»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein
Foto 1: Die Marienpforte |
Nachdem wir die beiden »Domkröten« ausgiebig betrachtet haben, wenden wir uns der »Marienpforte« am Ostchor des Bamberger Doms zu. Was sofort auffällt: Anders als bei vielen christlichen Sakralbauten sind die Skulpturen im Tympanon der Marienpforte nicht durch ein störendes Netz geschützt.
Im Zentrum thront majestätisch Maria, die Gottesmutter. Auf ihrem Schoß sitzt das Jesuskind, ein Miniatur-Erwachsener mit lockigem Haar. Maria ist im Begriff, Jesus als Symbol seiner Autorität eine Weltkugel auszuhändigen. Maria wirkt wie eine mächtige Herrscherin, mehr wie eine Kaiserin, weniger wie die bescheidene Mutter Jesu, über die wir im Neuen Testament der Bibel nur so wenig erfahren. Die Pose der Mutter Jesu wirkt weltlich. So hat man sonst Kaiser wie den Gründer des Bamberger Doms Heinrich II. mit der Weltkugel in der Hand dargestellt. Und wenn ein irdischer Regent wie Heinrich II. die Insignien seiner Macht erhielt, dann ist es häufig Jesus Christus selbst, der das Ritual vollzieht. Eine sehr schöne Darstellung dieses Akts findet sich im Perikopenbuch Heinrich II., das in der Bayerischen Staatsbibliothek zu München verwahrt wird. In diesem kostbaren Werk ist es Jesus höchstpersönlich, der Heinrich II. und Gemahlin Kunigunde krönt.
Foto 2: Die Marienpforte mit dem Tympanon |
Im Tympanon der Marienpforte stehen an Marias rechter Seite die beiden Patrone des Doms, Georg und Petrus. Petrus (rechts im Bild) hält ein Buch und trägt seinen Schlüssel am Gewand.
Foto 4: Petrus und Georg |
An Marias linker Seite machen wir die zu Heiligen erklärten Heinrich II und Gemahlin Kunigunde.
Foto 5: Heinrich II und Kunigunde |
Aus den ersten Jahren des 11. Jahrhunderts entstand eine Buchmalerei, die die Krönung Heinrich II. durch Christus zeigt. Die kunstvolle Darstellung aus dem »Sakramentar« Heinrichs zeigt den Herrscher als Günstling des Himmels. Zwei Engel, aus dem Himmel kommend, überreichen ihm ein Schwert und eine Lanze. Bei der Lanze handelt es sich um eine Reliquie der besonderen Art. Nach einer frommen Legende soll einst der römische Hauptmann Longinus mit just jener Waffe in Jesu Seite gestochen haben, um auf diese Weise zu überprüfen, ob denn der Gekreuzigte auch wirklich tot sei. Nur im Evangelium nach Johannes finden wir einen Hinweis auf den Lanzenstich, erfahren freilich weder den Namen noch den genauen militärischen Rang des Mannes (1):
»Als sie aber zu Jesus kamen und sahen, dass er schon gestorben war, brachen sie ihm die Beine nicht; sondern einer der Soldaten stieß mit dem Speer in seine Seite, und sogleich kam Blut und Wasser heraus.«
Foto 6: Maria mit dem Jesuskind |
Im Evangelium nach Matthäus wird der Lanzenstich nicht erwähnt, es taucht aber ein Hauptmann auf (2): »Als der Hauptmann und die Männer, die mit ihm zusammen Jesus bewachten, das Erdbeben bemerkten und sahen, was geschah, erschraken sie sehr und sagten: Wahrhaftig, das war Gottes Sohn!« Auch im Evangelium nach Markus taucht der anonyme Hauptmann auf, ohne allerdings den ominösen Lanzenstich zu erwähnen. Wie bei Matthäus bekundet der Römer auch bei Markus Anerkennung der Sohnschaft Gottes (3): »Als der Hauptmann, der Jesus gegenüberstand, ihn auf diese Weise sterben sah, sagte er: Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn.« In der Theologie ist man sich weitestgehend einig, dass es eben jener Hauptmann war, der in Jesu Seite stach.
