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Sonntag, 25. November 2018

462 »Mysteriöse Pflanzen und gefährliche Drachen«

Teil 462 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein



Foto 1: Blick in die Krypta vom Altar aus

Betritt man die Krypta der Abdinghofkirche, so gewöhnen sich die Augen rasch an das diffuse Licht. Von der Decke hängen an jeweils vier Ketten Leuchterschalen. Friedrich Stuhlmüller, Goldschmied und Kirchenkünstler aus Hamburg (1), hat sie 1978 geschaffen. Wir stehen vor dem Altar in der Krypta und blicken zur originalgetreuen Kopie von Bischof Meinwerks Grabplatte, die auf der anderen Seite des unterirdischen Raums an der Mauer steht. Sie zeigt den Kirchenmann im Ornat mit Mitra.

Der Bischof aus Stein blickt Richtung Altar. Säulen und Pfeiler tragen das Tonnengewölbe, unterteilen die überschaubare Krypta. Sie wird zu einem dreischiffigen Raum im frühromanischen Stil (Ende 10. Jahrhunderts bis um 1070). Die starken Säulen tragen den »Himmel« der Krypta seit über einem Jahrtausend. Die Bomben, die Paderborn in Schutt und Asche legten, konnten dem unterirdischen Raum unter der Abdinghofkirche nichts anhaben. Die Krypta überstand das Bombardement, anders als so mancher Bunker.

Langsam gewöhnen sich unsere Augen an das diffuse Licht. Der Raum wirkt größer als er ist. Seine Schlichtheit macht ihn irgendwie zeitlos. Sind 500 Jahre verstrichen, als die Krypta angelegt wurde oder 1000? Oder mehr? Irgendwie scheint der Lauf der Zeit bedeutungslos geworden zu sein, hier in der Unterwelt, nur wenige Meter vom Trubel, von der Hetze auf den Plätzen und Straßen. Den Lärm des Alltags haben wir hinter uns gelassen. Dem einen fällt es leichter, dem anderen schwerer, die Ruhe zuzulassen. So eine unterirdische Krypta ist da ein guter Lehrmeister.

Foto 2: Mysteriöse Krypta unter der Kirche

Wir lassen die Ruhe auf uns wirken. Wir studieren die etwa in Augenhöhe angebrachten Verzierungen an den Säulenkapitellen. Einige sind nur geglättet worden. Vielleicht hatte man vor, Ornamentik anzubringen. An anderen Kapitellen erkennen wir immer wieder blattartige Muster. Es sind nicht nur Schmuckelemente, die mehr oder minder symmetrisch die Flächen füllen. Der großformatige Führer »Die evangelische Abdinghofkirche in Paderborn« (2) spricht von »akanthusartige(r) Pflanzensymbolik«. Die Internetseite »Symbol Attribut Allegorie« führt aus (3) dass Akanthus-Blätter schon seit der Antike in Gebäuden als weit verbreitetes Motiv anzutreffen sind. Irgendwie gelangte das Symbol »Akanthusblatt« aus Griechenland nach Europa und wurde gern im sakralen Bereich eingesetzt (4) »und zwar bevorzugt für Kapitelle im Chor einer Kirche, denn dieser birgt die Reliquien der Heiligen, denen die Auferstehung verheißen ist«.

Fotos 3 und 4: Akantusblätter an einem Säulenkapitell

Fotos 5 und 6: Akantusblätter an zwei Kapitellen

Bevor die Reliquien der Heiligen in den allgemein zugänglichen Bereich von christlichen Gotteshäusern gelangten, wurden sie in den Krypten verwahrt. So ruhte Bischof Meinwerk ursprünglich in seinem Sarkophag in der Krypta der Abdinghofkirche. Als das Abdinghofkloster anno 1803 aufgelöst wurde, brachte man die Reliquien Meinwerks in Sicherheit und transportierte den »Seligen« in seinem Sarkophag in die Busdorfkirche. Dort befindet er sich auch heute noch im »Hohen Chor«. Die Gebeine Meinwerks wurden 1936 im Dom zu Paderborn beigesetzt. Präziser: Geht man von der Krypta des Doms gen Westen, so gelangt man in den Vorraum zur Bischofsgruft. Dieser Vorraum wurde 1935 mit Mosaik ausgestaltet, zahlreiche christliche Symbole sind da zu sehen, von der Taube (»Heiliger Geist«) zum Kelch (»Abendmahl«).

