich, dass verschiedene Experten zu ganz unterschiedlichen Erklärungen für das mysteriöse kleine Buch erarbeitet haben. Wieso konnten unterschiedliche Experten, deren Kompetenz anzuzweifeln mir nicht zusteht, ganz unterschiedliche Geheimnisse im »Sefer Jesira« entdeck(t)en? Nachdenklich stimmt mich »Jüdisches Leben online«: » Besonders bedeutungsvoll sind die vielen Berichte und Legenden, in der das Sefer Jezira benutzt wird, um einen Golem, eine Art mystischer Android, zu erschaffen.«

Nach langen Jahren der Beschäftigung mit der Kabbala im Allgemeinen und dem Buch »Sefer Jesirah«. Ich bin zur Überzeugung gekommen, dass alle Interpreten irgendwo recht haben können. »Sefer Jesira« ist offenbar ein kompaktes Kompendium, das – zum Beispiel – Hilfestellungen zur Meditation bietet, aber auch die Geheimnisse der Schöpfung erklären will. Wenn »Sefer Jesira« geheimes, verstecktes Wissen über die Schöpfung enthält, wie müssen wir uns dieses Wissen vorstellen? Nehmen wir die Spur beim Golem auf! Aryeh Kaplan weiß von einem höchst interessanten Detail zu berichten (7). Demnach wusste Eleasar ben Juda ben Kalonymos (*um 1165; †1238), Rabbi von Worms, wie man bei der Erschaffung eines Golem vorher bestimmen kann, ob ein weiblicher oder ein männlicher Golem entsteht.

Auf den Punkt gebracht: Buchstabenmagie lässt Leben entstehen. Buchstabenmagie erzeugt einen Golem. Man muss nur einen Buchstaben verschieben und schon entsteht kein weiblicher sondern ein männlicher Golem.  Chromosomen treten immer paarweise auf. Beim Menschen besitzt das »Weibchen« zweimal das gleiche Geschlechtschromosom, nämlich zwei X-Chromosomen. Das menschliche »Männchen« hingegen hat ein X- und ein Y-Chromosom aufzuweisen. Mit anderen Worten: auf der Ebene der Chromosomen unterscheiden sich »Männchen«  und »Weibchen« nur durch einen Buchstaben : XX gleich weiblich, XY gleich männlich. Man muss nur einen Buchstaben »verschieben«, um aus weiblich männlich und umgekehrt zu machen. Das ist ein alltäglicher Vorgang in der Natur. Der Zufall entscheidet über das Geschlecht eines Lebewesens. Theoretisch kann dieser Prozess praktisch manipuliert werden. Vermutlich geschieht dies schon längst im Geheimen.

Foto 6: Buchstabenmagie der Kabbala.
(Symbolbild ohne direkten
Bezug zum Text!)

Bleiben wir bei den »Buchstaben des Lebens«! Die Chromosomen  sind Strukturen, die unsere Erbinformationen, also unsere Gene, enthalten. Wir Menschen haben im Normalfall 46 Chromosomen in 23 Chromosomenpaaren. Mann und Frau unterscheiden sich durch die Geschlechtschromosomen. So haben Mann und Frau je ein Paar von Geschlechtshormonen und 22 weitere Chromosomenpaare (8).

22 Chromosomenpaare? Wenn wir im »Sefer Jesirah« nachlesen, was da über die göttliche Schöpfung geschrieben steht, dann begegnen uns wiederholt »zweiundzwanzig Grundbuchstaben« (9). Sollten eigentlich »unmögliche« Kenntnisse über Erschaffung von Leben durch Manipulation an den Chromosomen in die magischen Texte des »Sefer Jesirah« eingeflossen sein? Sollten mit den 22 »Grundbuchstaben« 22 Chromosomenpaare gemeint sein?



