Sonntag, 11. August 2013

186 »Das Geheimnis der Totenschädel«

Teil 186 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein


Der Heilige Petrus auf
heidnischem Podest
Foto: W-J.Langbein
Es war der letzte Tag auf der Osterinsel. Am nächsten Morgen würde es vom Flughafen in Hanga Roa mit Lan Chile nach Santiago gehen. Meinen Koffer hatte ich gepackt, die Kameras waren verstaut. Flugticket und Reisepass lagen auf dem Nachttischchen in meinem kleinen Zimmer in einer kleinen Pension. Noch ahnte ich nicht, dass mir eine unheimliche Begegnung bevorstand ... in einer Höhle der Kannibalen ...

Ich geb's zu: Wehmut machte sich breit. Nur noch Stunden würde ich auf dem winzigen Eiland im Pazifik verbringen dürfen. Dann würde es aus der stillen Einsamkeit der Südsee zurück ins Großstadtgewühl, in Smog und Lärm gehen. So unternahm ich einen ausgiebigen Spaziergang von meiner Pension zur kleinen Kirche, dann die »Hauptstraße« hinunter zum kleinen »Hafen« ... vorbei am »Heiligen Petrus«.

Der Wirt des teuersten Lokals auf der Osterinsel mit teurer französischer Küche winkt ... aber ich verabschiede mich lieber von Petrus mit dem Schlüssel. Er steht stolz auf einem »heidnischen« Podest. An jeder Seite reckt ein mythologischer Vogelmensch Kopf und Schnabel gen Himmel. Der Vogelmensch dominiert den alten Osterinselkult, den kein Besucher von außerhalb versteht.

Petrus hält Bibel und Schlüssel. Wenn wir nur ein Buch lesen könnten ... über die verborgenen Geheimnisse der Osterinsel! Wenn es nur einen Schlüssel gäbe, zu den verborgenen Welten von Rapa Nui, die nur wenigen Eingeweihten vertraut sind ... Zurück geht’s, an lachenden Jugendlichen vorbei. Was ist das für ein Sport, den sie da betreiben? Mir scheint, da wird Fußball und Basketball zugleich gespielt ... Ich gehe zurück, die staubige »Hauptstraße« empor, zurück in meine Pension. Mein Wirt hat die Rechnung fertig gemacht. Ich zahle in US-Dollars, bedanke mich für die familiäre Betreuung.

Vogelmenschen tragen Petrus
Foto: W-J.Langbein
Ich will mich schon, zum letzten Mal, in mein Zimmer zurückziehen ... Da bedeutet mir der Wirt zu warten. Kurze Zeit später komplimentiert er mich in seinen Jeep ... und los geht die Fahrt. Polternd rumpeln wir die »Hauptstraße« zum Hafen. Einige Hühner flattern noch rechtzeitig zur Seite. Dann folgen wir der »Küstenstraße«. Inzwischen ist es stockdunkel. Querfeldein geht es weiter. Kurz taucht, hinter niedrigem Gestrüpp und einigen Bäumen, ein steinerner Sockel mit mehreren stolzen Statuen auf. »Sie sollen bald wieder ihre ›Hüte‹ aus Stein bekommen. Wir müssen nur den Kran aus Japan bekommen ...«

In einer anscheinend ausschließend aus Schlaglöchern unterschiedlicher Größe bestehendem Weg kommt das Vehikel arg ins Schlingern. Der Motor heult auf. Endlich hat die Fahrt ein Ende. Ich darf aus dem Vehikel klettern. Einige Beulen lassen vermuten, dass manche Fahrt weniger glimpflich endete.

Im Mondlicht erkenne ich einen kleinen »Hügel«. Wir gehen darauf zu. Er scheint künstlich angelegt zu sein ... ein ehemaliger »Sockel« für eine Statue. Im Schein der Taschenlampe meines wackeren Fahrers erkenne ich ein »Loch« in der Erde. Es ist von unbearbeiteten Steinbrocken eingerahmt. »Ein Brunnen?«, frage ich. Mein Guide verneint. Schon klettert er, die Taschenlampe in den Zähnen haltend, ins enge Loch. Da er doch etwas korpulent ist, muss er sich mit einiger Mühe durch die schmale Öffnung zwängen. Erstaunlich behende klettert er nach unten. Er geht in die Hocke und ist aus meinem Blickfeld verschwunden. Ich folge vorsichtig.