F. 7: Meinwerks Grab
In der Mitte des in himmlischem Blau gehaltenen Vorraums zur Bischofsgruft wurden die Gebeine Bischof Meinwerks unter einer massiven steinernen Grabplatte beigesetzt. Es handelt sich bei dieser kunstvoll gestalteten Grabplatte um den Original-Deckel von Meinwerks Sarkophag.

Der Sarkophag selbst befindet sich heute in der Busdorfkirche von Paderborn: natürlich leer und abgedeckt mit einem schlichten Stein. Unter dem Dom zu Paderborn wartet »der selige Meinwere« auf die Auferstehung von den Toten.

Zum christlichen Auferstehungsglauben passt das Symbol des Akanthusblatts, das sich nicht nur an Säulenkapitellen in der Krypta der Abdinghofkirche findet, es ist auch am mysteriösen Paradiestor des Doms zu sehen. Die Akanthus-Pflanze ist im Mittelmeerraum beheimatet. Akanthus-Blätter zieren korinthische Säulenkapitelle etwa ab dem 5. Jahrhundert vor Christus. Wie gelangte das Blatt in christliche Baudenkmäler? Und wie wurde das Blatt zum Symbol für Auferstehung von den Toten?

»KUNSTDIREKT.NET« vermutet (4): »Akanthus: Die symbolische Bedeutung bezieht sich wahrscheinlich auf seine Stacheln; er zeigt an, daß eine schwierige Aufgabe vollendet gelöst wurde.« So kann man die Auferstehung von den Toten als schwierige Aufgabe verstehen, die vollendet gelöst werden muss, soll sie denn auch wirklich gelingen. Christlich ist diese Vorstellung allerdings nicht. Nach christlich-theologischem Weltbild kann der Mensch nur hoffen, dass er erlöst wird. Die Auferstehung wird ihm als ein Akt der Gnade geschenkt, selbst erarbeiten kann sich der Mensch nicht die Rückkehr aus dem Reich der Toten in das der Lebenden.

Foto 8: Christliches Symbol - der Pfau.

Christliches Symbol für die Auferstehung ist der Pfau, der im Vorraum zur Bischofsgruft im Dom zu Paderborn im kunstvollen Mosaik verewigt wurde. Ein stolzer Pfau blickt auf die letzte Ruhestätte Bischof Meinwerks herab. Christlichen Ursprungs ist der Pfau als Symbol aber nicht. Schon im »Alten Griechenland« hatte er religiöse Bedeutung. Er war der Göttin Juno heilig und wurde wegen seines Rades aus Federn, das der männliche Hahn schlägt, als Sonnensymbol angesehen. Die christliche Interpretation als Symbol für die Auferstehung geht auf den älteren Plinius (* 23 oder 24; † 25. August 79) zurück, der einst beschrieb, wie der Pfau im Herbst seine Federn verliert, die ihm im Frühjahr wieder wachsen. Gerd Heinz-Mohr schreibt in seinem »Lexikon der Symbole« (5): »Hier erblickten die Christen ein Symbol der Auferstehung des Leibes. Dazu kam die Erklärung des Kirchenvaters Augustinus, daß das Fleisch des Pfau unverweslich sei. In diesem doppelten Bezug stehen die überaus zahlreichen Darstellungen des Pfau auf Katakombenfresken, Sarkophagen, Reliefplatten, Grabstelen, Epitaphien, Mosaiken.«

Wir stehen vor dem Altar in der Krypta und blicken zur originalgetreuen Kopie von Bischof Meinwerks Grabplatte, die auf der anderen Seite des unterirdischen Raums an der Mauer steht. Direkt vor uns: die erste Reihe mit Kirchenbänken. Links von uns: die interessanteste Säule in der Krypta der Abdinghofkirche. Wir interessieren uns für das Kapitell dieser einen Säule. Je zwei Drachen befinden sich an jeder der vier Seiten des Säulenkapitells (Kapitell, abgeleitet vom lateinischen »capitellum«, zu Deutsch Köpfchen). Drachen in einer christlichen Kirche entsprechen so gar nicht dem christlichen Verständnis! Denken wir an den Heiligen Georg, der in unzähligen Kathedralen, Domen und Kapellen als wackerer Drachentöter dargestellt wird. Denken wir an den Erzengel Michael, der sich wie St. Georg als Drachentöter hervortat. Unverkennbar: der Drache gilt da als Symbol des Heidentums, der teuflischen Gefährdung, also als böse.