Fußnoten
(1) Hermann, Klaus (Übersetzer und Herausgeber): »Sefer Jezira/ Buch der Schöpfung«, Frankfurt am Main und Leipzig, 1. Auflage 2008
(2) Goldschmidt, Lazarus: »Sefer Jesirah. Das Buch der Schöpfung«, Frankfurt am Main 1894, Seite 74 unten und Seite 75 oben, XV (A4, B7, C8, D VIII), Zitat S. 74, 14.-5. Zeile von unten
(3) Cebulla, Frank: »Schöpfung aus dem Lehm/ Der Golem in Mythos, Kabbala und Magie II«, »Der Golem«, 1. Jahrgang, Ausgabe 2/ 2000, Seiten 6-10, Zitat Seite 7, 2.-14. Zeile von oben
(4) »Will Graham« in »Hannibal«, Staffel 3, Folge 3 »Nakama«
(5) Kaplan, Aryeh: »Sefer Yetzira/the Book of Creation: The Book of Creation in Theory and Practice«, revidierte Fassung, San Francisco 1997,  Seite X,  24.-26. Zeile von oben. Übersetzung aus dem Englischen durch den Verfasser.
(6) https://hagalil.com/judentum/kabbala/jezirah1.htm
(7) Kaplan, Aryeh: »Sefer Yetzira/the Book of Creation: The Book of Creation in Theory and Practice«, revidierte Fassung, San Francisco 1997, Seite 153, linke Spalte, »Male and Female«
(8) Mittwoch, Dr. Ursula: »Sex and the single Chromosome«, »New Scientist«, London, 2. August 1973, Seiten 251 und 252

(9) Goldschmidt, Lazarus: »Sefer Jesirah/ Das Buch der Schöpfung«, Frankfurt 1894, »Zweiter Abschnitt II«, Seiten 54 und 55

Zu den Fotos
Foto 1: Abraham (12. Jahrhundert) soll der Urheber des »Sefer Jesira« sein.
Foto 2: Der »Golem« als Motiv in der Kunst. Unbekannter Künstler.
Foto 3: Zwei »Golems« als  Objekte der Kunst.  Unbekannter Künstler.
Foto 4: Der »Herr des Alls« JHWH. Hebräische Konsonantendes Gottesnamens.
Foto 5: Buchstabenmagie der Kabbala.(Symbolbild ohne direkten Bezug zum Text!)
Foto 6: Buchstabenmagie der Kabbala. (Symbolbild ohne direkten Bezug zum Text!)

565. »Das Wüten des Golems«,
Teil 565 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 15. November 2020


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Sonntag, 1. November 2020

563. »Buchstaben und Schöpfung«

Teil 563 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein


Das kleine Schwarzweißfoto ist verblasst. Eine Ecke fehlt. Zu sehen ist ein kleines Sandsteinhäuschen. An einer Ecke wagt sich zaghaft etwas Efeu empor. Auf der Rückseite ist, kaum noch leserlich, ein Datum notiert: 10. November 1938. Der Terror nahm seinen Anfang in jener schrecklichen Nacht. In der kleinen Synagoge gab es eine »Zwischendecke«. Und oberhalb von dieser Zwischendecke waren auch handschriftliche Texte zur Kabbala versteckt, wie mir ein altehrwürdiger Herr versichert. Man hat die Texte übersetzt. Aber versteht man sie auch? Der meiner Meinung nach mysteriöseste alte Text ist »Sefer Jesirah«.

Foto 1: Das »Sefer Jesira« - erste Worte im Original.

 Ich bin davon überzeugt, dass so mancher alte Text unverständlich zu sein scheint, weil wir womöglich zu fantastisch anmutende Interpretationen ausschließen. »Sefer Jesirah« kann Hinweise auf ein geradezu fantastisches Wissen in alten Zeiten enthalten, das eher aus der Zukunft als aus der Vergangenheit zu stammen scheint. Für den Menschen des 21. Jahrhunderts kann das Manipulieren am »Baum des Lebens« sinnbildlich für Veränderungen an den Erbanlagen eines Menschen stehen. Heutige Wissenschaftler können schon Leben schaffen, das eigentlich in der Natur so nicht vorgesehen ist. Denkbar sind auch künstlich herbeigeführte Chromosomenmutationen, wenn wie in einem göttlichen Schöpfungsakt gezielt verändertes Leben geschaffen werden soll.