»Das ist meine Familienhöhle. Als ich Kind war, hat mich mein Großvater hierher gebracht. Damals war mir angst und bange ...« Ich versuche mich aufzurichten, stoße mich heftig an der niedrigen Decke. So setze ich mich wieder. Mein Guide lässt den Kegel seiner Taschenlampe wandern. Bizarre Steinfiguren tauchen auf. Ein fischartiges Wesen mit menschlichem Kopf und gefletschten Zähnen verschwindet schon wieder aus dem Licht. Dafür erkenne ich einen »Totenkopf« aus Stein. Er könnte von einem Urmenschen stammen.

Ein Einstieg in die »Unterwelt«
Foto: W-J.Langbein
Die leeren Augenhöhlen liegen fremdartig weit auseinander. Der Mund ist leicht geöffnet, lässt viele kleine Zähne scharfe erkennen. »Das ist einer der Geisterwächter!«, erfahre ich. »Einst hatte jede Familie so eine Höhle. Mit dem Christentum sollte unser alter Glaube, sollte auch unser Brauchtum vergessen werden. Die Missionare haben das mit Nachdruck versucht. Sie predigten Hölle und ewige Qualen für jene, die am alten Glauben festhalten würden. Die meisten Neuchristen gingen zwar regelmäßig in die Kirche, behielten aber ihren alten Glauben bei.«

Ich nicke. »In der Kirche sind ja viele Hinweise auf den alten Glauben zu finden!« So trägt eine hölzerne Marien-Statue das Jesuskind auf dem Arm. Auf ihrem Haupt aber thront das Vogelwesen aus dem mysteriösen »Vogelmann-Kult«. Die Augen der Gottesmutter erinnern an die der steinernen Osterinselriesen. Überall begegnet man den glotzäugigen Gesichtern des Make-Make-Gottes. Selbst der wuchtige, steinerne Fuß eines Altartischs weist deutlich mythologische Vogelmenschen auf. Meist wird allerdings eine übergroße weiße Decke auf dem Tisch des Herrn aufgelegt, die die heidnischen Motive verdecken soll.

Die gleichen Motive wie in der christlichen Kirche finden sich auch in der Familienhöhle. Auf der Stirn eines steinernen Schädels prangt der gleiche Vogelmensch wie auf Marias Gewand. Das gleiche Gesicht wie auf einer kleinen hölzernen Jesus Statuette in der Kirche prangt auf einem steinernen Schiff. Es sieht aus wie ein kleines Ruderboot, hat aber drei Segel ... alles mit viel Liebe zum Detail aus Stein geschnitzt. »Mit solchen Booten kamen meine Vorfahren aus dem versinkenden Land im westlichen Pazifik.«, erklärt stolz mein Guide. »Sie reisten viele Tausend Meilen, in kleinen Booten, auch gegen starke Strömung.«

Ein Mischwesen erinnert an eine Schildkröte, aber auch an einen Fisch ... hat aber sechs Beine wie ein Insekt. Am Schwanz ist ein zweiter, kleiner Kopf zu erkennen. »Diese Kreatur kann im Wasser schwimmen und tauchen, sie kann aber auch an Land gehen. Sie blickt dabei stets nach vorn und zugleich nach hinten. Sie sieht die Vergangenheit und die Zukunft! Sie ist ein magisches Wesen!«

Ein menschenähnliches Wesen mit grotesken Gesichtszügen trägt so etwas wie einen Rucksack. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich das Ding als ein quallenartiges Tier, das sich der »Mensch« auf den Rücken geschnallt hat. »Was hat das zu bedeuten?«, frage ich. Mein Guide legt demonstrativ den Zeigefinger auf seinen Mund. »Vieles weiß ich, darf es aber nicht verraten!«

Ob es viele solche Höhlen gibt, erkundige ich mich. »Hunderte ... Tausende!«, behauptet mein Guide. Ob er übertreibt? »Jede Familie hatte eine eigene Höhle!«, erfahre ich. »Und oft bekamen Söhne wiederum eigene Höhlen!« Bekanntlich ist die kleine Osterinsel das Produkt gewaltiger Vulkanausbrüche. Innerhalb von einigen Millionen Jahren – geologisch betrachtet ist das nur ein kurzer Moment – brach auf dem Grund des Meeres die Glut der Hölle aus dem Erdinneren aus. Poike, der älteste Vulkankegel entstand vor drei Millionen, vielleicht aber auch erst vor 600.000 Jahren. Er markiert die Südostecke des Südseeeilands. Es folgten die Eruptionen des Ranu Kau im Südwesten und – vor 200 000 Jahren – des Terevaka im Norden.