Erst im apokryphen »Nikodemusevangelium«, das nicht in die Bibel aufgenommen wurde und frühestens 310 n.Chr. entstanden, werden »Annas und Kaiphas« als vermeintliche Zeugen der Kreuzigung zitiert. Ihre Aussagen gehen in einem entscheidenden Punkt über die der biblischen Evangelien hinaus (4): »Wir sahen, wie er Backenstreiche erhielt, wie man ihm ins Gesicht spie, daß die Soldaten ihm eine Dornenkrone aufsetzten, daß er gegeißelt und von Pilatus verurteilt wurde und dann auf der Schädelstätte gekreuzigt wurde; man tränkte ihn mit Essig und Galle, und der Soldat Longinus durchbohrte mit einer Lanze seine Seite.«
Foto 7: Das Tympanon der Marienpforte |
Erst im apokryphen Nikodemusevangelium, dessen erster Teil auch als »Pilatusakten« bekannt ist, wird das Bild wie wir es aus den biblischen Evangelien kennen, vervollständigt. Der Soldat Longinus stach mit seiner Lanze Jesu Seite, Blut floss heraus. Das Nikodemusevangelium schildert ausführlich Prozess und Kreuzigung Jesu, wobei der Eindruck erweckt wird, dass der Text auf ein in hebräischer Sprache verfasstes Dokument zurückgeht, verfasst von einem gewissen Nikodemus. Dieser Nikodemus war laut dem Evangelium nach Johannes ein bedeutender Pharisäer, der heimlich Jesus aufsuchte, um theologische Fragen zu erörtern (5). Und eben dieser Nikodemus soll, wieder nach dem Evangelium nach Johannes zugegen gewesen sein, als Jesus starb (6). Sollte dieser Nikodemus nicht der ideale Zeuge sein, der die letzten Augenblicke im Leben des Jesus von Nazareth beschreiben kann? Macht das die Überlieferung von Longinus glaubwürdig? Wir müssen bedenken, dass das angeblich in Hebräisch verfasste Nikodemusevangelium bis heute nicht gefunden wurde. Es liegt lediglich die »Übersetzung« ins Griechische vor. Wie dem auch sei: Das Nikodemusevangelium wird als Quelle herangezogen, wenn es um den legendären Lanzenstich des Longinus geht.
Foto 8: Blick Richtung Kaisergrab |
Als anno 1796 französische Truppen den Rhein überquerten, befürchtete man, Napoleon wolle in den Besitz des Speers gelangen. Auf Umwegen gelangte sie so schließlich nach Wien. Anno 1938 ließ Adolf Hitler die Reichsinsignien nebst Lanze ins Deutsche Reich holen. In der Katharinenkirche konnten die Kostbarkeiten bestaunt werden. Als im II. Weltkrieg der so oft beschworene »Endsieg« immer unwahrscheinlicher wurde, sollte vor allem die Lanze dem Zugriff der feindlichen Truppen entzogen werden. Sie wurde in einem Luftschutzbunker versteckt. 1945 wurde sie von US-Soldaten gefunden und gelangte 1946 wieder zurück nach Wien. Dort befindet sie sich auch heute noch, und zwar in der Schatzkammer der Wiener Hofburg. Sie wird unter der Inventarnummer XIII/19 geführt und ausgestellt. Dort fristet sie ein eher kümmerliches Dasein, gilt doch inzwischen als gesichert, dass sie nicht aus Jesu Zeiten stammt. Sie wurde von Experten wie Peter Paulsen, Michael Hesemann weist darauf hin (7), als »karolingische Flügellanze aus dem 8. Jahrhundert identifiziert. Michael Hesemanns Fazit: »Eine Passionsreliquie ist sie nicht.«
Sakrale Objekte wie die Bundeslade des Alten Testaments, aber auch der »Heilige Gral«, Splitter vom »wahren Kreuz Jesu« und Nägel, mit denen Jesus ans Kreuz geschlagen worden sein soll, faszinieren seit vielen Jahrhunderten. Ihnen wird von vielen Gläubigen wundersame Wirkung nachgesagt. Ob sie freilich wirklich magische Kräfte besitzen, das sei dahingestellt. Ob die diversen Mächtigen, die im Lauf der Jahrhunderte immer wieder die Heilige Lanze einsetzten, an ihre Zauberkraft glaubten? Oder nutzten sie nur den Volksglauben für ihre Zwecke aus? Wenn die Lanze einem Heer vorangetragen wurde, mag das die gegnerischen Truppen beeinflusst haben. Wer glaubt, dass die »andere Seite« magische Reliquien besitzt, kämpft womöglich gar nicht mit voller Kraft.