Gewiss, die ethisch-moralischen Bedenken einem solchen Eingriff in das Leben und seine Entwicklung gegenüber sind durchaus berechtigt. Allerdings halten sich mit Sicherheit Wissenschaftler ohne Skrupel nicht an von Ethikkommissionen formulierte Beschlüsse. Was öffentlich noch nicht geschieht, das wird mit großer Wahrscheinlichkeit in Geheimlabors längst probiert. Es ist zudem zu befürchten, dass es nicht nur die Experten irgendwelche obskurer Diktaturen sind, die mit ihren Experimenten die Versuche des fiktiven Barons Frankenstein als harmlose Versuche á la »Jugend forscht« erscheinen lassen.

Foto 2: Buchstaben, Symbole, Magie.
Das Foto dient der Illustration,
es hat keinen direkten
Bezug zum Text!
Im »Sefer Jesirah«, im »Buch der Schöpfung« gibt es einen kurzen Passus, der zu kühnen Spekulationen verleiten kann. William Wynn Westcott (*1848; †1925), Arzt, Autor, Freimaurer, Rosenkreuzer, Theosoph und einer der Gründer des »Hermetic Order of the Golden Dawn« publizierte seine Übersetzung des »Sefer Jesirah« erstmals 1887. In der gängigen Übersetzung ins Deutsche lesen wir (1):

»Er hat mit diesen 22 Buchstaben jedes geschaffene Ding geformt, gewogen und zusammengestellt, und die Form alles dessen, was später sein wird.« Die englische Originalversion von Westcotts Übersetzung lautet in der Übersetzung allerdings etwas anders (2): »Er hat mit diesen zweiundzwanzig Buchstaben jedes Lebewesen und jede noch ungeschaffene Seele geformt, gewogen, verwandelt, komponiert und erschaffen.« Es ist also nicht die Rede von der Erschaffung »jedes Dings«, sondern lediglich »jedes Lebewesens«

Keinen Zweifel scheint es zu geben, von wem da die Rede ist (3): »JAH, der Herr der Heerscharen, Gott der Armeen Israels, ewiger Gott, barmherzig und gnädig, erhaben, in der Höhe wohnend, der in der Ewigkeit lebt.«

Aryeh Kaplan (*1934; †1983) war ein orthodoxer US-amerikanischer Rabbiner und höchst vielseitiger wissenschaftlicher Schriftsteller. Er publizierte umfangreiche Studien über die Tora und den Talmud und veröffentlichte Werke über Mystik und Philosophie. Mehr als 50 Bücher zu Themen der jüdischen Mystik und Religion aus seiner Feder liegen vor.

Was als ein kurzer Bericht von Gottes Schöpfung verstanden wird, das kann, so Aryeh Kaplan auch ganz anders übersetzt werden, nämlich nicht als Beschreibung von Gottes Wirken, sondern als Befehl Gottes (4):»Dieser Abschnitt kann auch als Befehl gelesen werden. … Zweiundzwanzig Buchstaben: Graviere sie, schnitze sie, wiege sie, permutiere sie und verwandele sie und zeige mit ihnen die Seele von allem, was geformt wurde und was in Zukunft geformt wird.«

Foto 3: Der heiligste Name in der Kabbala.