Diese drei Vulkankegel bilden das Fundament der Osterinsel. Die gewaltigen Lavamassen sind natürlich nicht im Ganzen erstarrt. Vielmehr bildete sich zunächst eine harte Kruste, während die Vulkanberge im Inneren noch flüssig blieben. So entstanden im Inneren Hohlräume ... Blasen in der Lava. Lavaströme hinterließen auch röhrenartige »Gänge«.

Maria, Jesuskind und
Vogelmensch
Foto: W-J.Langbein
Wann die ersten Höhlen von den Ureinwohnern entdeckt wurden? Wir wissen es nicht. Einige dienten in Friedenszeiten als Behausungen. In andere zogen sich Familien oder Clans zurück, wenn sie von feindlichen Gruppen angegriffen wurden. Und irgendwann hatten Höhlen im Inneren der Erde so etwas wie eine sakrale Bedeutung. Wie viele Höhlen von den einzelnen Familien für ihre ganz persönlichen Sammlungen religiöser Kultobjekte verwendet wurden ... und werden? Mein Guide weiß es angeblich nicht.

Im Zentrum der niedrigen Höhle steht eine etwa eineinhalb Meter hohe Holzfigur. Der Kopf wirkt fast monströs. Ein mächtiger Schnabel bestimmt die harten Gesichtszüge. Lange dünne Arme an den Seiten der Figur erinnern an ein Skelett. In der Herzgegend des seltsamen Wesens prangt eine Make-Make Maske. Auf dem kantigen Vogelschädel hockt ein weiterer Vogelmensch. Das abgemilderte, christianisierte Pendant zu dieser Figur steht in der christlichen Kirche von Hanga Roa.

Fasziniert betrachte ich die unzähligen steinernen Figuren um mich herum. Ich versuche sie zu zählen, gebe aber nach einiger Zeit auf. Es müssen weit über hundert sein. »Diese Höhlen der Familien wurden und werden als unheimliche Orte gefürchtet ...«, bekomme ich zu hören. »In meiner Familienhöhle fanden Totenschädel ihre letzte Ruhestätte, die von Opfern von Kannibalismus stammen!« Mit meinem Guide krieche ich in eine niedrige Ecke der Höhle. Auf geflochtenem, schilfähnlichen Gras ruhen fünf Totenköpfe. Die Unterkiefer fehlen bei allen. Löcher in der Schädeldecke fallen auf. Offenbar wurden die Menschen erschlagen. »Ihr Fleisch wurde verzehrt, weil man glaubte, so die Kraft der Toten in sich aufzunehmen!«

Es wurden aber nicht nur Mitglieder verfeindeter Familien getötet und verspeist. »In manchen Familien gab es die Tradition, besonders ehrwürdige oder mächtige Familienmitglieder nach deren Tod zu essen. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass die besondere Kraft solcher Menschen erhalten blieb!«

Im Schein der Taschenlampe erkenne ich Einritzungen in den Schädeln. Es sind Make-Make-Masken und Vogelmenschen, die kunstvoll eingeritzt worden sind. »Die Figuren, speziell die Symbole stellen eine große Kraft dar, vor der man Angst hatte! Viele aus Südamerika zugereiste Menschen, die heute auf Rapa Nui leben, haben keine Ahnung von der geheimnisvollen Unterwelt ...«

Aber auch den »Unwissenden« ist bekannt, dass Gott Make Make sehr mächtig war. Von seinen steinernen Masken, von seiner in den Stein geritzten Augenpartie geht ein starker Zauber aus. Da wundert es mich nicht, dass mir in der Familienhöhle immer wieder Make Make begegnet.