Fotos 9 und 10: Drachen an einem Säulenkapitell.

Christliche Heilige scheinen so manchen Drachen dahingemetzelt zu haben. Die Heilige Margareta von Antiochien (*unbekannt; † um 305 n.Chr.) war eine der wenigen weiblichen Drachentöter. Die Jungfrau und Märtyrerin rückte ihrem Drachen freilich nicht mit einem Schwert oder Spieß zuleibe wie ihre männlichen Kollegen. Sie ließ sich von so einem Untier verschlingen, machte das Kreuzzeichen im Inneren des Monsters, das daraufhin zerplatzte. Die Heilige Margareta überstand die blutige Prozedur im Gegensatz zum Drachen gänzlich unversehrt.

Margareta ließ sich nicht vom christlichen Glauben abbringen. Lieber wollte sie sterben. Sie wurde, wie einige Legenden überliefern, aufs Grausamste gefoltert und blieb dennoch standhaft, bevor sie Als Märtyrerin starb. Auf diese Weise überzeugte sie zahlreiche Heiden von ihrem Glauben. Sie ließen sich ebenfalls taufen, wurden Christen.

Wir müssen uns fragen: Wieso finden sich dann in der Krypta, also dem ursprünglich Allerheiligsten, wo die Reliquien der Heiligen ruhten, gleich acht Drachen, an den vier Seiten eines Säulenkapitells sichtbar für alle angebracht?

Foto 11: Die Abdinghofkirche
Am ehesten lassen sich die Drachen in der Krypta meiner Meinung nach mit Schlangendrachen in sumerischen Darstellungen vergleichen, die bereits Ende des vierten vorchristlichen Jahrtausends v.Chr. auftauchen. Es sind lokale Götter, die im dritten Jahrtausend v.Chr. in mesopotamischen Texten als Drachentöter beschrieben werden. Fazit: Götter wie Helden töteten Drachen, schon Jahrtausende vor Entstehung der biblischen Texte.

Die Verfasser des apokryphen »Evangeliums des Pseudo-Matthäus« waren offensichtlich enttäuscht vom Evangelium nach Matthäus, fällt doch die Schilderung der Flucht von Maria und Joseph nebst Baby nach Ägypten recht knapp aus. Was mochte sich auf der Flucht nach Ägypten abgespielt haben? Und siehe da: Der apokryphe Text ist sehr viel ausführlicher und inhaltsreicher. Es kam demnach zu einer dramatischen Begegnung mit gefährlichen Drachen. Maria und Josef mit dem Jesusbaby und drei weitere Knaben sowie ein Mädchen suchten auf der gefährlichen Reise Unterschlupf in einer Höhle. Auf einmal (7) »krochen mehrere Drachen hervor, und bei ihrem Anblick schrien die Kinder laut vor Entsetzen. Da sprang Jesus von Marias Schoß und richtete sich auf vor den Drachen, die aber beteten ihn an.« Auch hier gelten Drachen als gefährlich, aber sie unterwerfen sich dem Jesus-Baby.

Niemand vermag zu sagen, wieso an einem Säulenkapitell in der Krypta der Abdinghofkirche viermal zwei, also acht Drachen zu sehen sind. Und nirgendwo ist dokumentiert, was diese Drachen zu bedeuten haben!

Fußnoten
(1) Die Lebensdaten von Friedrich Stuhlmüller konnte ich leider nicht in Erfahrung bringen. Er soll bis in die 1980er Jahre ein Atelier in Hamburg geführt haben. Kunstobjekte Stuhlmüllers erfreuen sich bei Sammlern großer Beliebtheit.
(2) Ev:-Lutherische Kirchengemeinde Paderborn/ Pfarrer Dr. Eckehard Düker (Hrsg.): »Die evangelische Abdinghofkirche in Paderborn«, Paderborn 2011, keine Seitenzählung.
(3) http://baseportal.de/cgi-bin/baseportal.pl?htx=/Peter_Eckardt/Symbole&_fullsearch~~franz+otto+erich+k%FChl+geb.+am+14.09.1904&fullsearch_range=259,500000
(4) http://www.kunstdirekt.net/Symbole/symbole/sonstige.htm Stichwort »Akanthus« (Stand 23.09.2018)
(5) Heinz-Mohr, Gerd: »Lexikon der Symbole«, Stichwort »Der Pfau«, München 1988, S. 236 f. (Hinweis Rechtschreibung wurde nicht der Rechtschreibreform angepasst!)
(6) Daniel-Rops, Henri: »Die apokryphen Evangelien des Neuen Testaments«, Zürich 1952, S. 51-63
(7) ebenda, S. 59 ff.