Nach der alternativen Lesweise gibt also Gott den Befehl, Leben zu erschaffen. Ich halte es für sehr gut möglich, dass der Originaltext des »Sefer Jesirah« Hinweise auf die Kunst der Lebenserschaffung enthielt, die dem Verfasser (oder den Verfassern) wie unverständliche Magie erscheinen mussten. Lazarus Goldschmidt, eigentlich Elieser ben Gabriel (*1871; †1950), einer der bedeutendsten Orientalisten und Gelehrteren des Judentums, konnte von derlei märchenhaften, nur Gott vorbehaltenen Möglichkeiten wissen. Und doch gibt er in seiner Übersetzung des »Sefer Jesirah« (5) von 1894 einen entscheidenden Hinweis, der sich als der Schlüssel zu fantastischem Wissen der Altvorderen entpuppen könnte! Bei Lazarus Goldschmidt bleibt wie bei allen anderen Übersetzern, gerade was die Erschaffung von Leben angeht, alles sehr mysteriös.

Als Ausgangspunkt für die Kreation von Leben dienen, so Lazarus Goldschmidt, »Grundbuchstaben«. Dieser Ausdruck kommt bei Goldschmidt mehrfach vor. Sie begegnen uns gleich zu Beginn des »Sepher Jesirah« und das mehrfach (6). Abstrahiert man den wahrlich mysteriösen Text, dann gibt es nach dem »Sepher Jesirah« Grundbausteine, aus denen das Leben zusammen gesetzt wird. In englischen Textfassungen tauchen die »Grundbuchstaben« als »foundation letters« auf, dem englischen Pendant zum deutschen Ausdruck. Was aber sind diese Bausteine, diese Grundbausteine, diese Grundbuchstaben? Was hat es zu bedeuten, wenn von »Grundbuchstaben« die Rede ist?

Bei Lazarus Goldschmidt lesen wir (7): »Dies ist ein grosses, verborgenes und verhülltes (und prächtiges« Geheimnis, versiegelt mit sechs Siegelringen.« Aryeh Kaplan staunt nicht minder über das Geheimnis, wenn er übersetzt (8): »Ein großes, mystisches, verborgenes Geheimnis, versiegelt mit sechs Ringen.« Ziehen wir eine weitere Übersetzung zu Rate (9): »ein mächtiges Mysterium, in höchstem Maße okkult und wunderbar, versiegelt wie mit sechs Ringen«.

Im »Verlag der Weltreligionen« ist »Sefer Jezira« erschienen. Klaus Herrmann bietet Übersetzungen, basierend auf verschiedenen Manuskripten des »Sefer Jezira«. In seiner Übersetzung von »Manuskript London 6577« lesen wir (10): »Ein großes wunderbares, verborgenes, und mit sechs Siegeln versiegeltes Geheimnis.« Worin aber besteht das Geheimnis des »Sefer Jesirah«? Welches Geheimnis bietet das »Buch der Schöpfung«?

Nach dem Schöpfungsbericht im 1. Buch Mose kreierte Gott zunächst den Mann und dann – noch vor der Frau – die Tiere (11): »Und Gott der HERR sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. Und Gott der HERR machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; aber für den Menschen wurde keine Hilfe gefunden, die ihm entsprach.« Was heutige Bibelleser kaum noch wissen: Adam benennt die Tiere in einem magischen Akt. Nach uraltem magischem Verständnis gewinnt man Macht über etwas, wenn man es benennt. Diese Vorstellung dürfte Jahrtausende alt sein. Und sie lebt noch im Märchen der Gebrüder Grimm vom »Rumpelstilzchen« fort, zu finden in »Kinder- und Hausmärchen«. Das »Rumpelstilzchen« ist darauf bedacht, dass niemand seinen Namen erfährt, denn wer den Zwerg benennen kann, der hat Macht über den Gnom.

Foto 4: Der heiligste Name in der Kabbala.

Im »Sefer Jesirah« geht es auch um Magie des Worts, genauer gesagt der Buchstaben. Aber wie ist diese Magie zu verstehen? Die Langfassung des mysteriösen Texts umfasst 2.700 Wörter, die kürzeren bieten zwischen 1.500 und 1.700 Wörter. Die älteste gedruckte Fassung in hebräischer Sprache entstand anno 1562 in Mantua (Italien). Wann aber entstand das Werk und wo?