Make Make - Foto: W-J.Langbein

Literatur

Bacon, Edward (Herausgeber): Versunkene Kulturen/ Geheimnis und Rätsel
früher Welten, Volksausgabe, München 1970
Bahn, Paul und Flenley, John: Easter Island, Earth Island/ A message from
our past for the future of our planet, London 1992
Barthel, Thomas S. et al.: 1500 Jahre Kultur der Osterinsel/ Schätze aus dem
Land des Hotu Matua/ Ausstellungskatalog, Mainz 1989
Blumrich, Josef F.: Kasskara und die sieben Welten, Wien 1979
Brown, John Macmillan: The Riddle of the Paific, Honolulu, Hawaii, Nachdruck
Felbermayer, Fritz: Sagen und Überlieferungen der Osterinsel, Nürnberg 1971
Machowski, Jacek: Insel der Geheimnisse/ Die Entdeckung und Erforschung
der Osterinsel, Leiepzig 1968
Mann, Peggy: Land of Mysteries, New York 1976

»Angst«,
Teil 187 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 18.08.2013




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Sonntag, 4. August 2013

185 »Kannibalismus«

Teil 185 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein


Die Kolosse der Osterinsel - Foto W-J.Langbein

Auf der Osterinsel kam es vor rund einem halben Jahrtausend zu einer Katastrophe. Auslöser war die Waldzerstörung. Schon um 800, vielleicht 900 nach Christus begannen die Bewohner von Rapa Nui, ihr kleines Eiland abzuholzen. Wann fiel die letzte Palme? Wir wissen es nicht genau. Auf der Halbinsel Poike dürfte vor rund 600 Jahren schon keine Palme mehr gestanden haben.

Vor 500 Jahren, so scheint es, wurden auf Rapa Nui noch sehr viele Palmennüsse geerntet. Bald danach aber scheint es überhaupt keine Palmen mehr gegeben zu haben. 1640, das haben archäologische Studien eindeutig ergeben, gab es kein Brennholz mehr. Selbst in den Häusern der Oberschicht dienten Gestrüpp und Gräser als Brennmaterial.

Unklar ist, warum der Holzbedarf so groß war. Immer wieder bekam ich von Nachfahren der Statuenbauer zu hören, dass Holz in großen Mengen für den Transport der berühmten Osterinselkolosse gebraucht wurde. Demnach gab es, beginnend beim Steinbruch, dem Rano Raraku-Krater, ein »Schienensystem«. Zwei parallel verlaufende Kerben wurden in den Boden gegraben. In diese Kerben wurden Palmenstämme gelegt, so dass zwei hölzerne »Schienen« entstanden.

Darauf wiederum zog man – vielleicht auf hölzernen Schlitten ruhend – die Steinkolosse zu den steinernen Plattformen, zu ihren Fundamenten. »Die Wissenden fertigten eine Art Öl an, das sie auf die Holzschienen schmierten. Dadurch wurde es leichter, die Statuen auf ihren Holzschlitten zu bewegen!«, teilte mir 1992 ein altehrwürdiger Einheimischer mit.

Über Jahrhunderttausende hinweg war die Osterinsel offenbar mehr oder minder von Palmenwäldern überzogen. Gelang es dem Menschen, aus dem grünen Südseeeiland einen lebensfeindlichen Flecken in der blauen Unendlichkeit zu machen?

Vielleicht wurden die Kolosse
auf Holzschienen befördert.
Foto: W-J.Langbein
Wurden die Statuen zum Fluch von Rapa Nui? Anscheinend gab es so etwas wie einen nach und nach eskalierenden Wettstreit zwischen den zwölf »Stämmen« (1). Es galt, die größte Statue aus dem Vulkangestein zu schlagen, zu transportieren und aufzurichten. Der größte Osterinselkoloss liegt, unvollendet, im Steinbruch. Er wurde nicht mehr vollendet. Aus unbekannten Gründen wurde die Arbeit im Steinbruch scheinbar von heute auf morgen abrupt abgebrochen. Der unfertige Riese misst über zwanzig Meter in der Länge. Ob er je hätte transportiert und aufgerichtet werden können?

Führte der immer schärfer werdende Riesenkult zum Ende der Osterinselkultur? Unmengen von Holz wurden bei der Beförderung der Riesen verbraucht. Das Abholzen aber hatte für die Menschen schreckliche Konsequenzen: Es kam zur Bodenerosion. Immer mehr fruchtbarer Ackerboden verschwand. Die Landwirtschaft konnte immer weniger Nahrungsmittel erzeugen.

