Ursula Prem |
Im Jahre 1812 erschien die erste Ausgabe der »Kinder- und
Hausmärchen«, aufgeschrieben von Jacob und Wilhelm Grimm. Was ursprünglich Clemens
Brentano und Achim von Arnim als Anregung für die Volksliedsammlung »Des Knaben
Wunderhorn« dienen sollte, gewann bald ein Eigenleben: Bis heute sind »Grimms
Märchen« die bedeutendste literarische Sammlung volkstümlicher Überlieferung im
deutschen Sprachraum. Generationen von Eltern haben ihren Kindern daraus
vorgelesen. Die berühmtesten Märchen der Gebrüder Grimm, wie Hänsel und Gretel,
Schneewittchen oder Dornröschen, sind ohne Frage zum kulturellen Allgemeingut
geworden. Den Gebrüdern Grimm ist damit das Kunststück gelungen, die
Symbolsprache des kollektiven Unterbewusstseins in eine allgemein verständliche
Form zu fassen und für künftige Generationen aufzubewahren.
Dass es in manchen Märchen durchaus heftig zugeht, ist ein
Vorwurf, der gerade in den vergangenen Jahrzehnten immer häufiger zu hören ist.
Manch ängstliches Gemüt fragt sich, ob Kinder in der Lage seien, die
geschilderten Grausamkeiten zu verkraften. Nicht wenige Eltern verzichten
deshalb zugunsten weichgespülter Versionen auf das Vorlesen der
Originalfassung. Auch Bundesfamilienministerin Schröder erklärte laut faz.net,
dass sie ihrer Tochter Grimms Märchen nur »dosiert« vorlesen werde, da sie »oft
sexistisch« seien und nur wenige positive Frauenbilder darin vorkämen. So ist
zu vermuten, dass auch im Hause Schröder wohl eine weichgespülte Variante von
Grimms Märchen Einzug halten wird.
Vielleicht wäre es tatsächlich Zeit für ein politisch
korrektes Märchenbuch auf Grundlage der Gebrüder Grimm, das noch dazu der
allgemeinen Unfähigkeit zum Verstehen umfangreicher Nebensatzkonstruktionen
Rechnung trägt. In etwa so:
Johannes und
Margarete
»Es war einmal eine arme Familie. Der Vater war aufgrund des
Stellenabbaus im holzverarbeitenden Gewerbe schon lange arbeitslos. Bald nach
seiner Entlassung hatte sich die Mutter von ihm getrennt. Nach erfolgreichem Heroinentzug
absolviert sie inzwischen eine Fortbildung zur Streetworkerin. Den Kontakt zu
ihrer Familie hat sie abgebrochen.
Der Vater war im Windelwechseln nicht eben geübt. Deshalb hatte
er bald nach der Scheidung neu geheiratet. So waren Johannes und Margarete
tagsüber versorgt und Papa konnte in Ruhe seiner Vorliebe für Computerspiele
nachgehen. Natürlich ärgerte sich seine neue Frau darüber, dass sie alles
alleine machen musste. Das Schreiben der Rentenversicherung hatte ihr die Augen
geöffnet: Sie musste nun an ihr eigenes Fortkommen denken und fleißig bei einem
1-€-Job Anwartschaften sammeln. Deshalb setzte sie die Kinder eines Nachmittags
am anderen Ende des Stadtparks aus und machte sich aus dem Staub.
Natürlich trafen die Kinder (6 und 8) jede Menge seltsames
Volk im Stadtpark. Und so waren sie froh, als eine alte Frau sie mit nach Hause
nahm, um sie dort mit Lebkuchen zu füttern. Dass die alte Dame psychisch krank
war, merkten Johannes und Margarete erst, als es fast zu spät war. »Ich hab
euch zum Fressen gern!«, hatte die Seniorin gemurmelt und Hans und Margarete in
ihren Kleiderschank eingesperrt. Doch zum Glück hatte Margarete das Schloss
leicht aufbekommen. Das verdankte sie dem Selbstbehauptungstraining für
Mädchen, welches sie auf Anraten des Jugendamtes einmal wöchentlich
absolvierte. Deshalb schafften die Kinder es gerade noch, aus der Wohnung zu
entkommen.
Nun kümmert sich der sozialpsychologische Dienst in enger
Verzahnung mit dem Beratungslehrer der Förderschule um Johannes und Margarete.
Und auch die alte Dame bekommt endlich im Pflegeheim die Betreuung, die sie
braucht. Sicher wird eine umfassende Therapie allen Dreien helfen, wieder in
die Spur zu kommen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann stehen sie heute beim Amt
an ...«
Wer auf lächerliche Modernisierung, unnötige Infantilisierung und
sprachliche Vereinfachung verzichten möchte und lieber dem Original
den Vorzug gibt, dem sei die dreibändige Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen empfohlen,
die Herausgeber Heinz Rölleke durch Originalanmerkungen der Gebrüder Grimm
ergänzt hat.
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