Die ältesten bekannten Kommentare zum »Sefer Jesirah« stammen von Sa'adiah ben Yosef Gaon (*882/892; † 942) und von Dunash ibn Tamim (* um 900; † um 960). Beide Kommentare stammen von renommierten jüdischen Gelehrten, die in der Welt des Islam zuhause waren. Folgerichtig verfassten beide ihre Werke in arabischer Sprache. Das »Sefer Jesirah« war demnach in der islamischen Gelehrtenwelt bekannt. Ist es möglich, dass auch sein Ursprung in dieser Welt zu suchen ist?

Foto 5: Symbole und Buchstaben
in der Magie der Kabbala.
Das Foto dient der Illustration,
es hat keinen direkten Bezug
zum Text!
Umstritten ist das Alter der »Urfassung«, wenn es denn je eine gegeben haben sollte. Nach mündlicher jüdischer Tradition entstand sie zu biblischen Zeiten und wurde von Abraham selbst verfasst. Der mythische König Melchisedek, der im »Alten Testament« kurz erwähnt wird (12), soll Abraham, der damals noch Abram hieß, in magische Geheimnisse und Mysterien eingeweiht haben. Nach biblischer Datierung, das lässt sich aus den Angaben des Alten Testaments errechnen, lebte Abraham vor rund 4.000 Jahren.

Bei meinen umfangreichen Studien zum »Sepher Jesirah« stieß ich auf ein höchst interessantes Werk von Moshe Idel (*1947). Der emeritierte Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem hat sich intensiv mit der Geheimlehre der Kabbala beschäftigt. Moshe Idel thematisiert in seinem Buch den Golem (13) als eine Art artifiziellen Menschen, als einen mit magischen Mitteln erschaffenen Roboter. Urheber dieser Kreation war, so Moshe Idel, kein Geringerer als Abraham selbst.

Der renommierte jüdische Religionshistoriker Prof. Gershom Scholem (* 1897; †1982), erforschte an der »Hebräischen Universität Jerusalem« die Geheimnisse der jüdischen Mystik und publizierte zahlreiche fachbezogene Werke. Scholem übersetzte den Schluss des »Sefer Jesirah« so (14): »Als unser Vater Abraham kam, da schaute, betrachtete und sah er, forsche und verstand und umriß und grub ein und kombinierte und bildete (das heißt schuf). Und es gelang ihm. Da offenbarte sich ihm der Herr der Welt und setzte ihn in seinen Schoß und küßte ihn aufs Haupt und nannte ihn seinen Freund (andere Lesart fügt noch hinzu: und machte ihn zu seinem Sohn) und schloß mit ihm undseinem Samen einen ewigen Bund.«

In seinen Anmerkungen zu diesem Passus moniert Prof. Gershom Scholem, dass Kommentatoren diese rätselhaften Aussagen (15) »immer gern erbaulich-harmlos erklärt oder wegerklärt« hätten. Scholem weiter: »Das sonderbare ›er schuf und es gelang ihm‹ bezieht sich aber nicht nur auf Abrahams Bemühungen spekulativer Natur, die von Erfolg gekrönt waren, sondern ausdrücklich auf sein Verfahren mit den Buchstaben, bei dem alle von Gottes Tätigkeit bei der Schöpfung gebrauchten Verben exakt wiederholt werden. Mir scheint, wer diesen Satz schrieb, hatte ein Verfahren Abrahams im Auge, nach welchem er imstande war, aus seiner Einsicht in den Zusammenhang der Dinge und in die Potenzen der Buchstaben den schöpferischen Prozeß in gewisser Weise nachzuahmen und zu wiederholen.«