Ein Teufelskreis entstand: Je stärker die Osterinsel für den Statuenbau gerodet wurde, desto weniger Nahrungsmittel standen zur Verfügung. Je weniger Holz zur Verfügung stand, desto weniger Boote konnten gebaut werden. Je weniger Boote zur Verfügung standen, desto weniger Fischerei konnte betrieben werden. Dabei gab es für die Osterinsulaner zu keiner Zeit üppigen Fischfang. Raul Teave, in dessen kleiner Familienpension ich einmal wohnte, erklärte mir:

»Andere Südsee-Inseln verfügen über vorgelagerte Korallenriffe und Lagunen ... ideal für den Fischfang. Rapa Nui hat beides nicht, das erschwert die Fischerei sehr. Deshalb kam es mehr auf die Landwirtschaft an. Süßkartoffeln, Bananen und Yamswurzeln waren Hauptnahrungsmittel!«

Eine Wasserschildkröte in Ufernähe - Foto: W-J.Langbein
Raul Teave, der mir köstliche vegetarische Gerichte zauberte, glaubt nicht daran, dass es seine Vorfahren waren, die die ökologische Katastrophe auf der Osterinsel verursachten. »Sicher, das Abholzen des Waldes war unverantwortlich. Es gab aber auch klimatische Veränderungen, auf die der Mensch keinen Einfluss hatte. Und dass die Fische und Schalentiere irgendwann verschwanden, daran tragen meine Vorfahren auch keine Schuld!«

Das Abholzen der Palmen habe die Wälder reduziert, Klimaveränderungen hätten aber auch zum Verschwinden der Palmen beigetragen. Veränderungen im Bereich der Meeresströmungen mögen dafür gesorgt haben, dass es keine Fische mehr gab ... und auch keine Wasserschildkröten, die ebenfalls gefangen und verzehrt wurden.

Heute gehört die Osterinsel zu Chile. Landwirtschaft und Fischfang gibt es nur in bescheidenem Ausmaß. An abgelegenen Küstenstreifen rotten Fischerboote vor sich hin. Fast alles, was der Mensch zum Leben braucht, wird – meist aus Chile – importiert. Auch heute ist Trinkwasser auf dem Eiland eine Kostbarkeit. Im Vergleich zu anderen Südseeinseln im polynesischen Raum ist Rapa Nui geradezu regenarm. Der poröse Vulkanboden lässt zudem den Regensegen schnell versickern.

Flüsse oder auch nur Bäche gibt es auf Rapa Nui nicht. Manchmal bildet sich am Teravaka-Vulkan (mit etwa 500 Metern die höchste »Erhebung« der Osterinsel) ein kleines Rinnsal, das häufig versiegt. Drei Vulkane dominieren das Bild von Rapa Nui. Sie sammeln wie riesige Trichter Süßwasser. Am Boden ihrer Krater entstehen kleine Teiche, die meist mehr grünen Tümpeln gleichen.

Eines von vielen verrottenden Fischerbooten
Foto: W-J.Langbein
Stolz erklärte mir Raul Teave: »Vor vielen Jahrhunderten lebten meine Vorfahren mit der Natur. Sie kamen mit dem Wasser aus, hatten genug Trinkwasser. Es gab Spezialisten, die Experten auf dem Gebiet der Bewässerung und der Landwirtschaft waren. Sie konnten noch den eigentlich sehr fruchtbaren Boden von Rapa Nui nutzen und alle Menschen ernähren!« Es wurden Steingärten angelegt mit steinernen Schutzmauern, die den Wind so gut wie möglich abhielten. So trocknete der Boden nicht so schnell aus. Einige Milliarden Brocken Vulkangestein sollen einst in den Steingärten verbaut worden sein. Es müssen ganze Heere von Gärtnern und Steinexperten aktiv gewesen sein. Wann wurde die Kunst des Steingartens vergessen? Wie konnte das uralte Wissen in Vergessenheit geraten?

Mit Prof. Hans Schindler-Bellamy (1901-1982), Wien, habe ich so manches interessante Gespräch geführt. Der Archäologe: »Ähnliche Steingärten gab es in wüstenartigen Regionen Perus, aber auch in China und in Israels Negev-Wüste. Wo die Menschen in wüstenartigen Gegenden nur wenig Wasser vorfanden, dort versuchten sie, das wenige kostbare Nass so intelligent wie nur möglich zu nutzen.«

Prof. Barry Rolett, University of Hawai’i, kennt die Südsee wie kaum ein zweiter Wissenschaftler aus erster Hand. Der Archäologe wunderte sich darüber, wie verzweifelt offenbar Osterinsulaner mit gewaltigem Aufwand einzelne Taro-Pflanzen vor dem Wind schützten und wässerten.

