Buchvorstellung von Ursula Prem (Hg.)
Wie schwer es sein kann, aus den Fängen der forensischen
Psychiatrie zu entkommen, machte der Fall Gustl Mollath in nie da gewesener
Weise transparent. Wie rechtlos die Räume sein können, in die einer geworfen
wird, dem derartige Segnungen des Humanismus (»Therapie statt Strafe«) zuteilwerden,
hätten sich zuvor nur wenige Menschen vorstellen können. § 63 StGB als das
Haupteinfalltor ärztlicher Willkür im deutschen Rechtssystem macht es möglich:
Kaum ein Gericht wird ohne günstiges psychiatrisches Gutachten jemals wieder
auf die Entlassung des Untergebrachten erkennen, der Arzt ist faktisch zum Richter
geworden.
Dass der Jurist Eduard August Schroeder schon vor 125 Jahren
mit seinem Buch »Das Recht im Irrenwesen« den Finger auf dieselbe Wunde gelegt
hat, ohne dass sich seitdem im Ergebnis viel verändert hätte, macht (nicht nur)
den Fall Mollath als Teil eines historischen Kontinuums begreifbar, das da
lautet: Vor Gericht sind eben nicht alle gleich. Bis heute vermeint das
Rechtssystem, nicht ohne die Aussonderung Einzelner auskommen zu können. Die
erstaunliche Langlebigkeit derart archaischer Rechtsvorstellungen veranlasste
mich zu der nun vorliegenden Neuausgabe des Buches, da seine Lektüre dabei
hilft, die Ursachen der unhaltbaren Zustände zu verstehen. Sie liegen unmittelbar
in der inakzeptablen Machtfülle der damals noch »Irrenärzte« genannten
Psychiater begründet, über die der Autor schreibt:
»Der Arzt vermag zu befreien, er vermag auch zu verurteilen. Wen er als geisteskrank erklärt, gilt durch den ärztlichen Ausspruch allein als solcher und verliert seine persönliche und wirtschaftliche Freiheit, sein ganzes sittliches Dasein – er verliert mehr als der Verbrecher.
Das ist eine gefährliche Macht. Durch sie wurde der ärztliche Stand stark; wie viele mag sie angesehen, wie viele reich gemacht haben? Das bleibt ein Geheimnis, wie jenes der Erwerbung des Reichtums der Klöster und Bischöfe! Nur dann und wann dringt eine Vermutung in das Volk; ein Roman, ein Drama, eine Anekdote beschäftigt für Augenblicke die erstaunende Menge mit dem Gedanken – der Arzt ist ja auch Richter.
Warum aber die Gerichte mit dem ärztlichen Missbrauch der Amtsgewalt insbesondere auf dem Gebiete des Irrwesens meines Wissens noch niemals beschäftigt worden sind, werde ich an anderem Orte besprechen; es ist das Kapitel, welches Gambetta zu seinem Gesetzentwurfe veranlasst hat.
Der ärztliche Stand strebt diese seine Macht zu erhalten, ja zu erweitern, und dieses Streben mag ja bei der Mehrheit ein edles sein, indem sie meint, durch dieselbe schneller und besser in ihrem eigentlichen Berufe wirken zu können. Aber selbst wenn diese Anschauung richtig wäre, so ist sie dennoch vom Standpunkte des Rechtes falsch und verwerflich, weil einerseits die persönliche Freiheit weit über der Gesundheit steht und weil andererseits durch eine solche Machtverquickung durch Irrtum oder Absicht ein Unrecht sehr leicht möglich ist.