Foto 6: Lazarus Goldschmidts
Übersetzung vom »Buch der Schöpfung«
Fußnoten
(1) »SEPHER YETZIRAH« (Das Buch der Schöpfung), dritte Ausgabe von Westcott's Übersetzung, Kapitel II.2.
(2) »SEPHER YETZIRAH OR THE BOOK OF CREATION«, erste Ausgabe 1887. Originalzitat: »He hath formed, weighed, transmuted, composed, and
created with these twenty-two letters every living being, and every soul yet uncreated.« Übersetzung aus dem Englischen: Walter-Jörg Langbein
(3) Ebenda, Kapitel I.1. Originalzitat: »JAH the Lord of Hosts, God of the armies of Israel, ever-living God, merciful and gracious, sublime, dwelling on high, who inhabiteth eternity.« Übersetzung aus dem Englischen: Walter-Jörg Langbein
(4) Kaplan, Aryeh: »Sefer Yetzira/the Book of Creation: The Book of Creation in Theory and Practice«, revidierte Fassung, San Francisco 1997, eBook, Seite 100, 7.-10. Zeile von oben und Seite 262, 6.-2. Zeile von unten. Originalzitat: »Twenty-two letters: Engrave them, carve them, weigh them, permute them, and transform them, and with them depict the soul of all that was formed and all that will be formed in the future.« Übersetzung aus dem Englischen: Walter-Jörg Langbein
(5) Goldschmidt, Lazarus: »Sefer Jesirah. Das Buch der Schöpfung«, Frankfurt am Main 1894
(6) Ebenda, Seite 50, »Erster Abschnitt II«, Seite 54, »Zweiter Abschnitt I« und »Zweiter Abschnitt III« und Seite 55, »Zweiter Abschnitt IV«
(7) Ebenda, Seite 56, »Dritter Abschnitt II«
(8) Kaplans englische Version lautet: »A great, mystical, concealed secret, sealed with six rings.« Übersetzung aus dem Englischen: Walter-Jörg Langbein
(9) Westcott, William Wynn: »Sepher YetzirahThe Book of Creation/ Translated by Wm. Wynn Westcott«, 1. Auflage, Bath (England) 1887. Originalzitat: »a mighty mystery, most occult and most marvelous, sealed as with six rings«. Auch hier habe ich die Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche übernommen. Eventuelle Fehler gehen also »auf meine Kappe«.
(10) Herrmann, Klaus (Übersetzer): »Sefer Jezira/ Buch der Schöpfung«, Leipzig 2008, Seite 37, 5.-1. Zeile von unten
(11) 1. Buch Mose Kapitel 2, Verse 18-20 in der Übersetzung der »Lutherbibel 2017«
(12) 1. Buch Mose Kapitel 14, Verse 18-20
(13) Idel, Mosche: »Golem : Jewish magical and mystical traditions on the artificial anthropoid«, State University of New York Press, Albany 1990
(14) Grözinger, Karl Erich: »Jüdisches Denken/ Theologie, Philosophie, Mystik/ Band 2/ Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus «, Frankfurt und New York 2005, Seite 63, 4.-9. Zeile von oben. Rechtschreibung des Zitats wurde unverändert übernommen.
(15) Scholem, Gershom: »Die Vorstellung vom Golem in ihren tellurischen und magischen Beziehungen« in »Zur Kabbala und ihrer Symbolik«, Zürich 1960, Seite 223

Zu den Fotos
Foto 1: Das »Sefer Jesira« - erste Worte im Original.
Foto 2: Buchstaben, Symbole, Magie. Das Foto dient der Illustration, es hat keinen direkten Bezug zum Text!
Fotos 3 + 4: Der heiligste Name in der Kabbala.
Foto 5: Symbole und Buchstaben in der Magie der Kabbala. Das Foto dient der Illustration, es hat keinen direkten Bezug zum Text!
Foto 6: Lazarus Goldschmidts Übersetzung vom »Buch der Schöpfung«
Alle Fotos: Archiv Walter-Jörg Langbein

564. »Abraham, der ›Herr des Alls‹ und die Chromosomen«,
Teil 564der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 08. November 2020




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