Foto 12: Akanthusblätter in der Krypta

Zu den Fotos
Foto 1: Blick in die Krypta vom Altar aus. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 2: Mysteriöse Krypta unter der Kirche. Foto Walter-Jörg Langbein
Fotos 3 und 4: Akantusblätter an einem Säulenkapitell.Fotos Walter-Jörg Langbein
Fotos 5 und 6: Akantusblätter an zwei Kapitellen. Fotos Walter-Jörg Langbein
Foto 7: Meinwerks Grab. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 8: Der Pfau - christliches Symbol für Auferstehung von den Toten. Foto Walter-Jörg Langbein
Fotos 9 und 10: Drachen an einem Säulenkapitell. Fotos Walter-Jörg Langbein
Foto 11: Die Abdinghofkirche hat so manches Geheimnis. Foto Walter-Jörg Langbein
Foto 12: Akanthusblätter in der Krypta. Foto Walter-Jörg Langbein 
Foto 13: Drachenmotiv nach einem Fund in Worms. Rekonstruktion und Fotomontage Walter-Jörg Langbein

Foto 13: Drachenmotiv, nach einem Fund in Worms

463 »Böse Drachen, gute Drachen«,
Teil 463 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 02.12.2018


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Sonntag, 21. Juni 2015

283 »Der Ritt auf zwei Eseln«

Teil 283 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein


Blick auf die Marktkirche

Es war ein düsterer Novembermorgen, als ich zusammen mit meinem Kollegen Peter Hoeft die »Marktkirche St. Georgii et Jacobi« in Hannover besuchte. Direkt vor dem altehrwürdigen Gotteshaus herrschte emsiges Treiben. Der Weihnachtsmarkt wurde vorbereitet. Ein großer Kran hob Verkaufsbuden durch die Luft und platzierte sie nur wenige Meter von der ältesten Kirche Hannovers. Anno 1238 wird sie erstmals urkundlich erwähnt. Archäologische Ausgrabungen in den Jahren 1952 und 1989 förderten aber Reste eines Vorgängerbaus zutage, der schon in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts bestand. Kunstvoll bearbeitete Steine, darunter ein prachtvolles Säulenkapitell mit Akanthus-Blättern aus dem 12. Jahrhundert, wurden entdeckt.

Schon vor mehr als zwei Jahrtausenden tauchten Akanthus-Blätter als sakrales Motiv in Verbindung mit Buddha-Statuen auf. Im Mittelmehrraum kannte man Akanthus als Symbol für Leben und Unsterblichkeit. »Unsterblichkeit« hatte freilich in vorchristlichen Zeiten häufig eine andere Bedeutung. Im zyklischen Denken gab es die ewige Wiederkehr des Lebens, Geburt, Leben, Tod und Wiedergeburt. Das Leben wurde als ewig angesehen, weil es immer wieder kam, blieb und ging. In heidnischen Kulten gab es Riten, die diese dem Christentum fremde Vorstellung darstellten.

Vorbereitungen für den Weihnachtsmarkt

So erfährt Inanna von Schöpfergott Enki, dass sie die Geheimnisse von Tod und Leben nur ergründet kann, wenn sie selbst Leben, Tod und Wiedergeburt erfährt. Inanna musste heiraten und die Unterwelt hinab steigen. Unzählige Varianten der »Heiligen Hochzeit« gibt es schon seit Jahrtausenden. Sie sind oftmals sehr komplex, basieren aber in der Regel auf dem gleichen Ritual. Himmelskönigin und weltlicher König heiraten, der Gemahl der Göttin stirbt und wird von der Göttin aus der Welt des Todes wieder ins Reich der Lebenden zurückgeholt.

Unvoreingenommen betrachtet spielt sich im zyklischen Kirchenjahr Ähnliches ab: Geburt Jesu, Leben, Sterben und Wiedergeburt. Man kann noch einen Schritt weitergehen und die Lebens- und Leidensgeschichte Jesu so sehen: Geburt, Leben, heilige Hochzeit mit Maria Magdalena, Tod Jesu, Maria Magdalena besucht das Grab Jesu (»Unterwelt«), Jesus kehrt aus der Unterwelt in die irdische Welt des Lebens zurück.

