Freitag, 25. Januar 2013

Pathologisierte Gesellschaft – die Freitagskolumne von Ursula Prem

Ursula Prem
Keine Tatsache können Menschen derart schwer verkraften wie die eigene Unwissenheit. Erscheinungen, die nicht bis ins letzte Detail mit dem Verstand erklärbar sind, stellen eine Provokation für das menschliche Ego dar und verbreiten Angst und Schrecken. Schnell werden derartige blinde Flecken auf der Landkarte des Bewusstseins mit allerlei Glaubenssätzen aufgefüllt, die als Platzhalter für den fehlenden Durchblick dienen, bis sich eine bessere Erklärung anbietet.

Die Zeiten, da man Sonnenfinsternisse für eine Warnung Gottes hielt, sind lange vorbei. Dank der Astronomie wissen wir heute, dass es eine Erklärung für die plötzliche Dunkelheit gibt. Doch wachsende Erkenntnisse werfen stets neue Fragen auf, da der menschliche Verstand nun mal zu klein ist, um das Universum in seiner Gesamtheit auch nur ansatzweise erfassen zu können.


Gesund oder krank?

Ganz ähnlich verhält es sich mit sogenannten »psychischen Krankheiten«, deren Diagnose an die Stelle alter Glaubenssätze getreten ist. Heute ist ein Mensch nicht mehr »vom Teufel besessen«, sondern »in Besitz einer wissenschaftlichen Diagnose mit gültigem ICD-Diagnoseschlüssel nach dem Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation«. Folglich peinigt ihn nicht mehr der Exorzist oder gar ein Inquisitor, sondern der Psychiater. Ob die Vorgehensweise deshalb von Weitblick und Humanität getragen ist, ist mehr als zweifelhaft. Zu unterschiedlich sind die Menschen. Zu wenig vergleichbar. Zu individuell in ihrer psychischen Konstitution, als dass sie sich mit einem codierten Regelwerk auch nur annähernd erfassen ließen. Der aktuelle Versuch, neue psychische Krankheiten zu definieren und einen Großteil der Bevölkerung dadurch zu pathologisieren, macht die Sache nicht besser: Er verengt vielmehr den Spielraum der Verhaltensweisen, die noch als »normal« gelten.

Wie groß die Beliebigkeit auf dem Gebiet der Psychiatrie ist, zeigt der Fall des Gert Postel. Manche bezeichnen ihn als Hochstapler oder Betrüger, doch auch das ist nichts als eine gesellschaftlich definierte Schublade. Von 1995 bis 1997 arbeitete der ehemalige Hauptschüler und gelernte Postbote Gert Postel fast zwei Jahre lang als Leitender Oberarzt im Maßregelvollzug und schaffte es, etwas von der heißen Luft abzulassen, die den Ballon Psychiatrie aufbläst. In folgendem Video erzählt Postel, dem eigentlich eine Auszeichnung für investigativen Journalismus statt einer Strafe wegen Hochstapelei gebührt hätte, seine Geschichte:


Direktlink zum Video auf YouTube

Wer gesund ist, wurde nicht genau genug untersucht

Der ICD-Katalog im Wandel der Zeit zeigt deutlich, dass psychische Krankheiten immer auch ein Ausdruck gesellschaftlicher Erwartungen sind. So wurde Homosexualität als Krankheitsbegriff erst 1992 abgeschafft. AD(H)S hingegen gibt es offiziell erst seit 1978, und seitdem wissen wir, dass besonders temperamentvolle oder stille Kinder nicht einfach nur Zappelphilipps oder kleine Träumerchen sind, sondern in jedem Fall behandlungsbedürftige Schwerkranke.

Wem ein Diagnosestempel mit einem entsprechenden Code erst einmal eingebrannt wurde, kommt kaum noch umhin, sich bestimmungsgemäß und nach den Regeln der Kunst behandeln zu lassen und die vielen bunten Pillen zu schlucken, die für ihn vorgesehen sind. Andernfalls bekommt er noch zusätzlich einen ICD-10 F68.8 raufgedrückt und muss künftig wegen mangelnder Krankheitseinsicht mit der Diagnose »querulatorische Charakterentwicklung« weiterleben. Mit so einer Krankenakte ist es bis zur Zwangseinweisung unter ungünstigen Umständen nur noch ein kleiner Schritt.

Nicht bekannt ist bisher allerdings, ob der um sich greifende allgemeine Pathologisierungswahn ein eigenständiges Krankheitsbild darstellt, oder ob er unter der Ziffer ICD-10 F30.9 noch als »manische Episode, nicht näher bezeichnet« durchgeht.

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3 Kommentare:

  1. Da wird einem doch angst und bange! Idealfall für eine Diktatur: Alle gelten per definitionem als "krank". Da jedes Individuum krank ist, können einzelne Individuen jederzeit ausgesondert und weggesperrt werden. Mit anderen Worten: Natürlich ist die Dikttur demokratisch. Wer das nicht erkennt, sprich oponiert, ist krank und wird entsprechenden Heil-Institutionen zugeführt. Dann sind alle für die Diktatur,nur "Kranke" sind dagegen.

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  2. Ja, genau das scheint der Trend zu sein: Fragwürdige Diagnosen als Grundlage zur Machtausübung und zur Verschreibung möglichst vieler Medikamente. Eine unheilvolle Allianz zwischen Politik und Pharmaindustrie.

    Übrigens finden sich in der Diagnose von ADHS lokale Besonderheiten. So gilt Würzburg als Welthauptstadt der Diagnosehäufigkeit. Weil die Mainfranken alle durchgedreht sind? - Nein. Sondern weil dort sehr viele einschlägige Fachleute praktizieren, die alle etwas zu tun brauchen.
    http://www.augsburger-allgemeine.de/wissenschaft/Tabletten-fuer-wilde-Jungs-Kranken-Kasse-warnt-vor-Generation-ADHS-id23760146.html

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  3. Den Ritalinbefürwortern darf ich folgendes empfehlen: Suchen Sie sich eine Wohnung neben einem erwachsenen Junkie, für den Ritalin die Einstiegsdroge war, der als Jugendlicher auf irgendwelche verbotenen Substanzen umgestiegen ist und sich damit aus der Stratosphäre gebeamt hat. Dann werden Sie Zeuge der zunehmenden Verblödung dieses Menschen. Ist er einigermaßen medikamentös eingestellt, wandelt er wie ein Zombie. Wenn nicht, erlebt die Nachbarschaft was es bedeutet, wenn ein Ritalinjunkie auf Entzug ist. Ritalin müsste verboten werden! Das ist meine Meinung dazu!

    Danke für den Beitrag.

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