Prof. Hans Schindler-Bellamy: »Man kann darüber streiten, ob die Umweltkatastrophe der Osterinsel allein von Menschenhand ausgelöst wurde, oder ob es Klimaveränderungen gab, auf die der Mensch keinen Einfluss hatte. Wie dem auch sei: Die Osterinsel wurde zu einem lebensfeindlichen steinernen Fleckchen im Pazifik. Die Menschen wurden von Hungerkatastrophen heimgesucht. Bedingt durch Nahrungsmangel kam es zu Krankheiten. Und als die Nahrung immer knapper wurde, kam es auf der einst so friedlichen Insel in den unendlichen Weiten des Pazifiks zum Kannibalismus. Die Menschen waren Gefangene ihrer Insel. Holz gab es keines mehr, so dass sie keine Boote oder Flöße bauen konnten, um ihrem Elend zu entgehen!«

Unklar ist, ob es im Verlauf der Geschichte von Rapa Nui eine oder mehrere Hungerepidemien gegeben hat. Kam es im Verlauf der Jahrhunderte einmal oder mehrmals zu kannibalischen Exzessen? Und war die Menschenfresserei nur Folge von Hungersnot ... oder Teil eines längst vergessenen religiösen Kults? Prof. Jared Diamond schreibt von katastrophalen Folgen, die durch das Abholzen der Palmen verursacht wurden: Bodenerosion durch Wind und Wetter. Wo der Boden nicht mehr gehalten wurde, konnte er bei Regenfall weggeschwemmt werden.(2)

Einheimische versicherten mir, dass es »vor Jahrhunderten« gelegentlich zu Schlammlawinen kam, die seit Ewigkeiten liegende Statuen verschwinden ließen, aber auch Häuser zerstörten.

Vor den Plattformen wurden Menschen gefangen gehalten.
Foto: W-J.Langbein

Prof. Jared Diamond über eine dramatische Folge der Abholzung (3): »Im weiteren Verlauf kam es zu einer Hungersnot, einem Zusammenbruch der Bevölkerung bis hin zum Kannibalismus.« Meiner Meinung nach mag es Kannibalismus zu Zeiten von Hungersnöten gegeben haben. Mag sein, dass man Menschenfleisch aß, um nicht zu verhungern. Ich bin aber felsenfest davon überzeugt, dass Kannibalismus auch Teil von religiösen Riten war. Unter dem Fundament von steinernen Plattformen wurden Menschenopfer begraben. Auf diese Weise sollte die Standfestigkeit der Kolosse auf den Plattformen gesichert werden.

Vor den wichtigsten Plattformen, aber auch unweit des Steinbruchs (Rano Raraku-Krater) gab es Häuser, in denen Gefangene auf ihren Opfertod warteten. Sie wurden erschlagen, ihr Fleisch wurde gegessen. Warum? Die Steinmetze, die die Riesenfiguren aus dem Vulkangestein meißelten, wollten die Kraft der verzehrten Menschen in sich aufnehmen. Sie glaubten, dann besonders stattliche Kolosse dem Vulkan abtrotzen zu können.

Mir wurden in einer kleinen Höhle mehrere Menschenschädel gezeigt. In die Stirn waren geheimnisvolle Zeichen geritzt worden. Die gleichen Zeichen entdeckte ich an Heiligenfiguren in der kleinen christlichen Kirche der Osterinsel ...



Fußnoten
1 Es gab etwa elf oder zwölf »Stämme«, die jeweils ein Territorium bewohnten. Jedes Stammesgebiet hatte Zugang zum Meer.
2 Diamond, Jared: »Kollaps«, erweiterte Neuausgabe, Frankfurt am Main, Oktober 2011, S. 140
3 ebenda

»Das Geheimnis der Totenschädel«,
Teil 186 der Serie
»Monstermauern, Mumien und Mysterien«
von Walter-Jörg Langbein,
erscheint am 11.08.2013


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