Der Drachentöter

Diese Interpretation mag strenggläubigen Christen unserer Tage als ketzerisch erscheinen. Wie weitestgehend alle Theologen lehnen sie derlei Überlegungen zum Thema »Ewiges Leben« ab. Leider wissen die meisten Zeitgenossen im christlichen Abendland ein Privileg nicht hinreichend zu würdigen. Wir leben in einer säkularisierten Welt, in der Religionsfreiheit herrscht. Bei uns gibt es keine fanatischen Fundamentalisten, die alle Andersdenkenden vor »Gericht« zerren können, wo die Todesstrafe droht. Religion ist bei uns Privatangelegenheit und wird nicht von staatlicher Seite überwacht, schon gar nicht bestraft. Unbestreitbar sind unsere christlichen Wurzeln, auch kulturell. Allerdings scheint auf christlicher Seite das Wissen über die nach wie vor größte Weltreligion rapide zu schwinden. Es besteht fraglos die Gefahr, dass immer mehr Zeitgenossen zunehmend die Orientierung verlieren.

Jacobus der Ältere pilgert

Imposant ragt der auf uralten Fundamenten stehende rote Backsteinbau der »Marktkirche St. Georgii et Jacobi« von Hannover in den Himmel. Über dem Westportal besiegt zur Linken ein reichlich martialischer Heiliger Georg den Drachen. Zur Rechten pilgert Jacobus der Ältere. Die Statuen beider Namenspatrone der Marktkirche wurden 1992 vom Braunschweiger Bildhauer Jürgen Weber geschaffen. Der »alte« Jacobus wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Dem »alten« Drachentöter hatte der Zahn der Zeit so stark zugesetzt, so dass man ihn »aufs Altenteil« in den nördlichen Chor versetzte. Man wollte ihn nicht länger der giftigen Umwelt aussetzen, die selbst Stein zersetzt.

Betritt man die Marktkirche, so fällt der Blick auf  den Altar, der wohl schon 1470 bis 1485 fertiggestellt werden konnte. Wer ihn geschaffen hat, wir wissen es nicht. Es sind keinerlei Dokumente aus seiner Erstehungszeit erhalten geblieben. Mindestens drei Künstler schnitzten biblische Bilder in Lindenholz. Im Zentrum steht die Kreuzigung Jesu zwischen den beiden »Räubern«. Zwanzig kleinere Kunstwerke erzählen Jesu »Geschichte« vom Einzug in Jerusalem bis zu Jesus als Richter über die Lebenden und die Toten am Ende der Zeit. Angeordnet sind die fast gleichgroßen Einzelbilder in zwei Reihen zu je zehn Feldern  übereinander.

Jesus reitet in die Stadt
Jesus reitet – siehe die Evangelien nach Johannes (1) und Matthäus (2) – auf einem Esel in die Stadt Jerusalem ein. Studiert man eine der beiden biblischen Vorlagen genauer, fällt ein Kuriosum auf. Im Evangelium nach Matthäus lesen wir (3): » Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf und er setzte sich darauf.« Die schnitzenden Künstler von Hannover konnten diese Szene nicht eins zu eins umsetzen. Nach Matthäus setzte sich Jesus nicht auf einen, sondern auf zwei Esel – gleichzeitig! Des Rätsels Lösung: Der Evangelist formulierte den Text so, um eine alte biblische Prophezeiung in Erfüllung gehen zu lassen (4): »Siehe, dein König kommt zu dir...und reitet auf einem Esel, auf einem Fohlen, dem Jungen einer Eselin.« Reitet der König bei Sacharja nur auf einem Esel, so macht er sich bei Matthäus auf zwei Eseln gleichzeitig bequem.

