Freitag, 9. März 2012

ADHS: Das Verschwinden der Kindheit - Die Freitagskolumne von Ursula Prem

Ursula Prem
Dem gestern auf Spiegel Online erschienenen Artikel »ADHS, Burnout,Depression – Forscher warnen vor Millionen Scheinpatienten« von Barbara Opitz ist eine große Aufmerksamkeit zu wünschen, eher er im Schwarzen Loch Internet verschwindet, denn uns steht eine noch viel weiter reichende »Pathologisierung des Nachwuchses« (Zitat: Barbara Opitz) bevor, als sie heute schon gang und gäbe ist.

Schon 10 % der Kinder von ADHS-Diagnose betroffen
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Eine im Frühjahr 2013 zu erwartende Neufassung des Buches »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders«, das von Psychiatern als Arbeitsgrundlage benutzt wird, soll die Zahl der diagnostizierbaren Störungen stark ausweiten. Schon die jetzige Fassung, das DSM-4, hat uns die Modediagnose ADHS beschert, von der laut einer Umfrage bereits 10 % aller Kinder irgendwann betroffen sind. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: 10 % unserer Kinder werden zu Kranken erklärt, weil irgendein von Kranken verfasstes Buch es so will. Wie viele werden es nach dem Erscheinen der Neufassung DSM-5 sein? Wird es dann noch »normale« Kinder geben? Oder nur solche, die noch nicht gut genug untersucht wurden? Warum stehen wir nicht längst auf den Barrikaden und beschützen unsere Kinder vor derartigen Zumutungen?

Tabletten gegen Vitalität

Barbara Opitz führt in ihrem erfreulich kritischen Artikel das Beispiel einer Dreijährigen an, die sich weigert, in den Kindergarten zu gehen, woraufhin ihre Mutter sie zum Kinderpsychologen schleppt. Was ist normal? Dreijährige in den Kindergarten zu zwingen, während der kleine Bruder mit Mama zu Hause bleiben darf? Oder nicht doch eher das dreijährige Kind, das sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt? Ist das vitale Lebensinteresse eines kleinen Kindes, sich lieber im geschützten Umfeld der Familie zu bewegen, bereits eine psychische Störung? Befürchtete die Mutter gar, ihre Kleine könnte unter ADHS leiden?

Krimitipp zum Thema:
Der hässliche Zwilling
von
Tuna von Blumenstein
Den Punkt, an dem jeder Trotzanfall für Kinder die Gefahr birgt, mit ADHS diagnostiziert und medikamentös ruhiggestellt zu werden, haben wir längst erreicht. Aber auch die stillen, verträumten Kinder, die man kaum jemals hört, sind vor dem allgemeinen Psychopathologisierungswahn nicht sicher: Sie sind keine »zurückhaltenden Charaktere« mehr, wie in früheren Jahren, nein: Sie »leiden selbstverständlich unter ADS«, was ebenfalls ein Grund zu umfangreicher Medikamentierung ist. Kommen noch ein paar schlechte Noten dazu, finden sie sich schnell in einer Dauerbehandlung wieder, deren Langzeitfolgen überhaupt nicht absehbar sind. Während Prügelstrafen und Ohrfeigen mit Recht unter Strafe gestellt wurden, scheint niemand sich über diese millionenfache Körperverletzung aufzuregen, die mit unser aller Wissen täglich abläuft. Warum nicht? Weil die Dealer weiße Kittel tragen?

Moderne Inquisition

Wodurch unterscheidet sich eine derart monströse Psychoindustrie noch von der Inquisition früherer Jahre? Ja, die Spanischen Stiefel wurden abgeschafft, gut so. - Aber sonst? Wer nicht in das allgemein gültige Schema passt, wird noch immer misshandelt, inzwischen halt medikamentös. Den Kindern wird erklärt, sie seien krank, um ihnen nicht sagen zu müssen, dass sie einfach nicht in diese so perfekte Welt passen. Und so verpassen sie große Teile ihrer Kindheit und dämmern zugedröhnt vor sich hin, statt auch mal laut sein zu dürfen, weil sie eben Kinder sind. Die Kindheit verschwindet auf leisen Sohlen und weicht dem Optimierungswahn. »Pass Dich an oder wir gehen zum Onkel Doktor!«

Vielleicht gehören ja die Erwachsenen in Behandlung? Spricht es nicht für eine ausgesprochen niedrige Frustrationstoleranz, wenn man ein schreiendes Kind nicht ertragen kann? Das könnte was Krankhaftes sein, das man dringend untersuchen sollte. Vielleicht findet sich ja in DSM-5 die passende Diagnose dazu ...?


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1 Kommentar:

  1. Es ist schön, wenn die Kinder mitfühlend und verstehend durchs Leben begleitet werden. Es ist doch ganz normal, wenn ein grösseres Geschwisterchen lieber zu Hause bleiben mag, wenn ein Neuankömmling die Zeit mit Mutter geniessen darf. Meist verliert sich das bedürfnis wieder, und der Kindergartenbesuch wird als spannend empfunden, schliesslich kann man ja schon Dinge, die Baby noch nicht kann...

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