Aber auch im Allgemeinen spielt das Interesse des ärztlichen Standes eine große Rolle auf dem Gebiete des Irrenwesens. Je mehr es Geisteskranke gibt, desto mehr Irrenärzte kann es geben. Es liegt also im Interesse des Standes, die Grenzen, innerhalb welcher ein Mensch für geisteskrank erklärt werden kann, recht weit auszudehnen; es liegt ferner im Interesse dieses Standes, dass der so gewonnene Geisteskranke auch einer Zwangsbehandlung unterworfen wird, dass die Aufnahme in eine Anstalt, die Entlassung aus derselben von ihm in erster Linie abhängig sei, und wir haben gesehen, dass es nach heutigem Irrenrechte auch tatsächlich überall so und hie und da erst eine gesetzliche Erschwernis gegen diese Interessen des ärztlichen Standes in einer oder der anderen Richtung aufgestellt worden ist.«
(Quelle: »Das Recht im Irrenwesen«, Neuausgabe, S. 32/33)
Seit Erscheinen der Originalausgabe im Jahre 1890 hat sich
das Rechtssystem gravierend verändert. Die vom Autor genannten gesetzlichen
Erschwernisse gegen die Umtriebe der forensischen Psychiatrie sind heute
zahlreicher geworden. Ja, sie blühen derart üppig auf geduldigem Papier, dass
Betroffene gar nicht wissen, an welche der hilfreichen Stellen sie sich zuerst
wenden sollen: an das Gericht, den Landtag, das Sozialministerium oder an die nächste
Besuchskommission? – Gustl Mollath hatte all das getan. Auch mehrfach. Seine Beschwerden
blieben ohne Folge, Anträge oft unbeschieden. Deshalb ist die Situation heute sogar
noch schwieriger als zu Zeiten von Eduard August Schroeder, da sich das
rechtlose Wesen der Psychiatrie ganz offen darbot. Nur schwer vorstellbar
hingegen ist die emotionale Achterbahnfahrt, die einer durchmacht, der viele
Jahre lang zwischen Hoffnung und Verzweiflung pendelt. An die Stelle früherer
Rechtlosigkeit ist somit ein wirres Konstrukt scheinbarer Rechte getreten, was
jedoch am Endergebnis nicht viel verändert hat.
Unter der Überschrift »Vergebliche Beschwerdeführung«
schreibt Schroeder:
»Ich bin bei jenem Kapitel meiner Arbeit angelangt, welcher im Irrenwesen den Gipfelpunkt des Unrechtes bezeichnet, aber auch zuverlässig zuerst die Einsicht in das allgemeine Rechtsbewusstsein tragen wird, dass es im ganzen Rechtsleben der Gegenwart keinen einzigen Teilbezirk gibt, in welchem die Willkür so ungestraft walten darf, ja, dass es bereits seit Jahrhunderten kein Rechtsgebiet gegeben hat, welches das Unrecht mehr begünstigt hätte als das heutige Irrenrecht; denn lange schon und überall in Kulturstaaten war es doch, oft allerdings nach mühevollen, jahrelangen Kämpfen, dem unschuldig Verurteilten möglich, sich zu rehabilitieren, oder wenigstens hat es die Nachwelt getan.
Im heutigen Irrenrechte ist das eine wie das andere geradezu unmöglich. Auf keinem Gebiet des Rechtes passen Jherings Worte so vortrefflich wie hierher: »Nicht das Ungemach, in das man gerät, ist das Drückende und Verletzende dabei, sondern das bittere Gefühl, dass das gute Recht mit Füßen getreten werden kann, ohne dass es dagegen eine Hilfe gibt.«
Für den unter dem Verdacht der Geisteskrankheit zu einer Freiheitsstrafe und den damit verbundenen üblen Folgen Verurteilten gibt es keine Hilfe: Jede Beschwerdeerhebung war noch immer erfolglos!«
(Quelle: »Das Recht im Irrenwesen«, Neuausgabe, S. 90)
Dass sich nicht nur dieser Abschnitt des 1890 erschienenen
Buches liest, als hätte der Autor den Fall Mollath gekannt, liegt
ausschließlich in einem einzigen Fakt begründet: Die systemische Ursache wurde
bis zum heutigen Tage nicht beseitigt. Noch immer agieren Ärzte als Richter.
Möglich macht es heutzutage unter anderem der unsägliche § 63 StGB mit den ihm
sekundierenden §§ 20 und 21. Die dort geregelte Möglichkeit der Unterbringung
im psychiatrischen Krankenhaus aufgrund fehlender oder verminderter
Schuldfähigkeit schlägt sämtlichen Grundprinzipien des Urteilens ohne Ansehen
der Person ins Gesicht: § 63 StGB gehört auf den Müllhaufen der Geschichte!
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