Die Unsinnigkeit dieser Behauptung ist augenscheinlich. Niemand kann auf zwei Eseln gleichzeitig sitzen, geschweige denn reiten. Als ich in Erlangen evangelische Theologie studierte, fragte ich »meinen« Professor nach diesem Widerspruch. Der verwies mich auf den Kirchenlehrer Thomas von Aquin (etwa 1225 bis 1274). »Lesen Sie mehr Thomas von Aquin als diesen Däniken! Thomas von Aquin war zwar Dominikaner und leider kein Lutheraner, hat aber vieles richtig gesehen! Das Ganze ist symbolisch zu verstehen! Die Eselin steht für die Synagoge, das Eselfohlen für das freie Heidenvolk. Jesus wird sinnbildlich sowohl vom alten Judentum als auch vom noch nicht bekehrten Heidentum getragen!« Sehr überzeugend ist die Erklärung von Thomas von Aquin nicht!

Die Evangelien schildern den Einzug Jesu wie den Empfang eines heutigen »Superstars«. Aus Platzmangel müssen sich die Künstler mit zwei Männern am Tor Jerusalems begnügen, die das jubelnde Volk darstellen. Einer der beiden breitet seinen Umhang am Boden aus. Drei weitere Männer werden als Jesu Jünger Petrus, Jakob und Johannes identifizieren. Jacobus der Ältere (links im Eck stehend) trägt bereits die Mütze, die erst viele Jahrhunderte zur Standardausrüstung jedes männlichen Pilgers gehören sollte. Die berühmte »Jakobs-Muschel« indes fehlt.

Vertreibung der Geldwechsler

Auf den »Einzug in Jerusalem« folgt als nächste, kunstvoll geschnitzte Szene, die »Vertreibung der Geldwechsler aus dem Tempel durch Jesus«. Wir sehen den wütenden Jesus. Mit einer Art Geißel bedroht er drei Geldwechsler, die ihr Geld zusammengerafft haben und vor dem zornigen Jesus fliehen. Auf eindrucksvolle Weise illustriert der Altar von Hannover, was im Evangelium nach Johannes steht (5): »Und er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle zum Tempel hinaus samt den Schafen und Rindern und schüttete den Wechslern das Geld aus und stieß die Tische um.«

Die Darstellung von Hannover… welchem Evangelium folgt sie eigentlich? Es gibt nämlich eklatante Widersprüche in den vier Evangelien, auch was die Chronologie der Ereignisse angeht. Wann kam es zur »Vertreibung der Geldwechsler aus dem Tempel in Jerusalem«? Professor Helmut Merkel antwortet kurz und bündig (6): »Bei den Synoptikern (Markus, Matthäus und Lukas) steht sie am Anfang der letzten Lebenswoche Jesu, während Johannes sie an den Anfang der Wirksamkeit Jesu stellt.«

Es war ein düsterer Novembermorgen, als ich zusammen mit meinem Kollegen Peter Hoeft die »Marktkirche St. Georgii et Jacobi« in Hannover besuchte. Im Gotteshaus herrschte emsiges Treiben. Es wurde musiziert und gesungen. Vor dem Gotteshaus wurden Buden für den Weihnachtsmarkt aufgebaut. Die Händler würden bald vor der Kirche agieren und Geschäfte machen, nicht mehr im »Haus des Vaters« selbst. Die Geldwechsler gehörten auch noch zu Jesu Zeiten zum Tempelkult. Im Tempel selbst galt eine besondere Währung, die tyrische Doppeldrachme. Nur in dieser Währung konnte die Tempelsteuer bezahlt werden. Besucher des Tempels mussten also ihr Geld in Tempelwährung umtauschen. Wahrscheinlich benötigte man das »Tempelgeld« auch, um im Tempel Opfertiere zu kaufen. Die »Geldwechsler« waren fester Bestandteil des Tempelkults.

Kann man den Altar wie ein Buch lesen?
Fußnoten

(1) Evangelium nach Johannes Kapitel 12, Verse 12 bis 19
(2) Evangelium nach Matthäus (Kapitel 21, Verse 1-11)
(3) Evangelium nach Matthäus Kapitel 21, Verse 6 und 7
(4) Der Prophet Sacharja Kapitel 9, Vers 9, vom Verfasser aus dem Hebräischen ins Deutsche übertragen
(5) Evangelium nach Johannes, Kapitel, Vers 15
(6) Merkel, Helmut: »Bibelkunde des Neuen Testaments«, Gütersloh 1978, Seite 100

Zu den Fotos:

Kann man den Altar wie ein Buch lesen?: gemeinfrei Bernd Schwabe
Alle übrigen Fotos: Walter-Jörg Langbein

284 »Judas war kein Verräter«,
Teil 284 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«                         
von Walter-Jörg Langbein,                       
erscheint am 28.06.2015

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