Ich selbst lernte in Bamberg einen auf mich eher bieder wirkenden Schatzsucher der besonderen Art kennen. Er stand vor dem Kaisergrab im Dom und fotografierte emsig die Reliefs am marmornen Sarkophag, der in den Jahren 1499 bis 1533 von keinem Geringeren als Tilman Riemenschneider geschaffen wurde. Es ist anzunehmen dass Riemenschneider selbst Hand anlegte und das wichtige Hochgrab nicht seinen Angestellten überließ.
Als ich ebenfalls Aufnahmen des Sarkophags machte, da zischte mir der Möchtegern- Indiana-Jones fast ein wenig ungnädig zu: »Sie suchen wohl auch nach der wahren Lanze des Longinus?« Er ließ mich wissen, dass seiner festen Überzeugung nach Heinrich II. wirklich die echte Lanze besaß. Allerdings ließ er eine Kopie anfertigen, die er als die echte ausgab. Die zwei Jahrtausende alte »Originallanze« aber bewahrte er angeblich in einem Versteck auf. So wollte Heinrich II., der übrigens kinderlos starb, verhindern, dass die mächtige Reliquie mit echtem Blut des Jesus von Nazareth, in »falsche Hände« geriet. Ob man sie dem toten Herrscher ins Grab legte? Ob die Reliefplatten an der Tumba Kaiser Heinrichs II und der Kaiserin Kunigunde verschlüsselte Hinweise auf die Lanze enthalten?
Fußnoten
(1) Evangelium nach Johannes Kapitel 19, Verse 33 und 34
(2) Evangelium nach Matthäus Kapitel 27, Vers 54
(3) Evangelium nach Markus Kapitel 15, Vers 39
(4) Nikodemusevangelium Kapitel XVI, Vers 7, zitiert nach Schneemelcher, Wilhelm: »Neutestamentliche Apokryphen«, Band I, »Evangelien«, 6. Auflage, Tübingen 1990, Seite 413
(5) Evangelium nach Johannes Kapitel 3, Verse 1-7
(6) Evangelium nach Johannes Kapitel 19, Vers 39
(7) Hesemann, Michael: »Die stummen Zeugen von Golgatha/ Die faszinierende Geschichte der Passionsreliquien Christi«, München 2000, Kapitel 5. »Der Speer des Schicksals«, S. 104-116, Zitat S. 116
Foto 12: Petrus, Maria, das Jesuskind und Heinrich II im Tympanon |
Zu den Fotos:
Foto 1: Die Marienpforte. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 2: Die Marienpforte mit dem Tympanon. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 3: Das Tympanon. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 4: Petrus und Georg. Foto Walter-Jörg LangbeinFoto 5: Heinrich II und Kunigunde. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 6: Maria mit dem Jesuskind. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 7: Das Tympanon der Marienpforte. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 8: Blick Richtung Kaisergrab. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 9: Das Kaisergrab. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 10: Blick auf das Kaisergrab. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 11: Eines der Reliefs am Kaisergrab. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 12: Petrus, Maria, das Jesuskind und Heinrich II im Tympanon. Foto Walter-Jörg Langbein
355 »Kunigundes Kopf«,
Teil 355 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 06.11.2016
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