Freitag, 11. Oktober 2013

PISA-Studie für Erwachsene rehabilitiert Kinder – die Freitagskolumne von Ursula Prem

Frage eines Meinungsforschers: 
»Was ist Ihrer Ansicht nach das schlimmere gesellschaftliche Problem? 
a) Mangelndes Wissen oder 
b) mangelndes Interesse?« 
Antwort des Befragten: 
»Das weiß ich doch nicht, ist mir total egal!«


Ursula Prem
Dass die Realität in Deutschland nicht weit von dieser Anekdote entfernt liegt, enthüllte kürzlich die in 24 Industrieländern durchgeführte PIAAC-Studie, eine Art PISA-Test für Erwachsene. Besonders im Bereich des Lesens, so die ernüchternde Bilanz, liegen die durchschnittlichen Fähigkeiten der Deutschen messbar unter dem OECD-Durchschnitt, was bedeutet, dass ein erheblicher Anteil der Bevölkerung nur schwer in der Lage ist, komplexe Texte zu verstehen und ihnen die gewünschten Informationen zu entnehmen. »Pisa-Studienergebnisse künftig nur noch in Hörbuchform erhältlich«, titelt denn auch wie immer treffend der satirische »Postillon« seinen Beitrag zum Thema. Sinnvoll sein könnte dies tatsächlich, denn die Lesefähigkeiten der Deutschen haben sich seit den Neunzigern drastisch verschlechtert, hat Anke Grotlüschen, Professorin für lebenslanges Lernen an der Universität Hamburg, laut SPON festgestellt.


Wie viele Menschen können das Kleingedruckte überhaupt lesen?


Was es konkret bedeutet, wenn in einer immer komplexer werdenden Welt ausgerechnet das Leseverständnis schwindet, ist leicht zu erahnen. Wer das Kleingedruckte nicht lesen kann, ist der schwächere Vertragspartner und demzufolge leicht über den Tisch zu ziehen: »Ich habe die AGB gelesen und akzeptiere sie.« Wie viele Menschen mögen tagtäglich das gewünschte Häkchen setzen, ohne auch nur annähernd in der Lage zu sein, die Tragweite ihrer elektronischen Zustimmung zu verstehen?

Auch die schon gutmütig zu nennende Anspruchslosigkeit vieler Bürger gegenüber ihren politischen Vertretern mag ihre Wurzel im schwindenden Leseverständnis haben: Was haben die Menschen den von Werbestrategen ausgetüftelten, nahezu informationsfreien Wahlplakaten auch entgegenzusetzen, wenn sie nicht in der Lage sind, differenzierte Analysen aufzunehmen, darin enthaltenes Hintergrundwissen zu erfassen und daraus eigene Schlüsse zu ziehen oder gar zwischen den Zeilen zu lesen?


Chemisch optimierter Nachwuchs


Es ist klar zu konstatieren, dass unsere Gesellschaft von Zerfallserscheinungen zwischen Anspruch und Wirklichkeit geplagt wird. Dies zeigt sich nirgendwo deutlicher als auf dem Schlachtfeld des Bildungssystems: Nur 0,5 % der Erwachsenen verfügen laut der genannten Studie selbst über die höchste Stufe der Lesekompetenz. Gleichzeitig verlangen immer mehr Menschen von ihren Kindern schulische Höchstleistungen und sind sogar bereit, den Nachwuchs zu diesem Zweck mithilfe leistungssteigernder oder konzentrationsfördernder Medikamente chemisch zu optimieren. Sind die hohen Verschreibungszahlen von Methylphenidat nebst ADHS-Diagnosen auch dadurch zu erklären, dass die Kinder unter den Druck gesetzt werden, besser sein »zu müssen« als die sie umgebende Gesellschaft? Wird ihnen fairerweise jemand erklären, was PIAAC an den Tag gebracht hat: dass Papa und Mama nämlich auch nicht schlauer sind?

Der grassierende Optimierungswahn treibt die Negativspirale weiter an, denn im krampfigen Kampf um Höchstleistungen bleibt der einzig wahre Treibstoff für den Erwerb von Wissen zielsicher auf der Strecke: die natürliche Neugier. Nur sie versetzt uns in die Lage, in sich nutzloses Faktenwissen zu neuen Erkenntnissen zu verknüpfen, statt es stumpfsinnig wiederzukäuen und zum angesetzten Prüfungstermin wunschgemäß auszuspeien. Doch wie neugierig kann ein Mensch sein, der bereits weiß, dass er sowieso nie gut genug sein wird?

Bleibt zu hoffen, dass noch genügend Erwachsene in der Lage sind, die Ergebnisse der PIAAC-Studie zu verstehen und angesichts eigener Defizite ein wenig Verständnis für ihre Kinder zu entwickeln. Doch da beißt sich die Katze wohl in den Schwanz ...



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4 Kommentare:

  1. "Mama doof, Papa doof, Kinder balla-balla."

    Ja, das trifft mittlerweile fast 100% der Bevölkerung, obwohl sie sich natürlich ganz anders sieht. Die Natur hat genug von uns, das Selbstmordprogramm der menschlichen Art lässt sich nicht mehr stoppen, wahre Vernunft ist absolut chancenlos.

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  2. Glauben statt Wissen - nicht nur billiger, sondern öffnet auch für eben solche Werbung, mithin wesentlich verkaufsfördernd, macht nicht wirklich glücklicher oder zufriedener, dafür aber ziemlich frei von Verantwortung und also genügsamer, pflegeleichter.

    Satire? - Viel schlimmer ...

    Danke, Frau Prem.

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    1. P.S. Auch Gebildetere als ich greifen zu lesenswerter Satire:
      http://alles-schallundrauch.blogspot.de/2013/10/warum-bist-du-noch-nicht-wutend.html

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    2. Hallo, Dian. Opa unterdrückt sachliche Kommentare von mir. Ihre dort gestellte Frage könnten Sie aber auch in einem passenden Thread hier stellen, in dem ich auch einen entsprechenden Kommentar gegeben habe, dort könnte ich dann sicherlich darauf eingehen:

      http://www.ein-buch-lesen.de/2013/09/sexualkundeunterricht-pharmazeutische.html

      Das Thema ist viel wichtiger, als es ohnehin scheinen mag: Gesunder Sex => Gesunde Ehen =>Gesunde Gesellschaft => Lebensglück für alle + Schonung von Tieren und Natur

      Darum wäre eine sachliche Diskussion sehr wichtig!

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